Von Wladislaw Sankin
Berlin hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der wichtigsten Zentren der russischen prowestlichen Polit-Emigration entwickelt. Bis zu 32.000 Russen sind im Jahr 2022 während der großen Auswanderungswelle nach dem Beginn der russischen Spezialoperation nach Deutschland gekommen. Viele von ihnen haben sich in Berlin niedergelassen, darunter die Redaktionen mehrerer Oppositionsmedien. Wobei das Wort "Opposition" im russischen politischen Kontext zum Teil irreführend ist. Im Laufe der Jahre ist diese vielmehr zum Handlanger der antirussischen Politik des Westens geworden, zum Propagandagehilfen und Antreiber der Sanktionspolitik. Die aktivsten Vertreter dieser Klasse wurden in Russland mittlerweile als Extremisten oder ausländische Agenten eingestuft.
In Berlin dürfen sie jedenfalls ihren Hass auf den amtierenden Präsidenten in vollem Maße ausleben, insbesondere am Wahltag. Wladimir Putin, in einer mit Blut gefüllten blaugelben Badewanne liegend, sollte an diesem Tag zum beliebtesten Anziehungspunkt und Fotomotiv werden. Die Putin-Puppe war bewusst so platziert worden, dass keiner der Wahlberechtigten aus der Warteschlange vor dem russischen Botschaftsgebäude sie übersehen konnte. Um 12 Uhr begann die Kundgebung mit Oppo-Prominenz, allen voran Julia Nawalnaja und Michail Chodorkowski.
Die Organisatoren haben ein abwechslungsreiches Programm versprochen, das mit einer symbolischen Verhaftung Putins und dessen Übergabe an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag enden sollte. Das klang recht bedrohlich. Auch ein Rockkonzert wurde angekündigt. Das versprach eine große Teilnehmerzahl und viel öffentliche Aufmerksamkeit.
Doch zur Kundgebung kamen kaum mehr als 1.500 Menschen und die Redner waren entsprechend lahm und kraftlos. "Russland wird frei sein", "Russland ohne Putin", "Putin ist nicht legitim", "Sieg für die Ukraine, Freiheit für Russland" – hin und wieder ertönten von der Bühne Parolen zum Mitschreien, zum schlagkräftigen Chor wurden sie aber nicht. Ex-Oligarch Chodorkowski, der zu diesem Termin extra aus London angereist war, erschien für lediglich wenige Minuten, nur um zu sagen, für wie absurd er die "Männer im Kreml" hält.
Nachdem auch Julia Nawalnaja ihren Auftritt absolviert hatte, löste sich die ohnehin klägliche Schar vor der Bühne auf, sodass zum geplanten "Protest-Spaziergang" zum Russischen Haus nur eine Handvoll Aktivisten geblieben war. Aber es war nicht so, dass die Menschen, die Putin gern abwählen würden, das Berliner Botschaftsviertel Unter den Linden am Wahltag gänzlich gemieden hätten. Auch sie reihten sich in die fast zwei Kilometer lange Schlange ein, um nach einer Wartezeit von durchschnittlich drei Stunden ins Wahllokal eingelassen zu werden.
Diese oppositionell gesinnten Wähler machten mindestens die Hälfte aller Botschaftsbesucher aus. Ich konnte mit vielen von ihnen sprechen. Ihr Porträt: IT-ler, junge Kreative und sonstige Vertreter der liberalen und prowestlich gesinnten städtischen Mittelschicht im Alter von 20 bis 35 Jahren – das deckt sich mit den dazu bekannten Statistiken. Viele kamen mit Kleinkindern und Familien. Was sie auf ihren Wahlzetteln angekreuzt haben, bleibt natürlich ihr Geheimnis, aber höchstwahrscheinlich haben sie für Wladislaw Dawankow, den Vertreter der unternehmerfreundlichen Partei "Neue Leute", gestimmt oder machten die Wahlzettel auf irgendeine Weise ungültig.
Die meisten waren friedlich gestimmt und sagten, dass sie einfach "gegen Krieg" seien. Viele seien auch bereit, nach Russland zurückzukehren, wenn der Krieg vorbei ist. Die Radikaleren standen in Gruppen beisammen und zeigten ihre Anti-Putin-Plakate so, dass sie leicht von den deutschen Fernsehteams gefilmt werden können. Diese ließen sich zu Hof-Berichterstattern für die neue Oppo-Königin Julia Nawalnaja machen und drehten ihre Reportagen inmitten der Menge. Ihr Ziel war zu zeigen, dass "die Russen" eigentlich gegen Putin seien, sie ihn aber aus Angst oder Dummheit trotzdem wählen. Diese Thesen spielten den Vertretern der Bundespolitik in die Hände und lieferten ihnen willkommene Argumente für die Nicht-Anerkennung der Wahlergebnisse, die am nächsten Tag bekannt gegeben wurden.
