Von Jewgeni Krutikow
Gefechtslage in Awdejewka
Am Mittwoch, dem 07. Februar 2024, brachen Einheiten der russischen Armee in die Stadtmitte Awdejewkas durch – in die Tiefe der Wohnviertel. Hierfür wurde die Verteidigung des Gegners an einer unerwarteten Stelle zum Zusammenbruch gebracht, ähnlich wie zuvor beim Befestigten Raum auf dem Gelände des Erholungs- und Landresorts Zarskaja Ochota am südlichen Stadtrand Awdejewkas.
Die 30. Samaraer Motschützenbrigade der 2. Armee der verbundenen Waffen sowie Sturmeinheiten der 114. Brigade (auf Grundlage des Bataillons Wostok aufgebaut) stoßen vor, im Bestreben, das längliche Awdejewka an einer der schmalsten Stellen entzweizuschneiden.
Awdejewka zieht sich wie ein Schlauch vom Nordwesten in den Südosten und wird von längs verlaufenden Eisenbahngleisen ungefähr in der Mitte in zwei Hälften geteilt. Die westliche Hälfte ist dabei deutlich schmaler und etwas kürzer sowie in den Norden versetzt.
Russlands Militär nahm die Überführung einer Kraftfahrstraße über den Hauptzweig der Gleise südwestlich des Awdejewkaer Koks-Chemie-Kombinats im Sturm und rückte weiter vor, um sein so geschaffenes Aufmarschgebiet zu vergrößern. Die Offensivaktion erfasste zweieinhalb Kilometer Breite entlang der Front und bis zu einem Kilometer in die Fronttiefe. Häuserkampf entbrannte in der Tschistjakow-Straße (die nächstnördliche am Gleisbett), Sapronow-Straße, Lesja-Ukrainka-Straße, Stepnaja-Straße und in der Straße des 1. Mai.
Gegenangriffe ukrainischer Einheiten blieben erfolglos. Bis zur Hauptversorgungsader des ukrainischen Aufgebots in Awdejewka, dem Industrialny Prospekt, bleiben rund 400 Meter. Diese gilt es nun, durch zerstörte Lagerhallen und Nebengebäude des Bahnhofs Awdejewka zurückzulegen. Auch den Norden der gefluteten Sandgrube Golubyje Osjora nahmen russische Einheiten unter ihre Kontrolle. Westlich der Grube befreiten sie die Gärtnereien- und Datschengemeinschaft Iwuschka vom ukrainischen Militär, womit sie in die Nähe der Straße der Unabhängigkeit, ehemals Sowetskaja, vorstießen. Von dieser aber ist es nur ein Katzensprung zum sogenannten alten Awdejewka.
Aus obigem ergibt sich, dass das Koks-Chemie-Kombinat vom Großteil der Wohngebiete Awdejewkas abgeschnitten wird. Landkarten zeigen übrigens: Das Gelände des Kombinats ist nahezu so groß wie der Rest der Stadt – nur ist das Gelände eben fast quadratisch, anders als die längliche Stadt.
In der Folge ist die ukrainische Garnison in der Stadt ihrer Versorgung beraubt. Aktuell sind die Hauptkräfte der Garnison in einer Hochbau-Wohngegend im Stadtbezirk Chimik konzentriert, dessen Beschaffenheit sowohl das niedrigbebaute Stadtzentrum kontrollieren lässt als auch die Steppe südlich und südwestlich der Stadt. Der letztgenannte Umstand stört das russische Aufgebot bei der Siedlung Sewernoje südwestlich von Awdejewka an weiterem Vorrücken.
Außerdem hält das ukrainische Militär weiterhin seine "alten" großen Wehrkerne außerhalb Awdejewkas. Südlich der Stadt sind dies Tscheburaschka an der Landstraßenkreuzung sowie der ehemalige Luftabwehrstützpunkt Zenit, aus denen ein großer Teil der Kräfte kurz nach dem ersten russischen Durchbruch bei Zarskaja Ochota in den Norden abgezogen wurde.
Ein Beispiel südöstlich der Stadt ist das Wasseraufbereitungswerk Donezk.
