Eine Lesermeinung von Mikhail Balzer
Wieder einmal leistete unser Balkonist seinem ebenfalls zu früh aufgewachten Kater Gesellschaft, schlürfte schlaftrunken an seinem Kaffee herum, um dabei ziellos durch das Balkonfenster über die Straße zu schauen. Immerhin war der frühmorgendliche, noch einen Hauch Lila verbreitende Nebel im Begriff, sich aufzulösen, und versprach endlich einen sonnigen Frühlingstag. Aufmerksamer und konzentrierter hingegen schaute Murr III nach draußen, wohl in Richtung eines Nachbarhauses, um plötzlich ein eigenartiges, klapperndes Geräusch mit seinen Katzenzähnen zu produzieren.
Mit vorgestrecktem Kopf, die Nase schon fast an der Scheibe, observierte er augenscheinlich ein Ziel auf einem entfernten Häuserdach. "Murr, willst Du auf Deine alten Tage wieder Vögel jagen, die viel zu weit entfernt sind? Oder ärgerst Du Dich gerade über Dein Alter? Tja, früher war vieles besser!" Wenngleich eine verbale Antwort ausblieb, ließ der Kater doch seinen Unmut über diese provokante Aussage Michaels erkennen, denn es folgte ein kurzer Blick nach dem Motto: "Rede nicht so viel Unfug über das Alter, wo Du weißt, dass wir Katzen im Gegensatz zu Euch Menschen neun Leben haben!" Unser Balkonist bemühte nun sein Fernglas, um die altersbedingte Fehlsichtigkeit zu kaschieren, was von Murr innerlich grinsend zur Kenntnis genommen wurde.
Ja, in den jungen Jahren war sein Sehvermögen viel besser, als heute: Überhaupt war früher vieles besser, wie schon die hochbetagte Nachbarin vom Erdgeschoss immer wieder ungefragt zum Besten gab (sie führte, schon lange alleine lebend, regelmäßig laute Selbstgespräche): Von der früheren Solidarität und dem Gemeinsinn angefangen, wo heutzutage ein jeder zuvörderst nur auf seinen Vorteil bedacht sei. Die Teuerungsrate steige heuer rasant und viele Lebensmittel hätten einen eintönig faden Geschmack: Aber weit gefehlt, denn alles solle heutzutage gesünder und günstiger sein als je zuvor – wenn man denn den Aussagen der Politiker und den Werbeblättchen der Discounter Glauben schenke. Nun ja, auch der Schlaf war früher viel besser, fiel unserem Balkonisten dazu noch selbstironisch ein.
Aber mit dem Fernglas als Sehkraftverstärker konnte er jetzt immerhin ein turtelndes Taubenpaar erkennen, welches Murrs Interesse geweckt hatte: welch friedliche Tauben – früher eines der Symbole der Friedensbewegung! So wie diese Tauben fernab des Balkons sind auch die Friedensmärsche in der allgemeinen Wahrnehmung in weite Ferne gerückt. Ja, in der Tat: Auch die Ostermärsche waren früher viel besser! Man denke nur an deren Blütezeit mit mehreren hunderttausend Demonstranten Ende der Sechzigerjahre (anlässlich der Schrecken des Vietnamkrieges) sowie ab Ende der Siebzigerjahre, als alle unter dem beklemmenden Eindruck von NATO-Doppelbeschluß, Pershing-II und Atomsprengköpfen standen.
Damals, als "nur" die Zeit des Kalten (!) Krieges herrschte. Damals, als die Bedrohung eher abstrakt war: In den Sechzigern war der Vietnamkrieg weit entfernt – und dennoch erklärten so viele Deutsche ihren Pazifismus und ihre eindeutige Ablehnung einer zunehmenden Aufrüstung. Die Friedensbewegung, damals noch jung, unverbraucht, einig in ihren Zielen, schloss die verschiedensten Bevölkerungsgruppen, politischen Richtungen und viele Kirchenvertreter mit ein, aus einer echten Vielschichtigkeit gemeinsame Stärke und Durchschlagskraft generierend. Damals, als charismatische Persönlichkeiten die Ideengeber einer Vision von mehr Frieden waren, aber zugleich noch selbst die schrecklichen Kriegszeiten in ihrer Erinnerung trugen. Keine Demagogie und hehren Worte, sondern Aufklärung und Aufbruch!
Und was ist heute? Wenige Hundert demonstrieren in einer Landeshauptstadt mit handzahmen Plakaten. Statt einer einheitlich starken Grundaussage für Frieden und gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete finden sich nunmehr teils widersprüchliche Schlagwörter. Oder wurden gar die Ostermärsche für politische Partikularinteressen gekapert? In den Fernsehnachrichten dann ausgewählte (oder bestellte?) Interviewpartner, die den unmöglichen Spagat versuchen, zwar für Frieden zu demonstrieren, aber betonen, dieser müsse "gerecht" sein, womit sie meinen, dass "natürlich Russland mit seinem Angriffskrieg der Aggressor" sei, den man zurückweisen müsse. Hoffnungsvoll stimmt lediglich ein Kurzbericht des heute journals, der zeigt, dass auch vor dem Tor des Rheinmetall-Werks Demonstranten ein Ende der Waffenlieferungen fordern.
