Von Alexej Danckwardt
Moskau hat am Freitag den schwersten Terroranschlag seiner Geschichte erlebt. Es ist zugleich der erste massenwirksame Terrorakt in Russland seit den Explosionen in der Metro von Sankt Petersburg vor fast 7 Jahren. Davor gab es Explosionen auf dem Bahnhof von Wolgograd und in Bussen in dieser Stadt im Winter 2013/2014, den Anschlag auf den Flughafen Domodedowo im Januar 2011, Anschläge auf die Moskauer Metro 2004 und 2010.
Moskau hatte die Angst inzwischen verdrängt und beinahe vergessen. Die Stadt lebte das sorglose Leben einer blühenden und lebensfrohen Weltmetropole und ärgerte sich über Zeugnisse der permanenten Terrorgefahr wie Kontrollpunkte und Taschendurchsuchungen an den Bahnhofs- und Metroeingängen, in Theatern und bei Massenveranstaltungen. Ihr Sinn war den meisten Einwohnern nicht mehr geläufig und sie schienen lästige Relikte einer dunklen, längst überwunden geglaubten Vergangenheit zu sein.
Von terroristischen Einzelakten wie den Morden an Darja Dugina und Wladlen Tatarski, dem Anschlag auf den Schriftsteller Sachar Prilepin, dem täglichen Beschuss von Donezk oder Belgorod, den Angriffen auf die Krim-Brücke nahm man zwar Kenntnis. Es schien einem jedoch entweder weit entfernt zu sein oder "nur" einen besonderen Personenkreis zu betreffen, dem man selbst nicht angehörte. Moskau lebte sein Leben, ging am Wochenende feiern, füllte tagtäglich Cafés und Restaurants, Pubs und Diskotheken bis zum letzten verfügbaren Platz.
Aus diesem unbeschwerten Tagtraum wurde die Stadt am Freitag auf die denkbar brutalste Weise herausgerissen. Es war nicht nur der erste Terroranschlag seit sieben Jahren, der der breiten Öffentlichkeit, jedem Moskauer ohne Rücksicht auf seine politische Einstellung galt, die Opferzahl übertraf zugleich alles bisher in dieser Stadt Gekannte. Die Geiselnahme im Musicaltheater auf Dubrowka im Oktober 2002 hatte offiziellen Angaben zufolge 130 Menschen aus dem Leben gerissen, die offiziellen Angaben zu den Todesopfern in der Crocus City Hall reichen bereits an 150 heran und könnten noch weiter steigen. Nur die Geiselnahme in der Schule im nordossetischen Beslan mit 333 Toten, darunter 186 Kinder, war schlimmer. Sie liegt inzwischen auch schon mehr als 20 Jahre zurück.
Das Begreifen dessen, was am Freitag geschehen ist, braucht seine Zeit. Am Abend der Tat waren die Informationen rar, und viele Moskauer waren selbst unterwegs, feierten oder kümmerten sich um ihr Alltagsleben, bekamen die schreckliche Nachricht nicht sofort mit. Dann kam das Adrenalin, die konzentrierte Suche nach Informationen, das Sichten der schrecklichen Videoaufnahmen, die Erleichterung am Samstagmorgen, als die Täter gefasst wurden. Viele Moskauer wurden aktiv und taten, was sie konnten: Spendeten Blut, meldeten sich als Freiwillige, bildeten spontane Gedenkstätten, beteten oder posteten Kommentare, in denen sie ihrer Wut freien Lauf ließen.
Am Sonntag strömten Zehntausende an den Ort der Tragödie. Von früh bis spät entlud jeder der im Dreiminutentakt in der Station "Mjakinino" einfahrenden Metrozüge Hunderte Trauernder mit Blumen, Kränzen, Kerzen und Kinderspielzeug in den Händen. Sie alle pilgerten den Weg von der Metrostation zur Konzerthalle, den viele der Opfer vom Freitag auch gegangen sein müssen. Schweigend schritten sie, so weit man sie ließ: Bis zum Bauzaun, von dem man einen flüchtigen Blick auf die im obersten Stockwerk ausgebrannte Fassade der Crocus City Hall werfen konnte.
In zwei Schlangen, vielleicht 300, vielleicht 500 Meter lang, warteten die Trauernden im Durchschnitt je eine Stunde im Regen, um die mitgebrachten Blumen, Kränze, Kerzen und das Kinderspielzeug am Zaun abzulegen. In den Gesichtern sah man Fassungslosigkeit – und die Entschlossenheit, auch das durchzustehen. Hier und überall in dieser riesigen Stadt, in diesem Riesenland lag Trauer in der Luft. Das Wetter schien mitzutrauern: Es nieselte den ganzen Tag und die Sonne ließ sich nicht blicken. Die Metropole hielt für einen Tag inne, in einer stoischen Ruhe, mit bewusst selbst auferlegtem Schweigen. In der Metro rückte man zusammen, Schulter an Schulter. In dem Blumenladen weiß die Verkäuferin sofort, wofür man die Blumen kauft. Überall spricht man nur das Allernötigste, und das Allernötigste sind an diesem Tag nur die Höflichkeitssätze, die allerdings so aufrichtig klingen wie an keinem anderen Tag. Und ja, die Taxis von und zum improvisierten Mahnmal waren tatsächlich kostenlos, auch am Sonntag.
Selten erlebt man in einer Großstadt so viel gegenseitige Zärtlichkeit, wenn wildfremde Menschen einander anblicken. In manchen Augen waren Tränen, doch nirgendwo waren Angst, Misstrauen oder Verzweiflung.
Erst heute, am dritten Tag nach dem Anschlag, wachen wir in dem Bewusstsein auf, dass das Leben nie mehr so sein wird, wie es bis Freitag war. Nein, es geht weiter. Moskau geht selbstverständlich seinem Alltag nach, und auch die Sonne scheint heute so hell wie seit Oktober nicht mehr. Doch es ist eine ganz andere Art, wie die Moskauer ihren Tagespflichten nachgehen. Trotz und Entschlossenheit, das sind wohl die beiden Begriffe, die das Wesen dieser in einer neuen Realität angekommenen Stadt am besten beschreiben.
Der Terror ist zurück in Moskau. Es kann durchaus sein, dass er noch mehrmals zuschlagen wird. Die Sicherheitsbehörden haben heute viel zu tun: Dutzende von Einkaufszentren und Polikliniken mussten am Montag kurzzeitig geräumt werden, weil Bombendrohungen eingegangen waren. Bislang waren es Falschmeldungen, zum Glück, doch wissen kann man nie.
Moskau und die Moskauer, Russland und die Russen werden auch das überstehen. Wer auch immer die Regisseure der neuen Terrorwelle sind, wo auch immer sie ihre teuflischen Pläne schmieden, sie haben sich verkalkuliert.
Auch Terror wird Russlands Bürger nicht in die Knie zwingen. Russland weiß, dass dieser Krieg nicht seine freie Entscheidung war, dass es keine andere Wahl hatte und hat, als ihn zu führen. Es weiß, dass es keinen Raum für Rückzug und nach einer Kapitulation keine Überlebenschance hat. Einige prowestliche Abweichler zählen nicht. Und darum wird Russland den längeren Atem haben und am Schluss siegreich sein. Unter Feuer und Druck wird der Stahl geschmiedet, und das weiß man hierzulande so gut wie nirgendwo sonst.
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