Wie groß oder wie klein die jeweiligen Garnisonen dieser Wehrkerne sein könnten, ist aktuell nur sehr schwer einschätzbar. Überhaupt ist die Bewegung ukrainischer Truppen innerhalb Awdejewkas sowie zwischen der Stadt und der Außenwelt momentan nur nachts und in kleinen Gruppen möglich – weswegen einfach keine vollwertige Ablösung oder Verstärkung möglich ist.
Zusammenfassend sehen wir bedeutende Fortschritte und Geländegewinne russischer Truppen in Awdejewka.
Lageentwicklung zwischen zwei Durchbrüchen
Nach dem Durchbruch bei Zarskaja Ochota hatte sich für etwa zwei Wochen relative Flaute eingestellt. In diesen zwei Wochen bemühte sich das ukrainische Militär um jeden Preis, die russischen Einheiten aus der Gegend um die Sobornaja-Straße wieder zu verdrängen und sich dem Erholungs- und Landresort Zarskaja Ochota wieder anzunähern. Die ukrainischen Verstärkungstrupps konzentrierten sich im Stadtbezirk Chimik, um von dort nachts in kleinen Gruppen weiter gen Süden auszurücken. Sie wurden noch vor Erreichen der zu verstärkenden Stellungen zerschlagen, während Ziele in Chimik ständig vom russischen Militär mit schwerer Artillerie und aus der Luft mit Bomben traktiert wurden.
Im Ergebnis besagter zweier Wochen trugen die ukrainischen Aufgebote in der Stadt ebenso wie die von Westen her zu Hilfe eilenden Einheiten riesige Verluste davon. Das Offensivpotenzial des ukrainischen Militärs wurde am Brennpunkt Awdejewka in Dutzenden von sinnlosen Gegenangriffen vollständig ausgeschöpft, woraufhin es allerorten zur Verteidigung überging.
Sprich, es galt nur ein wenig abzuwarten. Taktische Pausen sind ein sehr wirkungsvoller Kniff, wenn man ihn beherrscht. Und die russische Armee setzt ihn nicht zum ersten Mal ein. Nun wurde in zwei Wochen der Plan einer Offensivaktion ausgearbeitet – einer Offensivaktion an einem Stückchen Front, das das ukrainische Kommando für undurchdringbar hielt.
Zu einer echten, ringsum verstärkten Festung hat das ukrainische Militär nur das Koks-Chemie-Kombinat Awdejewka gemacht, während der Rest der Stadt nur mit großen Wehrkernen oder kleineren Befestigten Räumen außerhalb bebauter Gebiete verteidigt wird. Als einer davon galten die Ufer der gefluteten Sandgrube Golubyje Osjora, von wo aus das Gebiet verteidigt werden sollte, in dem der zweite Durchbruch des russischen Militärs stattfand. Sprich, nach der Logik des ukrainischen Kommandos hätte Russlands Militär zuerst das Hindernis der Wehrkerne an der Sandgrube ausräumen und erst danach ans Vorrücken ins Stadtgebiet denken müssen. Stattdessen kehrten die russischen Streitkräfte diese Logik um.
Listige Brutalität oder brutale List?
Mehrere Tage am Stück ließen sie den Boden unter den Füßen ihres Gegners brennen, an den Ufern und von dort in Richtung der Stadtmitte, und rückten anschließend vor. Doch das Vorrücken wurde nicht mittels einer klassischen Feuerwalze bewerkstelligt, sondern mit hochpräzisen Angriffen schwerer Waffen und Gleitbomben, die im ukrainischen Militär enorm gefürchtet sind.
Ukrainische Quellen selbst stellen fest, dass die Angriffe der russischen Luftwaffe und schwerer Artillerie während des Durchbruchs außerordentlich präzise waren.
Anschließend wurden Sturmtrupps in den Durchbruch geleitet. Diese stellen die wichtigste Schlagkraft an allen Frontabschnitten. Ihr Vorrücken in die Fronttiefe wurde von Panzern unterstützt, die zudem die analoge Unterstützung der Verteidiger unterbanden. So geschehen zum Beispiel, als das ukrainische Kommando in Reserven zurückgehaltene Panzer vom Industrialny Prospekt und vom Westrand des Kokerei-Geländes in den Kampf schickte.