Doch es gab auch andere Wähler. Sie kamen, um "ihre Bürgerpflicht zu erfüllen" und für den amtierenden Präsidenten zu stimmen. Sie waren älter und in diesem Land alteingesessen. "Onkel Wowa ist ein Prachtkerl, die Russlanddeutschen stimmen zu 90 Prozent für ihn", sagte mir ein Vierzigjähriger. Mit seiner Frau und einem Freund stand er staunend vor Putins Blutpuppe und stritt lauthals mit einem anderen Mann, der ihm "Bahnhof-Koffer-Russland" zurief. Dieser Spruch aus der Maidan-Ukraine drückt Vertreibungsgelüste und die Sehnsucht nach einem Staat ohne Andersdenkende aus.
"Diese Puppe ist ätzend und ist nur dafür da, um Hass und Zwist zwischen den Brüdern zu säen. Wozu nur?", kommentierte die Frau die Installation der Putin-Gegner.
Für einen Moment sah es fast so aus, als ob die Putin-Wähler in der Minderheit wären. Dann sah ich eine Frau, eingehüllt in eine Russland-Fahne. In diesem Moment stellte ich mir vor, dass an einem ukrainischen Wahltag Tausende in ukrainische Fahnen eingehüllt wären. Doch das Zeigen der Russland-Fahne gilt in Deutschland als Provokation. Die Frau wollte nicht sprechen, dafür aber ein Mittfünfziger mit einer roten Pionier-Krawatte. Er breitete vor meinen Augen die Sowjetfahne aus. "Ich stimme für meine liebe Heimat, die Sowjetunion." Die jungen Leute seien zu dumm, um zu begreifen, dass sie, wie damals im Zweiten Weltkrieg, für Verräter eintreten.
Dann kam eine weitere Frau hinzu und sagte, dass ihre erwachsenen Kinder in Moskau für Putin stimmen werden. "Vor zwei Jahren waren sie noch für Nawalny." Sie kam aus Hamburg, verbringt jedes Jahr wenige Monate in Russland und möchte zurück. Sie sei gekommen, um ihre Heimat und ihren Präsidenten zu unterstützen. "Putin tut viel für das Land, auch die kleinen Städte blühen auf", lobte sie. "Ich sehe keine Kraft in Russland, die Putin ersetzen könnte. Das ist eine objektive Tatsache."
Eine bunt gekleidete junge Frau in einer US-Fliegerjacke dreht sich lächelnd zu uns und ich mache ein Foto von ihr. Die Frage, zu welchem Lager sie und ihre Begleiterinnen gehören, erübrigt sich wohl.
Da treffen zwei unterschiedliche Russlands aufeinander. Die jahrzehntelangen Bemühungen Russlands, in der Familie der "zivilisierten Völker" des Westens aufgenommen zu werden, hat in der russischen Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen. Ein Großteil der Jugend ist verwestlicht und denkt in den vom Westen dominierten Denkmustern. Zugleich ist aber auch ein ursprüngliches, souveränes Russland erwacht und kämpft sich seinen Weg frei. Zu wessen Gunsten dieser Kampf ausgeht, ist unschwer zu erahnen – selbst hier in Berlin, der Hochburg der liberalen Prowestler.
Eine Frau in volkstümlichem Tuch erklärt, warum das so ist. "Wir werden allem standhalten. Wir lieben unser Russland und unseren orthodoxen Glauben. Russland und der Glaube werden trotz alldem gewinnen." Um abzustimmen, musste sie aus Rostock anreisen. Sie stellt eine ältere Frau vor, die neben ihr steht. Diese sei, wie auch sie selbst, Kirchgängerin und ihre "Schwester in Christus". Sie sagt:
"Wir stehen schon mehrere Stunden in dieser Schlange und bereuen es nicht. Wir treffen heute eine Wahl, die Auswirkungen auf die ganze Welt haben wird. Russland ist ein Bollwerk, ein Land des Friedens, und es muss von seinen einfachen Bürgern unterstützt werden. Wir werden heute unsere Wahl treffen."
Wie Berlin abgestimmt hat, ist noch nicht bekannt. Bei den vorherigen Wahlen im Jahr 2018 stimmten in ganz Deutschland 33.800 russische Bürger ab. Damals konnte man noch in sechs Wahllokalen abstimmen. Nach Schließung der Konsulate sind es nur noch zwei. 74 Prozent stimmten 2018 für Putin, nur 2,66 Prozent weniger als der russische Durchschnitt. In diesem Jahr dürfte dieses Ergebnis zwar deutlich niedriger ausfallen. Aber das ist mit mehr als 87 Millionen Wahlberechtigten, die an den Wahlen teilnahmen, nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Opposition hat verloren, weil die russischen Bürger es so wollen, und sie glaubt auch selbst nicht mehr an sich. Nur die Finanzierung aus dem Westen hält sie noch am Leben. Sie existiert, aber Leben kann man es nicht mehr nennen.
Ja, es wurde gebellt in Berlin. Aber der Lauf der Geschichte Russlands setzt sich unbeeindruckt fort.
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