Von Alexej Danckwardt
In Moskau hat am Dienstag ein Bezirksgericht den Mitbegründer der in Russland inzwischen aufgelösten Organisation "Memorial", Oleg Orlow, zu 2,5 Jahren Haft verurteilt. Der Grund der Verurteilung: ein in Frankreich publizierter Artikel, in dem Orlow die russische Armee unter anderem des "Massenmordes" an Zivilisten in der Ukraine und der Zerstörung der Kultur "dieses wunderbaren Landes" bezichtigte, womit er die Truppen nach Auffassung der Staatsanwaltschaft (und auch nach meiner) diskreditierte.
Wie zu erwarten, ist die Aufregung über dieses Urteil in den westlichen Medien wieder einmal groß. "Bürgerrechtler" und "Menschenrechtsaktivist" nennen sie den Verurteilten. Beides keine Studienfachrichtungen und keine anerkannten Lehrberufe, sondern Titel, mit denen der "Wertewesten" Agenten seiner neokolonialen Interessen "adelt". Ähnlichen Zwecken dient seit einiger Zeit auch der Friedensnobelpreis, der "Memorial" im Jahr 2022 verliehen wurde.
Ich selbst habe die Praxis russischer Gerichte, harte Strafen zu verhängen, kritisiert und werde es weiter tun. So war denn auch meine erste Reaktion auf die Nachricht: "Wozu das schon wieder?" Inzwischen habe ich den umstrittenen Artikel von Orlow gelesen, und mein Ärger über die vermeintliche Härte der russischen Justiz ist verflogen.
Erstmals erschien der Artikel mit dem französischen Titel "Russie: ils voulaient le fascisme, ils l'ont eu" (deutsch: "Russland: Sie wollten den Faschismus, sie haben ihn bekommen") am 13. November 2022 – die anstehende Verleihung des Nobelpreises war da schön öffentlich bekannt geworden – im Debattenblog Le Club de Mediapart. Dies zeigt bereits, dass offenbar keine Redaktion im Wertewesten bereit war, Verantwortung für den pseudophilosophischen, pseudohistorischen und pseudopolitologischen Brei, den Orlow da zusammengebraut hat, zu übernehmen. Im Grunde ist es ein Foreneintrag, den allerdings später die üblichen Verdächtigen für das oppositionelle russische Publikum abdruckten.
Neben der schon erwähnten Diffamierung der russischen Armee behauptet Orlow in dem Artikel, Russland sei faschistisch. Damit gibt er den Kronzeugen für die im Westen verbreitete Diffamierung von ganz Russland und aller Menschen, die gegen den echten Faschismus in der Ukraine eintraten und eintreten.
Orlow ist kein Philosoph, kein Politologe, kein Soziologe, kein Historiker, kein Jurist, und das merkt man. Orlow ist Biologe und ein alter verbohrter Antisowjetschik. Nun ist das für sich genommen kein Hindernis, sich mit der Faschismustheorie zu befassen, nur hat dieser Mann sich offensichtlich nie damit befasst. Er argumentiert oberflächlich und laienhaft.
Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass jede Repression und Einschränkung der Redefreiheit, sogar das Wenige, das Russland seit zwei Jahren anwendet, ausreicht, um "das Regime" faschistisch zu nennen. Dabei müsste der Altdissident es eigentlich besser wissen: Repression gab es auch in der kommunistisch regierten Sowjetunion. Es gab sie in Monarchien, in bourgeoisen Republiken, im alten Rom und in den demokratischen USA. Repression ist kein Exklusivmerkmal des Faschismus.
Doch schauen wir uns Orlows Argumente trotzdem etwas genauer an.