Besonders wichtig war die Hochstraße, die über das einzige, aber äußerst wirksame Hindernis vor dem Industrialny Prospekt führt – die Eisenbahngleise. Und die Sturmtrupps nahmen sie, nunja, im Sturm. Und zwar sofort und unbeschädigt. Der Gegner war zerstreut und unterdrückt und er schaffte es nicht rechtzeitig, die Hochstraße zu sprengen. Danach weiteten die russischen Sturmtrupps das so freigekämpfte Aufmarschgebiet aus, sodass sie Verstärkung empfangen konnten. Erst dann begann man im Hinterland (von der russischen Seite der Front gesehen) des Durchbruchs mit dem Säubern des Geländes in und um den Datschenverein Iwuschka vom Gegner und mit weiteren Aktionen zur Einnahme des nördlichen Teils der Sandgrube.
Jede Sturmoperation ist für sich schon eine Heldentat. Doch dieser Durchbruch zur Stadtmitte Awdejewkas war noch bis ins kleinste Detail durchdacht.
Beginnen wir mit der Wiederholung dessen, dass das ukrainische Kommando dieses Stückchen Front für völlig ungefährlich hielt und man es auch noch zwei Wochen lang dahingehend desinformieren konnte, dass es an diesem Irrglauben festhielt.
Dann war da die Arbeit der Aufklärer auf dem Boden wie in der Luft, die Zielkoordinaten für Angriffe mit Artillerie und Gleitbomben sammelten.
Und schließlich rückten Sturmtrupps aus, formiert aus vollends furchtlosen Männern, denn dies war ein doch recht altmodischer Angriff auf Stellungen des Gegners. Gut, die Stellungen waren zwar gut ausgekundschaftet und daher von Artillerie und Luftwaffe gehörig ramponiert, dennoch es war ein Häuserkampf in einem Niedrigbau-Wohngebiet, durch das sich ein völlig aufgedrehter Gegner bewegte und in dem von jedem Kellerfenster Gefahr ausging.
Russische Sturmtrupps werden langsam zu einer Elite der Infanterie, ganz gleich zu welcher Einheit, Brigade, ja, Waffengattung oder gar Teilstreitkraft sie jeweils gehören: Hinter jedem Frontbericht von einem Durchbruch, selbst von einem kleinen russischen Geländegewinn irgendwo in Georgijewka, Nowomichailowka oder Bogdanowka stehen auch immer harte Arbeit und Heldentum gerade der Sturmtrupps.
Das Gesagte soll die Verdienste aller anderen Einheiten und Spezialisierungen im russischen Militär keineswegs kleinreden, die ebenfalls an derartigen Aktionen teilnehmen. Nehmen wir allein die Sprengmeister, die vor dem Durchbruch die Minenfelder auf dem Gelände des Datschenvereins Iwuschka wirksam unschädlich machten. Doch Sturmtrupps sind eine sehr spezifische Truppengattung, die erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg vor unseren Augen neu geformt wird.
Und unter den Bedingungen moderner Konflikte, wenn die Zusammenwirkung zwischen den Teilstreitkräften und Waffengattungen so engmaschig sein muss, wie es nur irgend geht, werden gerade Sturmtrupps zur Spitze des Speeres, dessen erfolgreicher Stoß zum Sieg führen soll und dessen Schaft alle anderen Waffengattungen gemeinsam halten.
Awdejewkas Verteidigung ist derweil schwer angeschlagen, doch das ukrainische Aufgebot dort ist noch widerstandsfähig und die Kontrolle über dortige Einheiten hat das ukrainische Kommando noch nicht verloren. Das offensichtlichste Ziel, mit dem der Durchbruch weiter ausgebaut wird, ist das Kappen der Versorgung der ukrainischen Truppen in den Wohngebieten in Awdejewka entlang des Industrialny Prospekt.
Russlands Militärkommando hat gezeigt, dass es unerwartete Aktionen an unerwarteten Stellen organisieren kann. Und jeder Vorstoß wird von Sturmtrupps angeführt, aufgestellt aus Soldaten im besten Alter von 35 bis 40 Lebensjahren mit hoher Kampferfahrung. Eine unaufhaltsame Kombination.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.