Von Wladimir Kornilow
Während die ganze Welt von den Ereignissen in der Ukraine und im Gaza-Streifen abgelenkt war, hat Russland in aller Stille eine Mehrheit im künftigen europäischen Parlament erworben. Dies ist jedenfalls die Schlussfolgerung, die aus einem weiteren "Russiagate"* gezogen werden kann, das zu Beginn der Osterferien über Europa hinwegfegte. Was das Ausmaß und die Tragweite dieses Skandals betrifft, so wurde diese Propagandakampagne im Voraus geplant und koordiniert, auch auf offizieller Ebene.
Um das Wesentliche des Skandals zusammenzufassen: Am vergangenen Mittwoch meldeten die tschechischen Behörden auf höchster Ebene (der Premierminister des Landes, das Außenministerium und der tschechische Geheimdienst BIS) die "sensationelle" Nachricht, dass Russland über die bescheidene tschechische Website Voice of Europe für die "Verbreitung antieuropäischer Propaganda" sorge und – das ist das Schlimmste! – rechtsgerichtete europäische Politiker bezahlt habe, um deren Einfluss im europäischen Parlament zu sichern. [Anm. d. Red.: An der Kampagne beteiligen sich auch zahlreiche deutsche Medien, darunter Spiegel, FAZ, Tagesschau, t-online.]
Und die Tschechen nannten keinen einzigen Nachnamen, sondern beschränkten sich auf eine Liste von Ländern, in denen diese heimtückischen Russen nach ihren Angaben Abgeordnete gekauft haben sollen. Seltsamerweise stimmt diese Liste genau mit den Ländern überein, in denen die Parteien, mit denen das europäische Establishment ein Problem hat, am Vorabend der Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni in den Umfragen führend sind oder auf dem Weg dahin: Deutschland, Frankreich, Polen, Belgien, die Niederlande und Ungarn.
Gleich am nächsten Tag meldete die Agentur für innere Sicherheit (polnischer Geheimdienst, ABW), dass sie aufgrund eines Hinweises ihrer tschechischen Kollegen die Wohnungen von Oppositionspolitikern durchsucht und dabei enorme Summen beschlagnahmt habe: 48.500 Euro und 36.000 US-Dollar. Daraus lässt sich schließen, dass Russland das künftige Europaparlament ziemlich günstig gekauft hat. Das heißt, seit den Zeiten von Gennadi Chasanow mit seiner klassischen Erzählung über "drei Tausender, um den Präsidenten zu bestechen", hat sich an der sparsamen Vorgehensweise unserer Sonderdienste nichts geändert. Wenn es Russland gelungen ist, den Brexit für nur 97 Cent zu sichern, warum sollte uns dann ein durchschnittliches Mitglied des Europäischen Parlaments viel mehr kosten?
Und wenn man das Wesen der von den Tschechen und Polen verbreiteten "Sensation" untersucht, wird klar, dass sie wertlos ist. Die Website Voice of Europe wurde von tschechischen Bürgern erstellt und auf völlig legaler Grundlage betrieben, wie auch die tschechischen Behörden in ihren Berichten über ihre "Ermittlungen" einräumten. Irgendwann wurde die Website an eine Medienagentur verkauft, die angeblich mit dem ukrainischen Geschäftsmann Wiktor Medwedtschuk verbunden ist. Westliche Medien bezeichnen ihn traditionell als "Oligarchen", doch angesichts der Tatsache, dass er gezwungen war, die Ukraine zu verlassen, und sein gesamtes Vermögen von den dortigen "demokratischen" Behörden geplündert wurde, trifft diese Bezeichnung kaum noch auf ihn zu. Das ist die "russische Spur"!
Und der wichtigste Vorwurf: Die besagte Website hat angeblich "europäische Politiker bezahlt". Doch man erfährt weder an wen noch wie viel noch aus welchen Gründen gezahlt wurde – nichts davon wird berichtet. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um die üblichen Honorare für Veröffentlichungen, Reden und die Teilnahme an bestimmten Veranstaltungen, was wiederum nicht gesetzlich verboten ist, wenn diese Einkünfte in den Steuererklärungen ordnungsgemäß angegeben werden. Eine beträchtliche Anzahl von Abgeordneten verschiedener Ebenen in allen westlichen Ländern lebt hiervon.
Boris Johnsons Haupteinnahmequelle, als er Mitglied des britischen Parlaments war, waren zum Beispiel die Tantiemen für seine Kolumnen im Daily Telegraph, die vor niemandem versteckt wurden. Die Rechtmäßigkeit dieser Einkünfte wurde nicht angefochten, obwohl die Zahlungen eindeutig überhöht waren. Aber das waren die "richtigen" Kolumnen aus der Sicht des Establishments, sodass niemand einen Skandal daraus machte. Aber für "falsche" Meinungen, die von den Ansichten der Eliten abweichen, kann man als "bezahlter Agent des Kremls" abgestempelt werden, wie wir es jetzt erleben.
