Von Rüdiger Rauls
Deutschland demonstriert gegen Rechts, aber Deutschland wählt auch rechts. Wer und was aber ist rechts, und wie populistisch sind jene, die gegen Populismus demonstrieren? Brandmauern gegen die AfD sollten das Abgleiten der Gesellschaft nach rechts verhindern. Sie haben den Zerfall der Parteienlandschaft eher beschleunigt. Der Alltag der Menschen aber ist nicht leichter geworden.
Bürgerliche Doppelmoral
Was heute als rechts gilt, ist längst beliebig geworden, meist inhaltsleer, weitgehend an Äußerlichkeiten und immer öfter an mehr oder weniger persönlichen Interessen und Vorteilen orientiert. Bei dem inflationären Gebrauch der Begriffe "rechts" oder gar "faschistisch" könnte man meinen, dass es heute in Deutschland mehr Nazis gibt als nach dem Zweiten Weltkrieg. Selbst die CDU stimmt in den Chor all jener ein, die überall Rassismus und rechtes Gedankengut zu erkennen glauben.
Aber gerade an ihr offenbart sich die Doppelmoral dieses scheinbaren Antifaschismus. Einerseits beteiligt sie sich an Demonstrationen, andererseits waren einige ihrer Mitglieder selbst an dem Treffen angeblicher Verschwörer von rechts in Potsdam beteiligt. Und war es nicht gerade die CDU, die nach dem Krieg alten Nazis eine neue Heimat gab und schützend die Hand über sie in Politik, Verwaltung und Justiz gehalten hatte?
Hat sie vergessen, dass unter ihrem Bundeskanzler Konrad Adenauer bereits 1950 schon wieder jene verfolgt wurden, die erst wenige Jahre zuvor aus den Konzentrationslagern der Nazis entlassen worden waren? Allein schon die Mitgliedschaft in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) wurde für unvereinbar erklärt mit einer Anstellung im öffentlichen Dienst. Ihre Mitglieder "wurden vom Inlandsgeheimdienst observiert oder konnten von der Polizei auch an einem privatwirtschaftlichen Arbeitsplatz festgenommen, erkennungsdienstlich behandelt und entlassen werden, ohne dass das Ermittlungsverfahren mehr als die Mitgliedschaft in der VVN ergeben hatte".
Wie ernst zu nehmen ist dieser heute zur Schau gestellte Antifaschismus der CDU? Unter ihrer Regierungszeit hatte es bis in die 1960er Jahre gedauert, bis mit dem Auschwitz-Prozess das erste große Verfahren der westdeutschen Justiz gegen Verantwortliche des Massenmordes angelaufen war. Heute hat Gevatter Tod das Problem der Alt-Nazis und ihrer Unterstützer erledigt, sodass die CDU sich jetzt unter großem propagandistischen Getöse antifaschistisch geben kann, ohne als Heuchler dazustehen.
Bei jenen Leuten, die an den Kundgebungen gegen Rechts teilnehmen, ist der Vorwurf der Heuchelei sicherlich fehl am Platze. Sie sind überzeugt, für das Gute einzutreten und gegenüber Rechts Haltung und Flagge zeigen zu müssen. Dennoch erleichtert es natürlich das Bekenntnis zu "unserer" Demokratie und gegen Rechts, dass sich diese Proteste nicht gegen offizielle Regierungspolitik richten. Im Gegensatz zu Protesten gegen die israelische Kriegsführung im Gaza-Streifen oder dem Eintreten für eine Verhandlungslösung im Ukrainekonflikt ist das mit keinerlei Nachteilen verbunden.
Brandmauern gegen Veränderung
Trotz der jahrzehntelangen Dauerberieselung in Sachen deutscher Vergangenheitsbewältigung ist die Rechte immer stärker geworden. Brandmauern und Blockadeversuche gegenüber der AfD, die moralischen Zeigefinger und die Hetze der Meinungsmacher, auch politische Winkelzüge von Altparteien können eines nicht überdecken: Die sogenannten demokratischen Kräfte können nicht mehr überzeugen – weder durch ihre Ansichten und Argumente noch durch ihre praktische Politik.
