Von Wladislaw Sankin
Ich halte mein Versprechen. Darum bat mich eine Besucherin des Themenabends mit dem Bundeswehrgeneral a. D. Harald Kujat, der Mitte Februar in Berlin-Dahlem bei der Eurasiengesellschaft e.V. stattfand. Ich sollte in meinem Bericht über die Veranstaltung unbedingt erwähnen, dass sie Angst vor einem Einberufungsbescheid für ihren Sohn hat. Deswegen hört sie dem General gerne zu. Es gibt ihr Hoffnung, dass vernünftige Leute beim Militär wie Kujat im drohenden militärischen Konflikt mit Russland deeskalierend wirken könnten.
Das Interesse an den Analysen des ehemaligen Generalinspekteurs der Bundeswehr (2000–2002) und Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses (2002–2005) ist heute stärker denn je. Der General ist mit seinen fast 82 Jahren zu einem echten "Star" der alternativen Medienszene avanciert. Seine Interviews und sonstigen öffentlichen Auftritte werden bei YouTube millionenfach angeklickt. Mit dem Vortrag bei den "Eurasiern", der auf dem YouTube-Kanal der NachDenkSeiten veröffentlicht und von vielen anderen Plattformen weiterverbreitet wurde, gelang ein nächster erfolgreicher Medien-Coup. Umso beharrlicher wird Kujat von den Mainstreammedien ignoriert.
Der General a. D. besticht mit hervorragender Allgemeinbildung und Nüchternheit. Er zitiert aus den Klassikern und ordnet Ereignisse faktenreich ein. Was die Menschen an dem pensionierten Militär-Freigeist besonders beeindruckt, ist sein unbedingter Wille zur Deeskalation.
Dabei war Kujat, der heute als Dissident und Kritiker der westlichen Politik wahrgenommen wird, eine der zentralen Figuren bei zwei Erweiterungswellen der NATO nach Osten in den Jahren 1999 und 2004. Diese Schritte bedauert er nicht. Heute erzählt er, dass er auch damals fair bleiben wollte. Als er mit Polen und Ungarn die Verhandlungen geführt hat, fragte er die Beitrittswilligen: Habt ihr mit den Russen darüber gesprochen, sind sie einverstanden? Und er wusste damals schon, dass die Russen vor allem in der Aufnahme Polens in die NATO ein großes Problem sahen, erzählte er dem Publikum in Berlin-Dahlen, nachdem die Kameras ausgeschaltet waren.
Seit den Enthüllungen Macrons am Montag spricht man offen über die Entsendung von NATO-Kontingenten in die Ukraine, womöglich an die Frontabschnitte, die Russland seit nun anderthalb Jahren als sein eigenes Territorium ansieht. Das unter Mitwirkung des damaligen NATO-Funktionärs Kujat erweiterte Bündnis steht an einer immer näher rückenden Schwelle zu einer direkten Konfrontation mit der Nuklear-Supermacht Russland. Der Einberufungsbescheid rückt damit der Realität ein kleines Stück näher.
Kujat will deshalb, dass das Blutvergießen in der Ukraine aufhört und die NATO und Russland beide einen Schritt zurück zur Deeskalation gehen. Dafür müssten erst die Waffenpausen im russisch-ukrainischen Krieg erreicht werden. Danach müsse man Verhandlungen aufnehmen. Er zählt auf, welche Schritte beide Konfliktparteien zur Gesichtswahrung gehen könnten. Dabei beruft er sich auf das von der Ukraine auf Drängen des Westens im April 2022 abgelehnte Istanbul-Abkommen, das die Ukraine und Russland in den ersten Wochen nach der russischen Invasion ausgehandelt haben.
Das ist ein edles Anliegen. Zu sehen, wie vor allem Soldaten auf beiden Seiten tagtäglich in großer Anzahl sterben, bereitet großen Schmerz. Auch diejenigen auf der ukrainischen Seite gehören meinem Volk an. Die Ukrainer sind Russen, die durch nationalistische Propaganda und westliche Einflüsterer irregeführt worden sind. Kleine ethnische Unterschiede und vermeintliche historische Ressentiments dürfen da nicht überbewertet werden – was die Spalter im Westen nur zu gern machen. Oft schießen Brüder aufeinander in diesem Krieg.
Aber leider sind die wohlwollenden Vorschläge zu einem friedlichen Unentschieden von Herrn Kujat kein Heilmittel. Der Generalinspekteur a. D. erkennt zwar die Fehler des Westens, zum Beispiel die Mitwirkung bei dem Staatsstreich im Jahr 2014 in Kiew, an, kann aber die NATO, eine der Säulen der westlichen Hegemonie, nicht für obsolet erklären. Er denkt, ein NATO-Russland-Rat könnte auch künftig, wenn die Krise vorbei ist, die Sachen wie vor 20 Jahren regeln.