Es gibt, schreibt er, "viele verschiedene Definitionen des Phänomens Faschismus". Die plausibelste, die von Georgi Dimitroff, wird unser Antisowjetschik natürlich nicht nutzen, dafür eine 1995 auf Anweisung von Boris Jelzin erarbeitete:
"Faschismus ist eine Ideologie und Praxis, die die Überlegenheit und Exklusivität einer bestimmten Nation oder Rasse behauptet und darauf abzielt, ethnische Intoleranz zu schüren, die Diskriminierung von Angehörigen anderer Völker zu rechtfertigen, die Demokratie zu leugnen, einen nationalen Führerkult zu etablieren, Gewalt und Terror anzuwenden, um politische Gegner und jede Form von Dissidenz zu unterdrücken und den Krieg als Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte zu rechtfertigen."
Die letzten zwei Kriterien sind keine Exklusivmerkmale des Faschismus und geben daher gar nichts her. Zumal unter den von Orlow selbst ausdrücklich genannten Beispielen faschistischer Staaten ("Österreich vor dem Anschluss, Spanien unter Franco, Portugal unter Salazar") keines einen zwischenstaatlichen Krieg geführt hat, wohingegen die Zahl der von den demokratischen USA geführten Kriege bald dreistellig sein wird.
Aber wie passt das erste Kriterium auf das moderne Russland, den Vielvölkerstaat mit 38 Amtssprachen, 24 nationalen Republiken, 47 als indigen anerkannten Ethnien und Millionen von Migranten aus Zentralasien und der Ukraine? Wenn hier jemand jemals die Überlegenheit und Exklusivität einer bestimmten Nation oder Rasse behauptete, ethnische Intoleranz schürte oder die Diskriminierung von Angehörigen anderer Völker rechtfertigte, dann war es der inzwischen verstorbene Alexei Nawalny. Dieser setzte in Videos Moslems mit Ungeziefer gleich und versprach im offiziellen Wahlprogramm seiner Bewerbung um das Amt des Moskauer Oberbürgermeisters die Vertreibung von Asiaten und Kaukasiern. Putin, die staatlichen Medien und die Mehrheit der russischen Gesellschaft haben sich Derartiges nie geleistet.
Selbst Orlow muss einräumen, dass in Russland die "Überlegenheit der russischen Kultur" nicht "im eigentlichen ethnischen, sondern im imperialen Sinne" propagiert wird. Er lügt auch damit: Nirgends in Russland wird über den normalen Stolz auf kulturelle Leistungen der Vorfahren hinaus eine Überlegenheit der russischen Kultur propagiert. Im Gegenteil, dem Kotau vor der westlichen Kultur und Lebensart wird immer noch viel zu viel Raum eingeräumt. Selbst wenn es so wäre, wie er behauptet, wäre dies nichts anderes als der US-amerikanische "Exzeptionalismus" oder der europäische Europazentrismus. Ist der Stolz auf die eigene Kultur nicht ethnisch, sondern "imperial" (was bedeutet, dass man alle kulturellen Einflüsse, die man integriert hat, wertzuschätzen weiß), dann fällt er schlicht nicht unter die Definition, auf die Orlow sich stützen will.
Ein einziger konkreter Vorwurf kommt in dem Artikel vor:
"Die Leugnung der Existenz des ukrainischen Volkes, der Sprache und der Kultur selbst – all dies ist zur Grundlage der heutigen Staatspropaganda geworden."
Auch das ist eine Lüge: Niemand leugnet in Russland die Existenz der ukrainischen Sprache und Kultur. Wie soll man sie auch leugnen, wenn Ukrainisch in gleich fünf eigenen Föderationssubjekten den Status einer Amtssprache hat?! Was es gibt, ist die Diskussion darüber, ob die ukrainische Ethnie Teil des multiethnischen russischen Volkes ist oder ein eng mit ihm verwandtes Brudervolk. Auch ich bin vor Kurzem darauf eingegangen.
Doch egal, wie man zu beiden Thesen steht, keine von ihnen stiftet zum Hass gegen eine von den Faschisten zum Sündenbock und Wutableiter auserkorene Menschengruppe an. Wenn Ukrainer Brüder sind oder gar mit Russen ein Volk bilden, dann darf man sie genauso wenig hassen, töten oder deportieren wie die Russen selbst – das ist die Botschaft und die Handlungsanweisung, die damit unters Volk gebracht wird. Das genaue Gegenteil dessen also, was Nazis gegen Juden oder Slawen in Vorbereitung auf deren geplante Vernichtung predigten.
