Von Dagmar Henn
Fast könnte man glauben, es habe erst die New York Times (NYT) und die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) gebraucht, um die Reste des bürgerrechtlich orientierten Flügels der FDP aus dem Dornröschenschlaf zu wecken.
Schließlich gehen die Maßnahmen, die Bundesinnenministerin Nancy Faeser plant, so weit, dass selbst diese beiden zutiefst konformen Blätter mittlerweile Anzeichen von Erschrecken zeigen. Die NZZ anlässlich der "Gefährderansprache" an einer Mecklenburger Schule, und die NYT betrachtet die Faeserschen Pläne zumindest insofern skeptisch, als eine andere Regierung damit ihre politischen Gegner kriminalisieren könnte (was die gegenwärtige bereits tut, aber das ist der NYT genehm).
Wolfgang Kubicki, immerhin einer der Wenigen, die bei den Corona-Maßnahmen sich überhaupt noch an so etwas wie Bürgerrechte erinnerten, erklärte nun also gegenüber der Bild-Zeitung:
"Aus dem Kampf gegen 'Rechts' scheint ein Kampf gegen das Recht zu werden. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass eine sozialdemokratische Innenministerin selbst zu einer Gefahr für die Demokratie wird. Mit der Delegitimierung staatlicher Institutionen kann Kritik am Handeln staatlicher Akteure nahezu beliebig in die Nähe der Staatsgefährdung geschoben werden."
Leiser äußert sich dann noch die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger:
"Der Staat muss entschlossen gegen Rechtsextremismus vorgehen. Doch der Zweck heiligt nicht alle Mittel. (…) Gesinnungsschnüffelei, wie sie der Aktionsplan Rechtsextremismus von Bundesinnenministerin Nancy Faeser vorsieht, ist Wasser auf die Mühlen der AfD und eine Bedrohung der Meinungsfreiheit."
Und auch Gerhard Baum, einst Innenminister und der große alte Mann der FDP, meldet sich zu Wort:
"Kritik, auch harte Kritik, muss möglich sein bis hin zu dem Punkt, wo die Freiheit wirklich gefährdet wird. Eine allgemeine Gesinnungsschnüffelei darf es deshalb nicht geben."
Guten Morgen, möchte man sagen. Und dezent darauf hinweisen, dass man über die Phase, in der nur die Meinungsfreiheit bedroht ist, schon lange hinaus ist, und es mittlerweile um die Bedrohung der materiellen Existenz geht. Natürlich ist die Versuchung groß, diese plötzlichen Aussagen als Verkörperung des Spruchs von der Schwalbe und dem Sommer zu sehen, aber das könnte den Kern verfehlen.
Schließlich war über Jahrzehnte hinweg keiner der beiden FDP-Flügel, der lange von alten Nazis getragene wirtschaftsliberale und der bürgerrechtliche, stark genug, um die Partei in den Parlamenten zu halten, sodass immer ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Seiten zumindest simuliert werden musste. Was selbstverständlich desto notwendiger ist, je bedrohter der Wiedereinzug in die Parlamente ist.
Dass die FDP in den letzten Monaten durch den eben wirtschaftsliberalen Finanzminister und noch weit mehr durch die Rüstungslobbyistin Strack-Zimmermann in die Schlagzeilen kam, stellt also ein Problem dar, das gelöst werden muss. Und die klassische Strategie dafür besteht darin, die Bürgerrechtler ein wenig von der Leine zu lassen.
Aber müsste man es nicht dennoch begrüßen, wenn nicht zumindest irgendjemand aus dem Teil des Parteienspektrums, das es noch zu anderen Zwecken als dem der Demontage in die Presse schafft, sich endlich gegen die Faeserschen Monstrositäten ausspricht?
Nun, es gibt eine Eigenschaft, die alle drei FDP-Politiker, die dem Bürgerrechtsflügel angehören und die sich jetzt äußern, miteinander teilen: Es sind samt und sonders studierte Juristen. Sprich, sie besitzen die erforderliche Lesefähigkeit, um Gesetzentwürfen auch die weniger augenfälligen Konsequenzen zu entnehmen. Vor allem aus diesem Grund ist die Kritik, die sie jetzt an den Faeserschen Plänen vortragen, nicht nur kolossal verspätet – die FDP, die immerhin Regierungspartei ist, hätte diese Entwürfe bereits in der Koalition verhindern müssen, wollte sie wirklich glaubwürdig sein –, sondern sie springt auch viel zu kurz.
Nehmen wir allein die Dinge, die nach dem auch mit den Stimmen der FDP verabschiedeten Verfassungsschutzgesetz möglich sind. Der Verfassungsschutz darf beispielsweise bei Arbeitgebern, Banken und Vermietern anrufen und damit unter Umständen einen Verlust von Arbeit, Wohnung und Kreditwürdigkeit auslösen, sprich, die Existenz vernichten.
