Von Tarik Cyril Amar
Lasst uns zu Beginn einen großen Staat auf dieser Welt in drei groben Zügen skizzieren:
Als Erstes beträgt die Bevölkerungszahl dieses großen Staates derzeit rund 333 Millionen. Die Bürger dieses Staates besitzen privat etwa mindestens 339 Millionen Schusswaffen jeglichen Typs und Kaliber. Das ist insofern einzigartig, als dass es in keinem anderen Staat der Welt mehr Privatwaffen als Einwohner gibt. Die Zahl der Privatwaffen in diesem Staat übertrifft beispielsweise deutlich jene im Jemen, einem Land, das vom Krieg geprägt ist und jahrelange Bürgerkriege durchleben musste, in dem es aber dennoch nur etwa 53 Schusswaffen pro 100 Einwohnern gibt.
Zweitens ist die Polarisierung in diesem großen Staat ungewöhnlich hoch und virulent: Bereits im Jahr 2020 hatte ein Politikwissenschaftler an einer der renommiertesten Universitäten dieses Staates festgestellt, dass "die politische Polarisierung unter den Bewohnern dieses Staates in den vergangenen 40 Jahren rapide zugenommen hat – stärker als in Kanada, dem Vereinigten Königreich, in Australien oder in Deutschland". Das Ergebnis: Dieser Staat ist etwas Besonderes, aber nicht im positiven Sinne. "Keine der wohlhabenden und gefestigten Demokratien in Ostasien, Ozeanien oder in Westeuropa war über einen so langen Zeitraum mit einem ähnlichen Ausmaß an Polarisierung konfrontiert", heißt es in einer im Jahr 2022 vom Carnegie Endowment for International Peace (Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden) veröffentlichten Analyse.
Im vergangenen Jahr wurde in einer anderen Analyse des Carnegie Endowment festgestellt, dass die Wahrnehmung der Polarisierung bei bestimmten politischen Fragen – wie zum Beispiel beim Themen wie Waffenkontrolle oder Abtreibung – zwar teilweise übertrieben ist, diese Wahrnehmung jedoch selbst dem Zusammenhalt des betreffenden Staates schadet. Denn die Menschen, die am stärksten in das bürgerliche und politische Leben involviert sind, haben die ungenauesten – gemeint ist hier: sehr negative – Ansichten über die Überzeugungen der anderen Seite, und es herrscht ein hohes Maß an dem, was Politikwissenschaftler als "affektive Polarisierung" bezeichnen. Einfach ausgedrückt: Alle oder viele der Bürger dieses Staates, die zusammen so viele Waffen besitzen, dass über 40 Prozent der Haushalte auf die eine oder andere Weise bewaffnet sind, mögen die "andere Seite" des politischen Spektrums nicht, respektieren sie entweder gerade noch, immer weniger oder ganz und gar nicht.
Drittens zeigt dieser Staat auch eine tief ausgeprägte Beschäftigung, ja geradezu eine Besessenheit, nicht nur mit der Idee eines Bürgerkriegs als solchem oder der spezifischen Geschichte seines eigenen, sehr blutigen Bürgerkriegs im 19. Jahrhundert. Vielmehr sind die Eliten und die allgemeine Bevölkerung dieses Staates auf einen bevorstehenden Bürgerkrieg fixiert, den im Jahr 2022 satte 43 Prozent der Bevölkerung dieses Landes für in den nächsten zehn Jahren wahrscheinlich hielten. In Debatten, in hochkarätigen Büchern, Artikeln und in der Populärkultur wird diese Fantasie prominent und beharrlich propagiert.
Die Rede ist natürlich von den Vereinigten Staaten von Amerika. Es wäre zwar einfach, weitere Kriterien und Fakten aufzuführen, es besteht jedoch keine Notwendigkeit dazu. Das Gesagte reicht aus, um aufzuzeigen, dass es kurzsichtig wäre, die Gefahr eines erneuten Bürgerkriegs in den USA zu verharmlosen, und zwar aus zwei Gründen: Es handelt sich hierbei nicht um eine bloße Fantasie, denn die derzeitige landesweite Resonanz bezüglich eines erneuten Bürgerkriegs verdankt dieser "Hype" und die Anspannung darüber der Vorstellung einer befreienden apokalyptischen Zukunft des Chaos, in dem jeder Mann und jede Frau für sich selbst dastehen wird – und im Fall der USA vermutlich auch jedes andere Geschlecht, das daran teilnehmen möchte.
