Von Gert Ewen Ungar
Auf dem Monitor sieht man eine Figur wie aus einem Manga, mit den Gesichtszügen von Annalena Baerbock. Auf dem Bild ist eine Bewegung der Figur angedeutet. Energischen Schrittes bewegt sich die deutsche Außenministerin im Abendkleid durch eine Trümmerlandschaft. "Dreigroschenoper" ist der Titel des Bildes, und der Bericht über Baerbocks Flucht vor einer angeblich russischen Drohne nicht ohne Häme. Ja, man macht sich lustig.
Das russische Fernsehen vergleicht Baerbocks Besuch in Odessa nicht ohne Grund mit der Dreigroschenoper. Baerbock gelingt es immer weniger, das Mitleid der Welt mit der Ukraine zu erregen. Das Land ist bettelarm und auf Hilfe angewiesen, allerdings kennt man die ukrainische Leier schon in- und auswendig. Man ist gelangweilt. Baerbock ersinnt einen Plan. Dramatische Ereignisse, die der Welt die Gefahren vor Augen führen, denen die Ukraine täglich ausgesetzt ist, sollen die Spendenbereitschaft erhöhen. Einmal Luftschutzbunker bitte, das gehört inzwischen zum Repertoire. Ein russischer Drohnenangriff auf die deutsche Politikerin ist die Steigerung in der Dramaturgie, auf die man schließlich zusätzlich zurückgreift. Das ist etwa die Auslegung des russischen Nachrichtenkanal Rossija 24 zu den Vorfällen beim Besuch der deutschen Außenministerin in Odessa und Nikolajew.
Baerbock sei von einer russischen Drohne verfolgt worden, titeln die deutschen Gazetten. "Plötzlich warnte mich Baerbock vor der Russen-Drohne" überschreibt, freilich nicht mit rassistischem Unterton, die Bild-Zeitung ihren Beitrag zum Geschehen. Russen-Drohne, nicht russische Drohne, steht da. Allerdings ist die Geschichte an belegbaren Fakten extrem arm, wird in der am folgenden Tag abgehaltenen Bundespressekonferenz deutlich.
Man habe den Sicherheitskräften vor Ort vertraut, heißt es. Ob es eine große oder kleine Drohne war, weiß Christian Wagner, Sprecher des Auswärtigen Amts, nicht zu sagen. Er war nicht dabei. Zu der Frage, ob man denn die Gegenseite nicht wie üblich über den Besuch informiert habe, will er sich aus strategischen Gründen nicht äußern. Wichtig ist ihm, deutlich zu machen, dass das, was die Außenministerin persönlich erlebt habe, Alltag der Menschen vor Ort sei.
Spätestens bei diesem Satz wird die Kulisse sichtbar und das Surren der Drohne, das man angesichts der Schilderungen gerade noch im Ohr gehabt zu haben glaubte, klingt plötzlich künstlich wie Theaterdonner. Es ist nichts dran an der Geschichte. Der Beitrag auf Rossija 24 (wegen der Zensur in der EU nur mit VPN zugänglich) zerlegt die Mär vom Drohnenangriff auf Baerbock und lässt an tatsächlicher Substanz ungefähr so viel übrig, wie es auch eine genaue Überprüfung des Lebenslaufs von Baerbock ergibt. Das Wesentliche ist frei erfunden.
Nadja Aswad, Journalistin bei der Bild-Zeitung, begleitet Baerbock seit zwei Jahren. So einen Augenblick habe sie noch nie erlebt, schreibt sie in ihrem Bericht über die "Russen-Drohne", die vermutlich mehr eine "Tussen-Drohne" war – allein der Hysterie geschuldet. Worin das Besondere des Moments nun lag, erschließt sich nicht. Baerbock sitzt regelmäßig und ganz medienwirksam in Luftschutzkellern. Danach spricht sie ein paar Worte der Betroffenheit in ihr vorgehaltene Mikrofone und begründet dann, warum der eingeschlagene Kurs der richtige ist. Das gehört zur Propaganda und Inszenierung.
Sie tut es auch dieses Mal. Deutsche Waffen retten Leben, behauptet sie erneut. Der deutsche Journalismus ist in einem Zustand, dass er derartigen Blödsinn kommentarlos, ohne Widerspruch oder auch nur Nachfrage wiedergibt. Bei ihrem Besuch in Israel wurde Baerbock gleich mehrfach mit den örtlichen Bunkern vertraut gemacht, und sie nahm auch das zum Anlass, dort ihre Position deutlich zu machen. Die Hamas trägt die alleinige Verantwortung. Die dramatische Bunker-Inszenierung verstärkt die Message.
Auch Kiew vertraut voll darauf, ausländischen Gästen den Ernst der Lage durch einen erzwungenen Besuch in den örtlichen Schutzeinrichtungen vor Augen zu führen. Die Zuschauer an den Endgeräten dürfen nahezu live daran teilhaben. Wer saß noch nicht für einige Stunden dort fest? Steinmeier, Baerbock, von der Leyen, Borrell… Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Alle sprachen anschließend Worte der Betroffenheit und begründeten damit das "Weiter so" des politischen Kurses.
Natürlich ist das alles Fake und sind das alles Desinformationen. Gäbe es in Deutschland guten und funktionalen Journalismus, würde dies auch schnell entlarvt. In Russland gibt es ihn, in Deutschland ist er eher eine Randerscheinung. Wenn es in Kiew doch so gefährlich ist, warum geben sich dann Politiker dort die Klinke in die Hand?
Trotz der enormen Gefahr hielten die Außenminister der EU ihre erste Tagung außerhalb der EU ausgerechnet in Kiew ab. 27 auf einen Streich, hätte es heißen können. Russland hätte es sich im Oktober 2023 so einfach machen können, und hat es nicht getan. Moskau wartet ab, bis die deutsche Außenministerin erneut allein in die Ukraine reist und stellt ihr dann mit einer Drohne nach. In Deutschland behauptet man, Jagd auf westliche Politiker zu machen, sei eine russische Kriegsstrategie. Solch einen Unsinn in die Welt zu setzen ist schlicht unseriös und damit ein Armutszeugnis für den deutschen Journalismus.
Das wirklich Schlimme an all dem propagandistischen Blödsinn ist aber, dass er bei vielen deutschen Medienkonsumenten verfängt. Das zeigt vor allem eins: Medienkritische Kompetenz ist keine Stärke der Deutschen. Vor allem bei den Jüngeren fehlt es an jedem gesunden Misstrauen gegenüber den eigenen, den deutschen Medien. Man kann vielen von ihnen eigentlich alles erzählen, und sie nehmen es kritiklos hin. Selbst eine Inszenierung, laut der der Kreml mit einer Drohne Jagd auf die deutsche Außenministerin macht und sie nur knapp entkommt, wird einfach geschluckt. Das ist die eigentliche Tragik der Geschichte.
Mehr zum Thema – Auswärtiges Amt behauptet: Baerbocks Delegation von russischer Drohne überrascht