Nachdem Auslöser dieser Handlungen (ja, liebe studierte Juristen, ihr müsst das wissen) keine Straftat ist, ist schon die Verhältnismäßigkeit dieses Handelns infrage zu stellen. Aber schlimmer noch, und das wisst ihr auch, und zwar genau: Es handelt sich hierbei um eine extralegale Bestrafung durch ein staatliches Organ, gegen das keinerlei rechtliche Abwehr möglich ist, außer bestenfalls eine Anzeige gegen Unbekannt. Denn es gibt keinen Bescheid, nicht einmal eine Mitteilungspflicht über die vorgenommene Handlung, keine Möglichkeit eines Widerspruchs oder eines Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht, weil diese Telefonate formell keine Verwaltungsakte darstellen. DAS ist bereits ein vollständiger Bruch mit rechtsstaatlichen Prinzipien, und da sind wir noch gar nicht bei den neuesten Faeserschen Machenschaften, sondern bei einem Gesetz, das bereits in Kraft ist. Und das auch noch alle Begrenzungen zur Verwendung von Daten aufhebt, die "öffentlich bekannt" sind. Während gleichzeitig dubiose Strukturen mit staatlichen Geldern gefördert werden, die als Nebengeheimdienste genau die Informationen sammeln und veröffentlichen, die dann für eben solche Telefonate genutzt werden können.
Nur noch einmal zur Erinnerung:
"Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, steht ihm der Rechtsweg offen." (Art. 19)
Und das hier:
"Die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden." (Art. 20)
Wie steht es nun mit extralegalen Bestrafungen ohne Möglichkeit einer rechtlichen Überprüfung? Wie viel derartige Schritte braucht es, bis die Rechtsstaatlichkeit aufhört, zu existieren?
Aber das Problem geht bekanntlich tiefer. Wie die Demokratie hat auch die Rechtsstaatlichkeit eine Voraussetzung, die in Deutschland derzeit nicht gegeben ist: die Souveränität. Auch wenn so getan wird, als hätte der Anschlag auf Nord Stream eigentlich gar keine besondere Bedeutung: In Wirklichkeit waren er und vor allem die Nichtreaktion der Bundesregierung das weltweit unübersehbare Signal, dass lebenswichtige Entscheidungen über Deutschland nicht mehr in Deutschland getroffen werden.
Wenn derart weitreichende Eingriffe durch eine äußere Macht möglich sind, betrifft das natürlich mindere Entscheidungen noch mehr. Und die Vermengung von US-Oligarchen und deutschen Steuergeldern bei der Finanzierung der erwähnten Nebengeheimdienste legt es durchaus nahe, dass diese extralegalen Bestrafungen auch mal direkt im Interesse besagter fremder Macht erfolgen können.
Sollte das den drei FDP-Heroen Kubicki, Baum und Leutheusser-Schnarrenberger nicht bewusst sein? Aber sicher doch; keiner der drei hat sich in irgendeiner Weise vom transatlantischen Kurs distanziert, oder von ihrer kriegslüsternen Kollegin Strack-Zimmermann. Keiner der drei hatte Bedenken bei den bisherigen, gegen die Meinungsfreiheit gerichteten Rechtsverschärfungen.
Und wirklich, sollte es so erstaunlich sein, dass eine sozialdemokratische Ministerin derartige Gesetze vorlegt? Nicht, wenn man sich noch daran erinnert, dass die Berufsverbote auf dem Mist einer SPD-FDP-Regierung gewachsen sind, wie übrigens auch die Anti-Terror-Gesetze der 1970er, die man derzeit weit zu übertreffen sucht.
Es könnten sich natürlich auch noch ganz andere Absichten dahinter verbergen, nachdem irgendwie der Drang, selbst Krieg zu spielen, angesichts der ukrainischen Niederlage überwältigend zu werden scheint, man dafür aber irgendwie Bundeskanzler Olaf Scholz entsorgen können müsste (der zu der Position, so etwas wie Rückgrat zeigen zu müssen, wahrhaft gekommen ist wie die Jungfrau zum Kinde; es wird eine spannende Aufgabe für künftige Historiker, zu entziffern, wer ihm da die Leviten gelesen hat). Faesers antidemokratischen Feldzug als Anlass nutzen, um die Koalition aufzukündigen und die noch antidemokratischere Kriegspolitik zu verschärfen? Immerhin, mit dem Auslösen von Regierungswechseln ohne Wahlen hat die FDP viel Erfahrung.
Um die Sache selbst ging es dabei jedenfalls nicht. Das hätte weit schärferer und früherer Reaktionen bedurft. Eher wollte man mal ein wenig mit dem Spielbein wackeln, um nicht alle Wähler zu verlieren, die einmal Erwartungen hegten, die FDP stünde in irgendeiner Art für Bürgerrechte. Nun ja, auch Theodor Heuss hatte dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt.
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