Die Klugen unter den US-Amerikanern sind sich dessen bewusst. Die prominente Politikwissenschaftlerin Barbara F. Walter zum Beispiel, die intensiv mit der CIA zusammengearbeitet hat, um Wahrscheinlichkeitsmodelle für die Vorhersage möglicher Bürgerkriege zu entwickeln – Modelle für jedes Land auf diesem Globus, außer für die USA natürlich. Sie warnt nun davor, dass diese Modelle beunruhigend gut auf die USA passen. Walter mag ihre zentristischen Vorurteile haben – die übliche Übertreibung des "russischen Einflusses" eingeschlossen –, aber ihre Kernpunkte sind dennoch gültig: Die USA verwandeln sich zunehmend in eine Anokratie, das heißt im Wesentlichen in ein Regime, das lediglich vorgibt, eine Demokratie zu sein, in Tat und Wahrheit aber eine Autokratie ist. Und es gibt einen beträchtlichen Teil innerhalb der Bevölkerung der USA, der sich durch den Verlust ihres früheren sozialen Status und ihrer Vorrangstellung bedroht fühlt. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das stark mit der potenziellen Gefahr eines Bürgerkriegs verknüpft ist.
Wir dürfen dabei auch nicht vergessen, dass die USA jeden Tag ihre enormen Fähigkeiten unter Beweis stellen, globale Störungen zu verursachen, auch ohne Bürgerkrieg im eigenen Land. Während einige Beobachter vielleicht hoffen – eventuell sogar erfüllt von Schadenfreude –, dass gegeneinander kämpfende US-Amerikaner den Rest von uns endlich in Ruhe lassen müssten, ist das eine sehr heikle Wette.
Mit einer Elite, die narzisstisch von globalem "Vorrang" und "Unentbehrlichkeit" besessen ist, mit etwa 800 Stützpunkten weltweit, einem Arsenal Tausender Atomsprengköpfe und der unangenehmen Angewohnheit, andere für das eigene Versagen verantwortlich zu machen, würde ein neuer Amerikanischer Bürgerkrieg eine Aggression gegen das Ausland nicht ausschließen. Darüber hinaus sind die USA trotz ihres Niedergangs immer noch ein wichtiger Teil der Weltwirtschaft, viel stärker als im Jahr 1860, als der erste Amerikanische Bürgerkrieg bereits schwerwiegende Auswirkungen auf den Rest der Welt gehabt hatte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Vorstellung eines Bürgerkriegs in den USA die Prediger des Weltuntergangs, die in Tarnfleck gekleidet, mit Bärten ausgestattet und mit Schrotflinten bewaffnet sind, anziehen mag. Aber man sollte sich davon nicht täuschen lassen: Der mögliche Amerikanische Bürgerkrieg 2.0 ist ein ernstes Problem. Also, wie ist damit umzugehen? Was können wir vernünftigerweise abschätzen, wie wahrscheinlich ein solcher Bürgerkrieg wirklich ist und wie er aussehen könnte, wenn er tatsächlich ausbricht?
Um mit der letztgenannten Frage zu beginnen, ist vielleicht zunächst zu beachten, dass große Bürgerkriege oft in kleinem Ausmaß und lokal beginnen. Ein Beispiel dafür ist der jüngste und offen geführte Disput zwischen dem Bundesstaat Texas und der Bundesregierung in Washington in der Frage der Immigration und der Grenzkontrollen. Es kamen zwar bewaffnete Kräfte und viel ahnungsvolle Rhetorik zum Einsatz, aber glücklicherweise wurde nicht scharf geschossen. Doch diejenigen, die den Vorgang leichtfertig als bloßes politisches Theater abtun, liegen komplett falsch. Denn wie die New York Times feststellte, war es nicht nur Texas, das sich der US-Regierung widersetzte. Vielmehr "drückten viele republikanische Gouverneure ihren Widerstand öffentlich in einer Weise aus, die an Vorboten eines bewaffneten Konflikts erinnerten".