Gehen wir noch kurz auf den "nationalen Führerkult" ein. In Russland ist aktuell Wahlkampf, Wladimir Putin stellt sich zur Wiederwahl. Ich habe bis heute kein einziges Plakat mit seinem Antlitz in Moskau gesehen. Kann sein, dass irgendwo welche hängen; an die vor jeder Wahl in Deutschland zu beobachtende Plakatflut reicht das jedenfalls nicht heran. Sieht so Personenkult aus?
Konkret wird Orlow übrigens nicht. Und wer so etwas schreiben muss:
"Was die Verweigerung der Demokratie, den Führerkult und die Unterdrückung von abweichenden Meinungen betrifft, so gibt es nichts zu beweisen, das ist offensichtlich",
der hat schlichtweg keine Beweise für seine Behauptung, keine Substanz, auf die er sie stützen kann.
Nun, all das wäre nichts weiter als Geschwafel, das keine Beachtung wert wäre; dummes Gerede eines wenig intelligenten Menschen, wie es im Internetzeitalter nicht zu vermeiden ist, käme es nicht von einem prominenten Russen, der soeben mit der von ihm geführten Organisation den Friedensnobelpreis erhalten hat. Da es aber von einem solch prominenten Russen kommt und sich an den Westen richtet, der schon mehr als genug mit Russophobie und Russenhass infiziert ist, ist dieses Geschwafel mehr als verantwortungslos. Es gießt Öl ins Feuer und stiftet Hass gegen das gesamte russische Volk und den von ihm konstituierten Staat. Es ist ein prominent platzierter Meineid zur Rechtfertigung der Vernichtung des russischen Volkes und des russischen Staates.
Nicht einfach nur ein Denunziant, ein verleumderischer Kriegstreiber ist Oleg Orlow damit. Einer, dem nach eigenem Bekunden sein Vater am Moskauer Küchentisch den Hass gegen das eigene Land eingepflanzt hatte, und der nicht ruhen wird, bis er es komplett vernichtet hat.
Dass es Orlows Ziel ist, den kollektiven Westen in einen Vernichtungskrieg gegen Russland zu hetzen, spricht der Mann ja auch offen aus:
"Der Sieg der russischen Truppen dort wird den Faschismus in Russland endgültig bewahren. Und umgekehrt …
(...)
Unter diesen Umständen hängt viel von den mittel- und westeuropäischen Ländern ab. Es ist für jeden Menschen mit gesundem Verstand natürlich, Frieden statt Krieg zu wollen. Aber Frieden um jeden Preis? Europa hat bereits versucht, Frieden zu schaffen, indem es einen Aggressor besänftigt. Das katastrophale Ergebnis dieser Versuche ist allgemein bekannt.
Auch jetzt wird ein faschistisches und siegreiches Russland unweigerlich zu einer ernsthaften Bedrohung der Sicherheit werden, nicht nur für seine Nachbarn, sondern für ganz Europa."
Was ist das anderes, als die Aufforderung an die NATO, den Dritten Weltkrieg gegen Russland zu beginnen, verbunden mit einem den Nationalsozialismus relativierenden Hitler-Vergleich? Was ist das anderes, als die Aufforderung, das Töten so lange fortzusetzen, bis Russland nicht mehr existiert, bis wir alle, ich, meine Verwandten, Russen von Kaliningrad bis Kamtschatka, tot sind? Und auch Sie, werter Leser in Deutschland, denn ein Dritter Weltkrieg wird nicht ohne atomaren Schlagabtausch vonstattengehen.
Frieden nicht "um jeden Preis", schreibt er, und meint, nicht um den Preis, dass Russland weiterleben darf.
So sind sie, die Friedensnobelpreisträger unserer Zeit.
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