Eine Lesermeinung von Mikhail Balzer
Unser Balkonist wurde unlängst, am Mittag die bereits frühlingshaften Sonnenstrahlen am geöffneten Balkonfenster genießend, Zeuge eines Gesprächs zweier Jugendlicher, die sich geradezu alterstypisch derart laut unterhielten, dass sie selbst einen Schwertransporter übertönt hätten. Daher konnte Michael ohne Mühe und trotz der Entfernung von gut 50 Metern ihrer Unterhaltung lauschen: "Du Freitag mit auf Demo, statt Schule?" "Welche Demonstration, wohin marschieren wir?" "Weiß nicht, irgendwie mitmachen! Treffpunkt halb zehn Marktplatz" "Welcher Marktplatz, wir haben hier zwei, den Hauptmarkt und den am Rathaus?" "Steht doch Plakat, an Schule." "Ich bin dabei. Letztes Mal fürs Klima oder so, war es auch lol: mit Bratwurst und Sekt anschließend, obwohl wir noch keine 16 sind ... Das haben die am Stand von der Pieps*-Partei gar nicht gemerkt bei dem Trubel!"
In Anbetracht derartiger intellektueller Indifferenz schien es sogar dem Kater Murr III zu viel zu werden, denn laut schreiend verkündete er seinen Widerstand. So zumindest dachte Michael zunächst, bis er gewahr wurde, auf des Katers Schwanz zu stehen. Wie konnte so etwas nur passieren, wo er sich doch beim Zuhören gar nicht bewegt hatte? Also: Fuß zur Seite und das Fenster mit lautem Protestknall schließen! Aber ob er tatsächlich zufällig auf dem Katzenschwanz gestanden hatte, blieb kryptisch, zumal Murr sich nach der mutmaßlichen Verletzung nicht wie sonst üblich an der schmerzenden fünften Extremität leckte.
Mit irritierenden Gedanken über den Ort des plakatierten Demonstrationsaufrufes (sollte es womöglich gar auf dem Schulgelände angebracht worden sein?), entschied unser Balkonist, zunächst frischen Kaffee in seine Tasse nachzuschenken, um sich zu sammeln. Der noch genussreich dampfende Milchkaffee entfaltete rasch seine anregende Wirkung, gepaart mit den bereits warmen Sonnenstrahlen, welche durch frisch geputzte Fensterscheiben einfielen.
Nun ja, es sei eigentlich wohl für diese jungen unbedarften Leute unerheblich, wofür oder wogegen man auf die Straße ginge: "Gegen Klimaüberhitzung" zusammen mit der Fraktion der aktivistischen Klimakleber, "Zur Wahrung einer wehrhaften Demokratie" aufgerufen von Antif* und Pieps*Partei, oder – wie jetzt in der Tageszeitung publiziert – am kommenden Freitag "Gegen einen Russischen Angriffskrieg". Hauptsache: keine Schule, dafür mitlaufen und applaudieren (wofür auch immer)! Anschließend noch ein nettes "zweites Frühstück" ...
Es ist ja auch so einfach: Von beinahe überall her schallt es einförmig, im Ton höchster Moralität und mit simpel formulierter Kausalität – über die "völlig offensichtliche Schuldfrage" nach dem Urheber dessen, was nun einmal zweifelsfrei bewiesen sei: nämlich dass "Wladimir Putin" und "Putins Russland" die alleinige Schuld am Kriegsdilemma in der Ukraine tragen würden. Selbstredend kein Wort über die historische Entwicklung der Situation im Donbass und auf der Krim, welche zeitlich dem jetzigen Konflikt vorausging. Kein Wort mehr von nicht eingehaltenen Absprachen des Minsker Abkommens sowie der diesbezüglichen öffentlichen Offenbarung einer früheren deutschen Kanzlerin und des damaligen französischen Staatschefs ...
Eine sorgfältige historische und Hintergrund-Analyse, sodann eine dialogische, diskursive (oder dialektische?) Aufarbeitung kontroverser Einschätzungen gehörten einmal zur Tradition von gutem Journalismus – früher einmal, aber nicht in diesen schwierigen Zeiten heute. (Übrigens galt auch in der Politik einst die wohlbegründete Regel, Geschehnisse in ihren historischen Zusammenhängen zu sehen, oder wie es der erste Kanzler der Bundesrepublik Konrad Adenauer es bereits in den 1950er Jahren ausgesprochen hatte: "Man sollte die historischen Vorgänge nicht von einem bestimmten Tag ab gut oder schlecht beurteilen, sondern man muß die ganze Kette der Ereignisse sehen.")