Kujat spricht da aus seiner eigenen Erfahrung und das ist verständlich. Aber diese Erfahrung liegt in der Vergangenheit. Und heute haben sich sowohl die Akteure des Konflikts als auch die Welt insgesamt grundlegend verändert. Auch der Istanbuler Vertrag, der ihm zufolge ein sehr gutes Angebot für die Ukraine war, gehört der Vergangenheit an. Seine Erwähnung in der russischen Argumentation ist nichts weiter als ein diplomatischer Trick für die Außenwahrnehmung.
Kujat ruft richtigerweise dazu auf, den Gordischen Knoten des Konflikts mit Russland nicht mit dem Schwert, sondern durch kluges Entflechten zu lösen. Das kluge Verhalten basiert vor allem darauf, dass man die politischen Ziele des Gegners versteht; beziehungsweise derjenigen Seite, die man für einen Gegner hält, denn Russland hat jahrelang die Führung westlicher Staaten für faire Partner gehalten. Über Russlands Ziele redet Kujat hingegen nicht viel und bleibt oft im Unklaren.
So betont er ständig in seinen Analysen, dass die EU nun die Hauptlast beim Wiederaufbau der Ukraine übernehmen werde – für Jahrzehnte. Er geht also fest davon aus, dass die Ukraine als Staat überlebt und weiterhin eine Rolle in Europa spielen wird. Auf der anderen Seite hält er es für wahrscheinlich, dass Russland nach wie vor plant, die bedeutenden, russisch geprägten Großstädte Charkow und Odessa einzunehmen. Kommt Odessa wieder unter die russische Obhut, verliert die Ukraine den Zugang zum Schwarzen Meer. Das wäre eine fundamentale Schwächung ihrer strategischen Position, die insbesondere die Seemächte USA und Großbritannien auf keinen Fall hinnehmen werden.
Ob dies Russland gelingt oder nicht, sei laut Kujat noch ungewiss. Aber in seinen Zukunftsszenarien gibt es immer eine Ukraine, wobei es für ihn keine Rolle spielt, auf welchen ideologischen Grundsätzen diese Ukraine basiert. Ob es etwa eine Rückabwicklung der nazistischen Ideologie geben wird. Diese Ideologie ist keine Nebensächlichkeit, sondern der Kern und Gründungsmythos des modernen ukrainischen Staates, der auf Abgrenzung und Überlegenheit zu allem Russischen basiert.
Wie auch Nazi-Deutschland begreift sich die Ukraine in allen ihren offiziellen Verlautbarungen als Speerspitze der "zivilisierten Welt", die es gegen den östlichen Nachbarn Russland zu verteidigen gilt. Statt des "Judo-Bolschewismus" gilt es nun, sich gegen den "Putinismus" zu verteidigen – die ideologischen Denkmuster bleiben dieselben. In der Ukraine kämpfen Freiheitsliebende gegen die Orks, die hässlichen Sklaven Putins – die Anklänge an dieses Narrativ ziehen sich wie ein roter Faden durch die westliche Berichterstattung.
Doch der Experte "übersieht" diese entscheidende ideologische Komponente und geht konsequenterweise auf Russlands Streben nach einer "Entnazifizierung" der Ukraine nicht ein. Dabei ist der Kampf gegen den Nazismus gerade in Russland, dem Erben der Sieger über den deutschen Faschismus, ein Motiv mit ungeheurer Mobilisierungskraft.
Das nächste Problem ist die Realitätsferne. Auf welcher Basis wird der Westen der Ukraine beim Wiederaufbau helfen? Wird das Militär der NATO oder EU gegen den Willen Russlands im Land präsent bleiben? Wenn ja, warum sollte Russland dies zulassen, wenn die Entmilitarisierung, also Vertreibung der NATO aus der Ukraine, das zweite russische Motiv für die Invasion war? Und was passiert mit den ganzen Milliarden für den Wiederaufbau, wenn das ukrainische Regime doch fallen sollte? Allerdings hat Kujat die derzeitige militärische Strategie der Russen, die darauf abzielt, die Kräfte des Gegners zu zermürben, bis der organisierte Widerstand zusammenbricht, zutreffend beschrieben.
Das Tragische im gegenwärtigen Konflikt ist, dass es schlicht und einfach kein Unentschieden geben kann. Allein das Erkennen der wahren Ziele und Absichten Russlands und die Anerkennung der Entschlossenheit, mit der Russland diese Ziele erreichen will, kann Abhilfe schaffen. Doch wagen sich nur Wenige im Westen, dies klar und unmissverständlich auszusprechen.
