Von Wladislaw Sankin
"Das, wovon der Präsident spricht, wenn er uns in die historische Realität zurückbringt, sollte kein akademisches Wissen in unseren Köpfen sein, sondern akuter Schmerz in unseren Herzen", schrieb ein als Telegram-Blogger bekannter Front-Kommandeur zum Putin-Interview mit Tucker Carlson. Seit 2014 befehligt er in der Donezker Volksrepublik das Bataillon "Wostok" und gilt als Philosoph unter den Kriegern. In seinem Text geht es um die Rückeroberung der von der Russischen Welt so schnell und schmerzvoll abgespalteten Ukraine, darum, ob die Russen aus Belgorod Donezk oder Cherson wieder als Teil Russlands auch in ihren Herzen ansehen. Im Zuge seiner weiteren Ausführungen stellt er sich folgende Frage:
"Wovon sollen wir ausgehen: Von der Wahrheit, die über Jahrhunderte hinweg entstanden ist, oder von situativen Gefühlen, die von der Polittechnologie erzeugt wurden, um die Bedürfnisse einer Minderheit zu befriedigen?" Die "Wahrheit der Jahrhunderte" ist der Verlauf der russischen Geschichte, die im 9. Jahrhundert in Nowgorod und Kiew ihren Lauf nahm und über dramatische Wendungen, Verluste und Siege dazu führt, dass Russland zum größten Land der Erde wird, mit 80 föderalen Subjekten, dutzenden Völkerschaften, Sprachen und großen Gemeinden aus allen Weltreligionen – wie Carlson es in seiner Nachbetrachtung selbst anmerkt. Er stellt sich die Frage, um gleich selbst auf sie die Antwort zu geben:
"Haben wir, als Geschöpfe dieser Zeit, das Recht zu entscheiden und zu urteilen? Was mich betrifft, haben wir das. Wir haben es, weil wir danach streben, unsere Existenz auf das Ewige zu gründen und nicht auf das Situative, das uns unser verantwortungsloses Konsumzeitalter diktiert."
So kommen Putins Ausführungen über russische Gebiete auf dem Territorium eines anderen, international anerkannten Landes dort an, wo im Endeffekt der Ausgang des Krieges um diese Gebiete entschieden wird, nämlich an der Front. Und so oder ähnlich fühlen und denken viele Millionen von Russen im In- und Ausland. Am Ende des Interviews spricht Putin von der gemeinsamen Seele der Russen und Ukrainer, die jede Entzweiung überstehen wird. Diese Passage wird vom Westen, dem von Putin an anderer Stelle "die Seele des Pragmatismus" bescheinigt wird, übersehen. Zumindest geht niemand in westlichen Kommentaren darauf ein. Ein Staatschef, der "langweilige" geschichtliche Referate hält und von der Seele spricht? Lächerlich! Paradebeispiel für diese Wahrnehmung ist ein ARD-Kurzkommentar, der nur den Titel trägt "Einfach ignorieren":
"Doch auch Putin hat wenig aus der Chance gemacht, Botschaften im Westen zu platzieren. Sein fast einstündiger Geschichtsmonolog dürfte viele Nutzer abschrecken, das Video bis zum Ende weiter zu gucken. Wer will sich schon mit der mittelalterlichen Geschichte auf dem Territorium der Ukraine im Detail beschäftigen?
Putin wirkt wie ein weltfremder Staatenlenker, der sich in seinem historischen Narrativ verrannt hat – ohne Interesse für das Wohlergehen der Menschen in der Ukraine und in Russland. Einmal mehr wird klar, dass Putin nur an einer historischen Mission interessiert ist."
Da übersieht Tagesschau das Wesentlichste. Putin hat viele Botschaften platziert. Die wichtigste ist: "Unsere (un)geliebten Partner, wir leben in der Geschichte, alles ändert sich und es gibt keine Garantie, dass das, was heute Bestand hat, morgen noch bleibt – zum Beispiel eure weltweite Dominanz." Er erinnert an das einst unbesiegbare Römische Reich, das infolge einer hundertjährigen Zersetzung verschwand. Die westlichen sprechenden Köpfe – ob Biden oder Scholz – spielen keine Rolle, wichtig sind diejenigen, die Biden und Scholz ins Feld schicken, von den Finanz-Eliten im Hintergrund bis zu den einzelnen Wählern, die ihren Wahlversprechen lauschen. Wichtig sind alle Einwohner der "Goldenen Milliarde", wie Putin sich pflegt auszudrücken.
Ob die Botschaft angekommen ist, wird sich noch zeigen. Aber schon heute ist eines klar: Durch das Tucker Carlson Network ist eine Art Parallelpolitik entstanden, die darauf abzielt, einen möglichen nuklearen Weltenbrand zu verhindern und eine neue Abmachung zwischen den Weltmächten zu erzielen, eine Art Jalta 2.0. Eine Milliarde Zugriffe zeigen, dass dieses Gespräch ganz ohne Beteiligung der westlichen Medien nun bereits weltweit ausgetragen werden kann. Wenn es diese Medien in ihrer Selbstgefälligkeit nicht verstehen, sind sie nun selbst schuld.
Warum ausgerechnet Putins geschichtliche Lehrstunde im Westen missverstanden wurde, hat der Publizist und Buchautor Hermann Ploppa in seinem Interview mit der Journalistin und Songwriterin Paula P'Cay treffend erklärt. Hier ist sein vollständiges Zitat:
"Wir Westler sind ahistorisch geworden, wie bei Huxley in der 'Schönen Neuen Welt', wie Mumpitz. Uns wurde es ausgetrieben unsere Wurzeln noch zu kennen. Demgegenüber sind die Russen und noch vielmehr die Chinesen sehr geschichtsbewusst und sehen sich als Bestandteil einer jahrhunderte- bzw. jahrtausendealten Entwicklung, von dem sie ein kleiner Teil sind und darauf noch stolz sind. Für die westlichen Leute mit ihren Mumpitz ist es gar nicht cool."
Vor allem im Land, wo es zuletzt die Versuche gab, den Namen "Preußen" aus der Öffentlichkeit zu verbannen, kann diese langatmige Beschäftigung mit historischen Wurzeln nicht nur als "uncool" erscheinen, sondern auch als gefährlich. Wo es so einfach ist, die unermesslichen Leistungen einer Millionenarmee bei der Zerschlagung des menschenfeindlichen Hitler-Regimes durch eine einfache Nicht-Erwähnung vergessen zu lassen oder 40 Jahre DDR-Geschichte als "Irrtum" zu canceln – die Liste solcher "Leistungen" in Sachen Revisionismus oder Cancelling kann fortgesetzt werden. Die Menschen ohne Wurzeln sind am einfachsten zu manipulieren – die Ukrainer, gestrige Russen, die innerhalb einer Generation zu einer Söldner-Armee der fernen Mächte degradiert sind, sind ein Parade-Beispiel dafür.
"Aber da müssen sie durch", wendet sich Ploppa an Westler und lacht. Er ist zuversichtlich, dass für den Westen kein Weg daran vorbei geht, sich an die neuen Verhältnisse in der Welt anzupassen und "in die Geschichte zurückzukehren". Die Geschichte auf dem eurasischen Kontinent beginnt wieder zu atmen.
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