Also: Durchaus inflationär und redundant wird heuer in den Medien und im Grundton empörter Emotionalität etwas orchestriert – was offenbar die erwünschte Wirkung auch nicht verfehlt. Unabhängig davon, ob hier historische Realitäten oder etwaige propagandistische Umschreibungen zu einer virtuellen Kausalkette zusammengebaut werden, macht es dieses gleichförmige Getöse dem Leser und Zuschauer ganz leicht: Man muss nicht mehr selbst nachdenken, man muss kein eigenes Fazit ziehen! Alles sehr bequem und speziell für den Mitläufer bestens aufbereitet. Medial diskutiert, auch in den freigegebenen Kommentaren, wird monomorph postuliert, dass man jetzt "aufstehen müsse, um ein Zeichen zu setzen" und dass "selbstverständlich nun alle in diesem Lande zusammenstehen müssten" – für die Ukraine.
Dies steht (natürlich ganz zufällig) im Rahmen der derzeitigen konfrontativen Außenpolitik der NATO und der Regierungen der meisten EU-Länder. Leider werden diese Aufforderungen nicht gegen eine pazifistische Alternative (zumindest gelegentliches Zuhören und vor allem Verhandeln, wie es einst elementares Kennzeichen bundesdeutscher Außenpolitik gewesen war) abgewogen. Man möge hier nur an Helmut Schmidt denken, der gemahnt hatte: "Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln, als 1 Minute schießen!" Und wie gerufen tauchen bereits Plakate auf, so auch unlängst auf einer der vielen Berliner Demonstrationen: "Deutschland wird in der Ukraine verteidigt" (wohlvergessend, dass die vormalige Verteidigung Deutschlands in einem anderen entfernten Land, nämlich am Hindukusch, wenig von Erfolg gekrönt war).
Auch wurde Ende Februar eine Demonstration unter dem Motto "Frieden verteidigen" veranstaltet (einer Mitteilung des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin ist hingegen zu entnehmen, dass der Regierende Bürgermeister eine Rede auf der –nunmehr nicht ganz so friedliebend bezeichneten – Kundgebung "Frieden verteidigen/ #VictoryForPeace" am 24.2.24 halte. Offiziell angemeldet worden war eine Demonstration mit dem Motto "Frieden verteidigen" von 13:00 bis 15:00 Uhr am Brandenburger Tor (hier also ohne jede Spur des ominösen Hashtags!).
Vor Ort aber ließ der Regierende Bürgermeister doch erschreckend Eindeutiges durchblicken, nämlich dass Berlin uneingeschränkt an der Seite der Ukraine stehe und dass die Ukraine Waffen, Munition und auch Taurus brauche. In Sprechchören hallte es dann "Russland ist ein Terrorstaat", "Taurus jetzt", "Russland bringt Tod" und "Mehr Waffen für die Ukraine", wie die Internetseite eines öffentlich-rechtlichen Senders (beinahe euphorisiert) zitiert. Dem Balkonisten mutete dies doch alles ordentlich suspekt an, denn für ihn galt immer, dass eine "Friedensdemonstration" leise, ruhige und pazifistisch-vermittelnde Töne anstimmen sollte, so wie vormals gerade für Deutschland eine Zurückhaltung in Bezug auf militärische Interventionen galt!
Willy Brandt sprach dies wohl am eindeutigsten aus: "Vom deutschen Boden darf nie wieder Krieg ausgehen!" Letztlich fühlte sich der Balkonist bei Betrachtung der medial verbreiteten Bilder an sehr beunruhigende historische Fotografien längst vergangener Zeiten erinnert: vor fast genau 110 Jahren tummelten sich auch viele Bürger auf Demonstrationen und Versammlungen, fühlten sich ähnlich einhellig im Recht. Es wurde reichlich gejubelt und applaudiert zu dem immer konfrontativer werdenden Kriegsgetrommel in den Zeitungen, zu den Worten des Deutschen Kaisers und zeitgenössischer Politiker. Auch damals gab es viele aufgeheizte Parolen gegen Russland (und erst später gegen Frankreich). Auf der anderen Seite existierten nur wenige zu Vorsicht und Besonnenheit mahnende Stimmen, insbesondere auch in der Presse und unter den Politikern.
Große Denker und Politiker der Bundesrepublik, welche kraft persönlicher Erfahrung noch näher an den schrecklichen Zeiten großer Kriege waren, könnten auch heute mit ihren Aussagen fortwirken, wenn diese denn noch berücksichtigt würden: "Leute, die keinen Krieg erlebt haben, wohl aber selbst Krieg führen oder provozieren, wissen nicht, was sie Furchtbares anrichten" (Helmut Schmidt). "Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller Dinge" (Willy Brandt). Helmut Kohl wurde im Jahre 2007 gefragt, ob er sich auch gegen eine deutsche Beteiligung am Irak-Krieg gewandt hätte. Ja, das hätte er getan. Warum? – Für den Frieden.
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