Von Wladislaw Sankin
Julia Nawalnaja redet zu ihrer Anhängerschaft aus dem Halbdunkeln. Ihr Gesicht ist nur leicht von Lampen angestrahlt, die Schminke dezent, die Stimme leise. Im perfekt einstudierten Ton verkündet sie, dass sie die Sache ihres Mannes, des professionellen Kreml-Gegners Alexei Nawalny, den Kampf für ein "freies Russland", von nun an übernehmen wird. Er ist drei Tage zuvor in einem Lager in der sibirischen Region Jamalo-Nenzen plötzlich gestorben. Sie will bald Beweise dafür vorlegen, dass Alexei Nawalny auf Befehl Wladimir Putins ermordet wurde, verspricht sie. Mit allen Details.
"Wir sagen euch, wer genau und wie dieses Verbrechen ausgeführt hat. Wir werden Namen nennen und Gesichter zeigen."
Die Videoansprache ist ganz nach den Regeln der psychologischen Kriegsführung formuliert. Nawalnaja wiederholt elfmal, dass Putin Alexei getötet habe. Am Ende spricht sie von Wut, die vermehrt werden müsse.
"Ich bitte Euch, meine Wut zu teilen. Wut, Ärger, Hass auf diejenigen, die es gewagt haben, unsere Zukunft zu zerstören."
Hass soll die Anhängerschaft zementieren und zum Handeln anstacheln. Ob er eines natürlichen Todes gestorben ist oder infolge eines Auftragsmordes, spielt keine Rolle, fortan ist Nawalny ein Märtyrer, dessen Figur zum Kampf mobilisieren soll. Seine Jünger schwören Rache.
"Mir ist heute klar geworden, dass Putin mich zu hassen gelehrt hat. Diese Kreml-Hure ist der Grund, warum ich Hass empfinde. Ich hoffe, dass ihr sie genauso hasst, wie ich und wir diesen Hass zu einer Kraft werden lassen, die diese Drecksäcke hinwegfegen wird. Wir werden uns für Alexei rächen."
Das sagt einer der Demonstranten vor der russischen Botschaft im georgischen Tiflis. Wie auch in anderen Hauptstädten, wo viele junge russische "Relokanten" jetzt leben, finden in diesen Tagen spontane Gedenkkundgebungen statt. Die Menge, die fast ausschließlich aus jungen mittelständischen Städtern besteht, ruft: "Putin, verrecke"! Der Hass gilt auch dem russischen Volk. "Mörder. Scheiß-Kreml und Russen-Gesindel", schreibt einer der Demonstranten auf sein Plakat. Die Mehrheit der Russen hegt indes keinerlei Sympathie für den Kampf Alexei Nawalnys, hielt den charismatischen Populisten für einen Hassprediger und Agenten des Westens und wird voraussichtlich bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zum wiederholten Male wieder Wladimir Putin wählen. Dieses Gesindel, es hat in den Augen der Nawalnysten keine bessere Bezeichnung verdient.
Da das weit verzweigte Nawalny-Netzwerk die Massen für einen Umsturz im Maidan-Stil zu mobilisieren suchte, waren seine Organisationen von der Justiz als extremistisch eingestuft worden. Eine Anhängerin Nawalnys, Darja Trepowa, wurde bereits zum Werkzeug ukrainischer Spiezialdienste und tötete in deren Auftrag den Militärblogger Wladlen Tatarski. Der Hass ist ein gutes Aktivum auf der politischen Tauschbörse. Er entzweit die Gesellschaften und zersetzt die Staaten von innen.
Dieses Aktivum hofft der Westen nun mit dem toten Alexei Nawalny endlich fest in die Hand zu bekommen. Julia Nawalnaja ist bestens dafür geeignet, dieses giftige "Kapital" beständig neu zu generieren. Nur wenige Minuten nach Bekanntgabe der Meldung über den Tod ihres Mannes stand sie schon auf dem Podium der Hauptbühne der Münchner Sicherheitskonferenz und drohte "Putin und seinen Schergen" mit Strafen in geradezu biblischem Ausmaß. Alle Welt müsse sich gegen Putin vereinigen, verlangte sie.