Zweitens ist zu beachten, dass ein erneuter Bürgerkrieg in den USA aufgrund der föderalen Struktur des Landes höchstwahrscheinlich mit einer Sezession beginnen würde. Im Streit zwischen Washington und Texas stellten sich 25 republikanische Gouverneure offen auf die Seite des rebellischen Texas. Dies war ein perfektes Beispiel dafür, wie ein lokaler Krisenherd schnell die Aufmerksamkeit und Solidarität des Rests des Landes auf sich ziehen kann, indem eine Logik der ultimativen Polarisierung und dann der Abspaltung geschaffen wird. Diese Logik hat sich zwar noch nicht vollständig entfaltet, aber die Konturen sind deutlich zu erkennen.
Es ist zudem erwähnenswert, dass viele der fiktionalen Narrative über den Bürgerkrieg 2.0 das Gleiche zum Ausdruck bringen: Sei es die Kult-Novelle "DMZ" oder der bitter ironische Roman "American War" – der ironischerweise beschreibt, wie US-Amerikaner andere US-Amerikaner behandeln, in etwa so, wie die Israelis die Palästinenser, Iraker oder Syrer behandeln –, der kleine, aber feine Film "Bushwick" oder das ganz große Kino in "Civil War", der jetzt in den USA in die Kinos kommt. In all diesen Werken ist der Ausgangspunkt das Szenario einer Sezession, die zu einem massiven innerstaatlichen Krieg eskaliert.
Drittens: Während die gigantischen Mengen an privaten Schusswaffen in einem neuen Bürgerkrieg sicherlich eine große Rolle spielen würden, wäre es falsch anzunehmen, dass in einem solchen Kampf nur als Milizen organisierte Banden von Privatpersonen gegen offizielle Polizei- und Militärkräfte antreten würden. In Wirklichkeit würde eine in Gang gesetzte Dynamik der Abspaltung dazu führen, dass Teile der vielfältigen "bewaffneten Organe" der USA ihre eigene Seite wählen, sich in der Folge abspalten und anfangen, gegeneinander zu kämpfen. Wenn Sie glauben, dass in einer solchen Situation die formellen Befehlsketten intakt bleiben werden, die alle letztlich ihren Ursprung in Washington haben, dann kann ich Ihnen auch ein einheitliches und ungeteiltes Jugoslawien anbieten.
Und nicht zuletzt wäre ein Bürgerkrieg in den USA bei einer solchen Entwicklung sowohl schwerwiegend als auch langwierig. In dieser Hinsicht würde er dem ersten Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert ähneln. Allerdings könnte er sich aufgrund fortschrittlicher Technologien und gesunkener Hemmungen noch verheerender und grausamer gestalten. Im jüngsten und überaus erfolgreichen Film von Netflix "Leave the World Behind" erfahren die Protagonisten nie, wer genau ihr Land in die Luft jagt. Aber am Ende des Films scheinen zwei Dinge einigermaßen klar zu sein: Nein, es handelt sich nicht um Feinde von außen, sondern um Feinde im Inneren – und es werden Atomwaffen eingesetzt. Das war übrigens auch die Prämisse der früheren, zunächst erfolglosen, mittlerweile aber zum Kult gewordenen Serie "Jericho".
Wie wahrscheinlich ist eine so schwarze Zukunft? Offensichtlich können wir das nicht abschätzen. Aber lassen Sie uns zwei Dinge in Betracht ziehen: Wir könnten a priori auf Vereinigte Staaten blicken, in denen niemand großes Interesse daran hat, darüber nachzudenken. Doch wir erleben das Gegenteil davon. Wenn man davon ausgeht, dass dies keine Bedeutung hat, gut. Doch man sollte sein eigenes Bauchgefühl nicht mit tatsächlich stattfindender Politik oder Grundlagen der Planungen verwechseln.
Natürlich gibt es Alternativen zu einem Bürgerkrieg. Eine davon ist die friedliche Depolarisierung unter den gegenwärtigen anokratischen Bedingungen, die hypothetisch möglich wäre. Die andere Alternative wäre ein ausgewachsener Autoritarismus: Das Mittel, die Wahrscheinlichkeit eines Bürgerkriegs zu reduzieren, ist die Einführung einer Diktatur.
Aber hier ist der Haken: Ein Land kann sowohl in einem Bürgerkrieg als auch in einer Diktatur enden. Man frage einfach die alten Römer. Jene Römer also, die den Gründern der Vereinigten Staaten so sehr als Vorbilder gedient hatten.
Aus dem Englischen.
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.
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