Die herrschenden Parteien sind immer seltener in der Lage, den Menschen Sicherheit und einen Ausblick auf bessere Zeiten zu bieten. Die Zahl derer wächst, die um ihre bisherige Lebensweise bangen und zunehmend auch um ihre Lebensgrundlagen. Die Altparteien haben keine Sichtweisen und Erklärungsansätze mehr für die gesellschaftlichen und politischen Vorgänge. Sie können sich diese Vorgänge mit ihren eigenen Theorien selbst nicht mehr erklären. Diese passen immer weniger zur Alltagswirklichkeit. Wie sollen sie da die Menschen noch an sich binden können?
Die Folge ist der innere Zerfall der sogenannten Volksparteien. Dieser Zersetzungsprozess beschleunigt sich augenblicklich, und aus ihm entstehen neue Parteien, die die ungelösten Probleme der Gesellschaft in den Vordergrund stellen. Die Werteorientierung verliert dabei immer mehr an Bedeutung. Alle Versuche, diese Entwicklung des Zerfalls aufzuhalten, scheitern an der inhaltlichen Leere der Parteien und laufen aus in hilflosen Maßnahmen zur Behinderung des politischen Gegners. Man wirft man ihm Knüppel zwischen die Beine, weil man nicht mehr überzeugend und kraftvoll auftreten kann.
Doch die Probleme des Landes werden drängender und dulden immer weniger Aufschub. Doch die Altparteien sind ausgebrannt, haben nur noch wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Trotzdem wollen sie unter keinen Umständen mit jenen Kräften zusammenarbeiten, die im Gegensatz zu ihnen über wachsende Unterstützung in der Gesellschaft verfügen. Die Brandmauer gegen die AfD hat nur dazu geführt, dass ihre Anziehungskraft immer stärker und die Erwartungen an sie immer größer wurden. Angesichts der drängenden Probleme wird die Blockadehaltung gegenüber der AfD den meisten Menschen, besonders aber ihren Wählern, immer unverständlicher.
Die Veränderungen in der Gesellschaft lassen sich nicht auf Dauer mit Starrsinn oder politischen Tricks verhindern. Gesellschaften sind in Bewegung und im Fluss. Wem es nicht gelingt, diese Veränderungen zu erkennen, wer die Entwicklung nicht wahrhaben und stattdessen aufhalten will, wird mitgerissen in der Druckwelle des brechenden Damms. Und da helfen auch keine Jubelparaden von Gutgläubigen und sogenannten Anständigen.
Neue Mitspieler
Der Druck aus der Bevölkerung wächst, was aus den Umfragen deutlich wird. Besonders in der CDU werden Stimmen lauter, mit der AfD zusammenzuarbeiten, um den politischen Stillstand zu überwinden. Nun hat die Werteunion beschlossen, die CDU zu verlassen, sich als eigene Partei aufzustellen und bei den kommenden Wahlen anzutreten.
Sie unternimmt den Schritt, den die Mutterpartei sich nicht getraut hat und an dem sie auch zu zerbrechen droht: die Öffnung gegenüber der AfD. Die Werteunion hat angekündigt, dass sie "keine Brandmauern" pflege und damit "gesprächsbereit in alle politischen Richtungen" sei (2). Damit schreitet die Zersplitterung des bürgerlichen Lagers weiter voran, wie vormals die des sozialdemokratischen in die Grünen, die Linke und nun auch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW).
Die Interessen sortieren sich neu und schaffen sich die Parteien, die dazu passen. Der Trend zur Zusammenarbeit mit der AfD scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein. Wenn es nicht durch die bestehenden Parteien geschieht, so bilden sich aus diesen heraus neue, die dann diesen Schritt machen. Man kann auf Dauer nicht einen hohen Anteil der Bevölkerung von der Machtbeteiligung durch die von ihnen bevorzugte Partei ausschließen, schon gar nicht, wenn die Zustimmung zu den altgedienten Parteien immer mehr abnimmt.