Mit "aller Welt" sind allerdings Berlin, Brüssel, Washington und ein paar andere westliche Hauptstädte gemeint – die Nawalny-Jünger folgen streng den westlich-rassistischen Vorgaben, indem sie die Mehrheit der Weltbevölkerung als zähe schweigende Masse für sich verbuchen. Kein Wunder also, dass Nawalnaja ihren ersten Termin am Montag gleich in Brüssel im Büro von EU-Ratspräsident Charles Michel absolvierte. Sie und ein anderer Nawalny-Vertrauter, Leonid Wolkow, der vor kurzem im Focus die "Vernichtung Putins" forderte, trafen sich auch mit "Dschungel"-Joseph Borell. Auch die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen empfing sie persönlich. "Wir werden keine Mühen scheuen, um die russische politische Führung und die russischen Behörden zur Rechenschaft zu ziehen", wiederholte von der Leyen fast wortwörtlich die Drohung Nawalnajas, die ihr angeblich so "spontan" auf der Münchner Sicherheitskonferenz einfiel.
Wir wollen "ein starkes Signal der Unterstützung für die Freiheitskämpfer in Russland senden", ließ Charles Michels Sprecherin der Presse ausrichten. Freiheitskämpfer – das ist ein Begriff aus dem Bürgerkriegs-Vokabular. Tschetschenische Terroristen, die ein ganzes Jahrzehnt in ganz Russland wüteten und dutzende blutige Anschläge verübt haben, waren in den Augen des Westens ebenfalls Freiheitskämpfer.
Auch für Berlin ist die Nawalny-Sache wieder eine gute Gelegenheit gegenüber Russland herrschaftlich zu werden. Am Montag bestellte das Auswärtige Amt den Botschafter der Russischen Föderation, Sergei Netschajew, ein um von Russland zu fordern, den Leichnam Nawalnys an die Familie zu übergeben. Auch hat die EU, ausgerechnet auf den Vorschlag Baerbocks hin, wegen Nawalny "weitere Sanktionsmaßnahmen auf den Weg" gebracht. Spätestens seit der Einlieferung in der Berliner Klinik Charité in August 2020 fühlt sich Berlin für die russische Opposition zuständig und sieht die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands als sein natürliches Recht.
Julia Nawalnaja steht am Anfang ihrer neuen Karriere als legitime Vertreterin eines vom Westen gewünschten Russlands als biegsames Marionetten-Regime. Mit einem einfachen Geschäft: Der von den verärgerten Nawalny-Jüngern generierte Hass und die Rachegelüste werden gegen finanzielle Unterstürzung und das diplomatische Hofieren bei den ganz, ganz Großen eingetauscht. Dieser Hass wird in die westliche Presse und Politik transportiert und im Rahmen der psychologischen Kriegsführung gegen Russland verwendet. Dass sie diese künftige Rolle gar nicht so schlecht findet, zeigte Nawalnaja mit einem kurzen Lächeln, das sie selbst als trauernde Witwe am Redner-Pult der Münchner SiKo kaum zu unterdrücken vermochte.
Julia Nawalnaja, die laut ihrer Ex-Sekretärin ihrem Ehemann seit langem nicht mehr treu war und mit mehreren reichen und bekannten Männern aus Nawalnys Umfeld regelmäßig auf Luxus-Reisen ging, war und wird wohl auch keine echte Politikerin. Aber viel wird von ihr seitens des Westens ja auch nicht verlangt. Zu einem einigermaßen glamourösen "General" auf der Hochzeit, auf der Russland in Abwesenheit immer wieder mit "Freiheit" und "schöner Zukunft" vermählt wird, und als Phrasendrescherin für die "richtigen" Worte zum gegebenen Anlass schafft sie es allemal.
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