In diesem Zusammenhang ist besonders darauf hinzuweisen, dass die "Enthüllungen" fast unmittelbar auf den Beginn der Panik folgten, die die Mainstream-Medien in Europa im Zusammenhang mit der Veröffentlichung einer umfassenden Umfrage des Marktforschungsunternehmens IPSOS über die öffentliche Meinung der Einwohner des Kontinents erfasste. Diese Umfrage ergab, dass die Ergebnisse der Wahlen im Juni die Präsenz der etablierten Parteien im nächsten europäischen Parlament dramatisch schwächen würden. Der Fernsehsender Euronews, der die Umfrage in Auftrag gegeben hatte, kam zu einer erschreckenden Schlussfolgerung:
"Das bedeutet, dass zum ersten Mal in der Geschichte eine Rechtskoalition mit der extremen Rechten das Potenzial hat, die Kontrolle über das Parlament zu übernehmen."
Und nur wenige Tage später veröffentlichten die tschechischen Behörden ihre "Sensation" und präsentierten eine Liste von Ländern, die sich vollständig mit den Ländern deckt, in denen IPSOS einen starken Anstieg der Popularität von Anti-Establishment-Parteien festgestellt hat! Und sofort, am nächsten Tag, beginnt eine offensichtlich koordinierte Schmutzkampagne gegen die nicht systemtreuen Parteien, die in diesen Ländern den Anspruch erheben, führend zu sein.
So erklärte der belgische Premierminister Alexander De Croo am Tag nach der Prager Verkündigung, dass die Geheimdienste seines Landes bereits eng mit ihren tschechischen Kollegen zusammenarbeiten, um "das russische Propagandanetz" zu zerstören. Wie praktisch! Er nannte auch keine konkreten Namen von "russischen Agenten", aber Umfragen zeigten: "In Belgien könnte die rechtsextreme, nationalistische und separatistische Flämische Interessenpartei Vlaams Belang am Ende der Wahlen im Juni die größte Partei des Landes werden, was möglicherweise eine Verfassungskrise auslösen könnte." Was für ein günstiger Zeitpunkt, sie zu beschuldigen, "Geld aus Russland zu erhalten"!
In den benachbarten Niederlanden, wo die Systemparteien bereits die Parlamentswahlen im Herbst verloren haben und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in den Umfragen zurückfallen, wurde offen mit dem Finger auf die Partei Forum für Demokratie (FVD) gezeigt, die sich für ein Ende der Unterstützung für die Ukraine einsetzt. Die Zeitung NRC, die die tschechische "Sensation" präsentierte, nannte ihren Artikel sogar "Stimme Europas – Podium für FVD". Sie erinnerte daran, dass zwei Führer dieser Partei im vergangenen Jahr einer tschechischen Website ein Interview gaben, in dem sie (welch ein Albtraum!) zum Frieden aufriefen. So viel zu den "Anschuldigungen". Und die Parteivertreter antworteten: "Wir wollen Frieden. Wir brauchen keine Bezahlung, um diese Botschaft zu überbringen!"
Und eine solche Hysterie herrscht jetzt in praktisch allen Ländern, die der tschechische Premierminister genannt hat. Und es wäre in Ordnung, wenn es sich nur um eine Hysterie in den Medien handeln würde, denn sie berichten in allen Einzelheiten über Putins Schatten, der sich bedrohlich über Europa legt. Sie sagen, dass er die Macht an sich reißen wird, ohne einen Schuss abzugeben, indem er einfach die Abgeordneten des Europäischen Parlaments aufkauft. Aber es ist bereits die Rede von Durchsuchungen, Ermittlungen, der Einschaltung von Sonderdiensten. Mit anderen Worten: Das harte Vorgehen gegen die Opposition in den europäischen Ländern erreicht ein systemisches Niveau. Und das alles findet mitten im Wahlkampf statt.
Es sollte uns nicht überraschen, dass es vor jeder Wahl im Westen ein weiteres "Russiagate" gibt, das aus dem Nichts entsteht. Dieses endet in der Regel fast unmittelbar nach Schließung der Wahllokale. Höchstwahrscheinlich wird dies nach den Wahlen zum Europäischen Parlament geschehen. Und wie üblich wird keiner der Kämpfer gegen die "russische Bedrohung" für seine primitiven Lügen geradestehen.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 1. April 2024 auf ria.ru erschienen.
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* Hinweis der Redaktion: Als "Russiagate" wird die angebliche Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahlen 2018 zugunsten Donald Trumps durch Russland bezeichnet. Die Demokraten behaupteten nach ihrer Niederlage, dass Moskau Trump zum Sieg verholfen habe, vor allem durch eine umfassende Kampagne in den sozialen Medien. Mainstreammedien hatten diese Behauptung daraufhin jahrelang kolportiert, obwohl es dafür keine Beweise gab und sich die Vorwürfe letztlich alle als haltlos herausgestellt hatten.