Ob neue Parteien wie die Werteunion, das BSW oder auch die AfD die Erwartungen der Bevölkerung erfüllen können, ist fraglich. Das hängt nicht zuletzt von den Erwartungen ab, die sich aufbauen. Es hängt aber auch ab von den Fähigkeiten dieser Parteien, die Möglichkeiten realistisch einzuschätzen, die die Grenzen der bestehenden Ordnung zulassen.
Denn auch wenn alle diese Parteien die bisherige Politik kritisieren und den Eindruck vermitteln, sie könnten alles besser machen, so kommen sie doch um die Grenzen der bestehenden Ordnung nicht herum. Es sei denn, dass sie deren Schranken überwinden wollen. Das aber hat keine der Parteien im Programm. Sie alle wollen es besser machen als die alten, das heißt, sie wollen den Kapitalismus besser machen, gerechter. Aber über seine Grenzen hinausdenken, das können sie nicht.
Neue Wege zu alten Zielen
Diese Entwicklung birgt in sich die Gefahr einer um sich greifenden Erkenntnis, dass es gerade diese Schranken der gesellschaftlichen Ordnung sind, die einem Aufbruch in bessere Zeiten entgegenstehen. Allein aus diesem Grund schon dürfte die Ablehnung gegenüber der AfD im politischen Betrieb immer geringer werden, auch wenn es derzeit nicht den Anschein hat. Aber die Demonstrationen, wie der gesamte Kampf gegen Rechts, bieten keinen Ausweg.
Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass gerade die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) als der intellektuelle Kompass der herrschenden Klasse diesem ausgerufenen Kampf gegen Rechts zurückhaltend gegenübersteht. Zwar sind ihre Macher keine Anhänger einer Partei wie der AfD oder gar des BSW. Aber noch gefährlicher dürfte für sie die Entstehung einer Bewegung sein, die das gesamte System infrage stellt, auch wenn das im Moment noch nicht absehbar ist.
So bietet die FAZ Argumente und Sichtweisen, die eine schrittweise Machtbeteiligung der AfD auf unterer politischer Ebene ermöglichen, wenn diese Partei denn schon nicht aus dem Wählerwillen zurückgedrängt werden kann. In ihrer Ausgabe vom 25. Januar dieses Jahres lässt sie das Mitglied des Verfassungsgerichtshofes von Rheinland-Pfalz, Professor Dr. Wilhelm Hufen, mit Betrachtungen zu einer eventuellen Machtbeteiligung der AfD zu Wort kommen. Da wird einem Fachmann das Wort erteilt, nicht einem Wald- und Wiesen-Experten. Hufen analysiert auf einer ganzen Zeitungsseite eventuelle Gefahren. Er hält diese für beherrschbar.
Es wird sich zeigen, wie sich der Konflikt um die Regierungsbeteiligung der AfD auflösen wird. Um nichts anderes geht es im Moment bei den angeleierten Protesten, auch wenn das vielen von jenen, die da mitlaufen, nicht bewusst ist. Viele Hoffnungen in der Bevölkerung ruhen auf dieser neuen Kraft, die aber keineswegs so neu ist. Sie ist Fleisch vom Fleische der CDU und ihres Denkens, was aber unter den derzeitigen künstlich aufgebauschten Gegensätzen in den Hintergrund getreten ist.
Aber so wie die ehemalige grüne Friedenspartei unter neuen politischen Notwendigkeiten sich über Nacht zur Kriegspartei wandelte, so ist auch zu erwarten, dass die AfD unter neuen gesellschaftlichen Erfordernissen von der Parole abrückt: "Wir sind das Volk". Wenn sie sich auch untereinander spinnefeind sind, so ist allen Parteien in Deutschland gemeinsam, dass sie die kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht infrage stellen.
In diesem Denken müssen dann unter geänderten Bedingungen und Entwicklungen die alten eigenen Sichtweisen den neuen Zuständen angepasst werden. Das hat nichts mit Unterwanderung zu tun, wie so manche Verschwörungsfantasten gerne vermuten, sondern mit politischem Bewusstsein. Und dieses politische Bewusstsein ist nicht nur geprägt durch die herrschende Ordnung, sondern ihr auch im Denken verbunden. Trotz aller Schattierungen denkt man in den Grundsätzen des Systems.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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