Dabei genügt es, statt Kreml-Astrologie und Putin-Bashing zu betreiben, genau zuzuhören, was die russischen Offiziellen über die Ukraine und Russlands Ziele und Perspektiven zur Lösung des Konflikts gesagt haben und jeden Tag aufs Neue sagen. Russlands Botschaft ist dabei ganz klar. Früher, als die Ukraine ein Land mit einer berechenbaren Regierung war, hat Russland die Souveränität der Ukraine respektiert. Als es damit, spätestens nach dem Scheitern des Minsker Prozesses, endgültig vorbei war, hat Russland eine 180-Grad-Wende vollzogen. Heute betrachtet Russland die Ukraine als sein historisches Gebiet, das es von einer nazistisch-westlichen Okkupation zu befreien gilt. Darauf arbeitet das ganze Land mit seinen 145 Millionen Einwohnern hin.
Für den Westen bedeutet diese Wende Folgendes: Er soll sich aus der Ukraine komplett zurückziehen. Der Westen ist der Westen und soll im Westen bleiben. In der neuen Weltordnung, die Russland anstrebt, soll die Sicherheitsarchitektur ganz neu verhandelt werden. Darin bleibt für Bündnisse wie die NATO kaum noch Platz, zumindest in ihrem alten ideologischen Gewand.
Wenn die Ernsthaftigkeit der russischen Ziele nicht verstanden wird, kommen nur wohlgemeinte Karikaturen heraus, wie jüngst ein Vorschlag des Linken-Veteranen Gregor Gysi. Gysi hat sich der lächerlichen Naivität preisgegeben, als er in einem Spiegel-Gespräch vorgeschlagen hat, die westlichen Waffenlieferungen in die Ukraine für 48 Stunden auszusetzen. Ihm zufolge würde diese großzügige Geste einen Verhandlungsprozess in Gang setzen, an dessen Ende der Westen Russland "überreden" könnte, sich aus den angeblich besetzten Gebieten, einschließlich des Donbass, zurückzuziehen.
Die Vorstellung, dem Westen würde gelingen, Russland in der Ukraine aufzuhalten oder sogar zum Rückzug zu zwingen, ist naiv und gefährlich. Das nährt auf der Seite der Bellizisten falsche Hoffnungen, die die Eskalationsspirale weiter antreiben könnten. Die Furchtlosigkeit der westlichen Kriegstreiber macht in Russland langsam sogar jene seriösen Experten nervös, die noch vor weniger als einem Jahr Sergei Karaganow zurückgepfiffen haben, als dieser von einem präventiven Nuklearschlag gegen europäische Städte fabuliert hatte.
Beispielsweise ruft der angesehene Politikwissenschaftler und Militärexperte Dmitri Trenin in seinem letzten Artikel die russische Führung eindringlich dazu auf, viel stärker als bislang auf Einschüchterung zu setzen. Russland müsse Entschlossenheit zeigen, seine Drohungen in die Tat umzusetzen.
Russland wird von seinen Zielen nicht abweichen, weil es davon nicht abweichen kann. Russland ist massiv vom Westen bedroht. Der Westen hingegen ist von Russland nicht bedroht, weil der Krieg schon seit zwei Jahren fernab seines Territoriums stattfindet und bislang nicht auf Resteuropa übergesprungen ist. Das gilt allerdings nur, solange er keine neuen Krisen auf den anderen Schauplätzen provoziert.
Die vielen friedensbewegten Experten und Politiker sollten deshalb ihre Einschätzungen angesichts dieser klaren Tatsachen überdenken und von realitätsfernen Versöhnungsfantasien Abstand nehmen. Es kostet nur wertvolle Zeit und Energie, die überflüssigen Illusionen zu verbreiten.
Deshalb mein persönlicher Vorschlag an den geschätzten Herrn Kujat: Fliegen Sie doch nach Moskau und führen Sie selbst Gespräche, um Informationen aus erster Hand zu bekommen. Nehmen Sie andere friedensbewegte Kollegen aus dem Militär mit, bilden Sie eine kleine Delegation und werden Sie damit zum Gesandten.
In Deutschland würde das ganz sicher Folgen haben. Denn wenn in Europa keine Einsicht über die Ernsthaftigkeit der russischen Ziele und die Fähigkeiten, diese Ziele umzusetzen, einkehrt, werden die Europäer auf beiden Seiten der Front bald nur noch die Wahl haben, in einem konventionell geführten Krieg zu Zehntausenden zu sterben – oder in einem Atomkrieg zu Millionen.
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