Jedoch wird diese Bildsequenz instantan gekontert durch den abschließenden, nicht nur überflüssigen, sondern zynischen Kommentar in perfektem Neusprech: "Mit Friedensforderungen wird dieser Krieg bestimmt nicht gelöst." Man möchte vor solch banal-schmalgeistiger Ignoranz und Wortverdreherei mit den mächtigen Worten Helmut Schmidts zurückbrüllen: "Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln, als einmal schießen!" Selbst auf Plakaten und in den Parolen der Friedensmärsche ist selten die Rede von den gebrochenen Vereinbarungen des Minsker Abkommens, der steten Osterweiterung massiver NATO-Stützpunkte, welche zunehmende Sicherheitsbedenken Russlands verursachen. Kein Hinweis auf die vielfachen Tabubrüche der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik – nicht erst unter der jetzigen Regierung, sondern bereits damals, als man vorgab "Deutschland am Hindukusch zu verteidigen". Keine Stellungnahme zu den NATO-Bombardierungen in Jugoslawien vor 25 Jahren. Vergessen die langjährigen Grundfesten bundesdeutscher Politik, dass nie mehr ein Krieg von deutschem Boden ausgehen solle.
Weil aber Buntheit, Diversität sowie eine demonstrativ-moralinsaure Haltung heuer wichtiger sind als tiefgreifende Argumente und Verantwortungsethik, tauchen gar neben den traditionellen siebenfarbigen Regenbogenfahnen mit dem Wort "PACE" neuerdings die sechsfarbigen LGBT-Regenbögen auf. Auch werden die Jünger der Klimasekte mitsamt ihren Klebstoffen allzu gerne integriert; als ob der "menschengemachte Klimawandel" ebenso ein Kriegszustand wäre (was er augenscheinlich für manche militante Klimaapokalyptiker auch zu sein scheint).
Keinesfalls jedoch dürfen jene pöööhsen Leute der Corona-Protestbewegung oder potentiell AFD-nahe Wählergruppen mitmarschieren, ebenso wenig wie Menschen, die auf einen drohenden Völkermord in Palästina hingewiesen haben. Selbst die einstige Klima-Ikone Greta Thunberg wurde aufgrund ihrer Aussagen zum Palästina-Krieg nun aussortiert in die Schublade der medialen Bedeutungslosigkeit. En Vogue hingegen sind derart angepasste Fridays-For-Future Karrieristen wie unsere moralisch einwandfreie Luisa-"neulich-war-ich-sogar-beim-Papst". Man sieht: allzu gerne läuft hier der konturlose Wendehals mit; und andererseits scheint die Friedensbewegung nicht mehr in-, sondern exkludierend zu sein. Also alles und jedes bitte nur im erwünschten Rahmen: mäßig, zahm und lau und ohne großes Aufsehen!
Da passt es gut dazu, dass die Ostermärsche auch in quantitativer Hinsicht wieder äußerst mäßig ausgefallen sind. Ebenso mäßig wie das mediale Interesse im Vorfeld. Ebenso mäßig wie die trägen Bemühungen der Veranstalter, diesmal mehr Teilnehmer zu akquirieren. Überhaupt scheinen die Organisatoren der beteiligten NGOs, weil im bequemen Lehnsessel der staatlichen Alimentierung schlaff, lau und faul geworden, wenig Impetus und Ideen zu entwickeln – wenn ihnen nicht sowieso die Fähigkeit zum kritischen Denken gänzlich abhandengekommen ist. Lau auch die Aussagen vieler Kirchenfürsten (wenn man einmal vom Papst absieht, der dafür dann "gemaßregelt" worden ist) – wobei insbesondere die evangelische Kirche in Deutschland eine unverkennbare Nähe zum grünen Spektrum zeigt (teils in Personalunion, wie Frau Göring-Eckardt als prominentestes Beispiel aufzeigt).
Und dies in einer Zeit des zunehmenden Risikos einer unkontrollierten Ausweitung des Krieges in Europa, einer Eskalation nicht nur in der Rhetorik eines französischen Präsidenten, und in zunehmend kriegsaffin ausgestalteter medialer Berichterstattung. Im starken Kontrast zu dem heuer viel höheren Kriegsrisiko in Europa findet sich eine inaktive, mit Selbstbespiegelungen und Ausgrenzung beschäftigte Friedensbewegung, die in ihrer Lethargie nicht einmal mehr den Begriff einer "Bewegung" verdient.
Es scheint, als ob Deutschland, als ob Europa wieder einmal in einen vermeidbaren großen Krieg hineintaumelt und alle brav und lammfromm mitlaufen, statt dass jeder mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln ein eindeutiges Nein formuliert (der Journalist und Publizist mit dem Wort, der Künstler mit seinen Werken, der Aktivist durch seine Taten, die Kardinäle, Bischöfe und Pfarrer mit ihren Predigten im Einklang mit dem Evangelium, der Lehrer durch Vermittlung selbstständigen Denkens und so weiter).
Und von außerhalb seines Balkons, von draußen, draußen im leise säuselnden, im sentimentalen lila Wind, kaum vernehmbar, aber unaufhörlich, summt es, summen wenige Worte, wie der Balkonist vermeint. Er hört diese Worte wie unbewusst, ganz aus der Ferne, von ganz weit draußen, von "Draußen vor der Tür" wo es noch kaum hörbar, aber wiederholt hallt: "…, dann gibt es nur eins: Sag nein!" (Wolfgang Borchert).
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