Von Sergei Strokan
Der Verlust von Awdejewka wurde nicht nur für Kiew zu einer verheerenden moralischen und strategischen Niederlage, sondern auch für dessen westliche Verbündeten zu einem schweren Schlag. Das ist zwar noch kein K.-o.-Schlag, aber immerhin ein Zu-Boden-Gehen samt einer kollektiven euroatlantischen Gehirnerschütterung.
Dieses vernebelte Hirn versucht, eine Lösung zu finden und der sich im Niedergang befindenden Ukraine zu helfen. Doch parallel zu dieser Suche kommen Kiews Unterstützer zur – wenn auch nicht zur Schau getragenen – Erkenntnis, dass dies nicht möglich ist.
Welche Veränderung bringt der symbolträchtige Verlust von Awdejewka in Kiews Beziehungen zu seinen westlichen Verbündeten und in deren Beziehungen untereinander? Zwei Schlüsse können heute schon gezogen werden.
Erstens verwandelt sich die Unterstützung der Ukraine zwei Jahre nach dem Beginn der russischen Militäroperation für den Westen in eine Art Rollenspiel. Bei diesem Spiel ist es für Kiews Verbündete das Wichtigste, die Realitäten im Kampfgebiet nicht anzuerkennen, die Kosten einer weiteren Teilnahme am Ukraine-Konflikt zu minimieren und eine eigene geopolitische Niederlage zu vermeiden.
Zweitens kommt man nicht umhin, zu bemerken, dass die von US-Präsident Joe Biden zum Kampf gegen Russland erschaffene Koalition des Westens allmählich zerbricht. Der US-amerikanische und der europäische Flügel dieser Koalition beginnen, jeweils ein eigenes Leben zu führen, und gemeinsam werden diese zwei schwächelnden Flügel nicht mehr fliegen. Im Lager der westlichen Verbündeten herrschen bei aller vorgeblichen Einigkeit Irrungen und Wirrungen.
Nachdem Biden Awdejewka bei einem Telefongespräch mit Wladimir Selenskij besprochen hatte, veröffentlichte der Pressedienst des Weißen Hauses eine Erklärung. Darin heißt es, dass weder die ukrainische Armee noch die US-Administration am Geschehenen schuld seien, sondern der tatenlos gebliebene US-Kongress. Die Schlussfolgerung sei, dass US-amerikanische Abgeordnete, die den Gesetzentwurf über die milliardenschwere Finanzierung der Ukraine immer noch nicht gebilligt hatten, ihren Fehler berichtigen müssen, solange es noch nicht zu spät ist. Doch das Repräsentantenhaus, das sich bis zum 28. Februar in den Urlaub begab, hat es offensichtlich nicht sehr eilig.
In dieser Lage versuchen die europäischen Verbündeten, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass sie die Ukraine möglicherweise ohne die USA weiter unterstützen müssen. Doch an dieser Etappe kommt es zu einer weiteren Spaltung – diesmal schon unter den Europäern, denn sie haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was zu tun sei. So behauptete Tschechiens Präsident Petr Pavel, dass sein Land die Möglichkeit gefunden habe, für das ukrainische Militär Hunderttausende Artilleriegeschosse in Drittländern zu kaufen. Doch dazu werde Geld benötigt, das nicht da ist. Zuvor hatte die Zeitung Politico berichtet, dass Tschechien darüber unzufrieden war, dass die EU ihr Versprechen, Kiew zwischen März 2023 und März 2024 eine Million Geschosse zu liefern, nicht gehalten hatte. Prag forderte von Brüssel, auf der ganzen Welt – von Südkorea bis Südafrika – Munition für die Ukraine einzukaufen.
Doch diese Forderung steht im Widerspruch zur Absicht der EU-Führung, bei der Hilfe für die Ukraine Mittel nicht zu weltweiten Waffenkäufen, sondern zur Finanzierung der europäischen Rüstungsindustrie zu finden. In diesem Stimmenchor forderte Griechenlands Ministerpräsident Kiriakos Mitsotakis, die Ordnung der nach seinen Worten "zersplitterten" europäischen Rüstungsindustrie zu einer Priorität zu machen.
Seinerseits räumte der österreichische General Peter Vorhofer in einem Interview mit Die Presse ein, dass Europas Rüstungsindustrie mit dem russischen militärisch-industriellen Komplex in dem sich abzeichnenden "Krieg der Lagerhäuser" beim Produktionstempo noch nicht mithalten kann. All diese Widersprüche der westlichen Verbündeten traten vor dem Hintergrund des Verlusts von Awdejewka durch Kiew offen zutage und drohen zu einem eigenen Fiasko für den Westen zu werden.
Übersetzt aus dem Russischen.
Sergei Strokan ist Dichter, Journalist und Moderator von Talkshows auf staatlichen Fernsehsendern. Er wurde in der Ukraine in der Stadt Nowomoskowsk in der Region Dnjepropetrowsk geboren. Im Jahr 1982 schloss er sein Studium am Institut für Asien- und Afrikastudien der Staatlichen Universität Moskau als Orientalist-Philologe ab. Danach arbeitete er in der Asien-Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften, dann als Sonderkorrespondent für die Wochenzeitung Moscow News und auch als Leiter der Abteilung für auswärtige Angelegenheiten der sozialen und politischen Zeitschrift Itogi. Derzeit ist er Kolumnist bei der Zeitung Kommersant.
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