Schlaflose Gedanken des Balkonisten ‒ oder: das "Tal der Ahnungslosen" scheint heuer viel größer als damals in der DDR
Eine Lesermeinung von Mikhail Balzer
Eine kurze Anmerkung des Autors (oder Herausgebers) der "Tagesaufzeichnungen des Balkonisten" zum Verständnis der Hauptperson, welche im Folgenden der Einfachheit halber zumeist als "der Balkonist" bezeichnet wird: Der Balkonist, eine fiktive Person, hat vor etwas mehr als 30 Jahren trotz noch nicht sehr fortgeschrittenen Alters entschieden, sein Berufsleben zu beendigen und, schlimmer noch, seine Wohnung in der siebten Etage eines Mehrfamilienhauses am Stadtrand einer beliebigen deutschen Kleinstadt nicht mehr zu verlassen. Neben seiner viel zu liebenswerten Ehefrau pflegt er lediglich noch regelmäßigen Kontakt zu seinem Kater "Murr, der Dritte" (es ist der dritte Kater seit seiner Entscheidung, die Wohnung nicht mehr zu verlassen). Mit Vorliebe, daher der beschreibende Name des Protagonisten, hält er sich tagsüber auf seinem geräumigen überbauten Balkon auf, dessen Fensterfront eine weitläufige Sicht gewährt. So beobachtet er seine unmittelbare Umgebung, wie aber auch sein Land und die Entwicklungen der "Welt da draußen" quasi als neutraler Beobachter mit der gebotenen emotionalen Distanz.
Mitten in der Nacht erwachte unser Balkonist Michael aus einem gedankenschweren Traum. Nicht, dass es allzu schrecklich gewesen wäre, was ihn aus dem Schlaf gerissen, er verspürte nur einen vagen, irgendwie bedrückenden Nachhall. Noch während er sich schlaftrunken erhob, um ein Glas Wasser aus der Küche zu holen, versuchte er sich auf den rasch verblassenden Inhalt des Traumes zu besinnen, doch bereits vergeblich: Es blieb nur ein trüber Schattenwurf. Kaum später war ihm gewiss, dass es bereits erfolglos wäre, sogleich wieder schlafen zu gehen. Daher begab er sich direkt von der Küche auf seinen Balkon, um gedankenleer ein wenig im bequemen Lesesessel zu weilen, den Blick unstet auf die vom grell anmutenden Vollmondlicht beleuchtete Straße und die angrenzenden Wohnhäuser gerichtet. "Was gibt es Schöneres, als in einer vollmondhellen Nacht die Ruhe draußen gedankenvergessen oder sinnierend zu genießen?", murmelte er vor sich hin.
Nach wenigen Minuten des entspannt schweifenden Blickes wurde er plötzlich eines wärmenden Gefühles an seinen nur halb von den Pantoffeln bedeckten Füßen gewahr: Sein nachtschwarzer Kater Murr III. konnte offensichtlich auch nicht schlafen. Er hatte sich lautlos angeschlichen und sanft auf die Füße des Balkonisten gelegt. Jener bat nun, ruhig und regelmäßig schnurrend, um etwas mehr Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten. Wahrscheinlich wollte er auch nicht mehr alleine auf dem Sofa, seinem üblichen Schlafplatz, liegen. In dem hellen Mondlicht, das die bekannte Umgebung nur in Form von teils bizarr veränderten Silhouetten erkennen lässt und so die eigentliche Realität durch die ihrer Schatten ersetzt, vermögen die Gedanken, ungestörter und konzentrierter zu fließen. So können sie aus den Mosaiken der Schattenwürfe umso genauer auf das eigentliche Ganze schließen, womöglich bisher versteckte Details entdecken. Wie vorteilhaft wäre es da, über die weitaus lichtempfindlicheren Augen des Katers zu verfügen! Dergestalt betrachtete der Balkonist nicht nur die nahen, aber skurrilen Silhouetten einer ihm wohlbekannten Umgebung, sondern auch die entfernteren der Tagesnachrichten, welche durch das grelle Schlaglicht der offiziellen Medien geformt werden.
Ein gar abwegiger Gedanke blitzte auf, zeitgleich zu einer abrupten Bewegung seines Katers (so, als ob dieser von seinen Gedanken aufgeschreckt wäre ‒ können Katzen die Gedanken der Menschen erahnen?!): Wenn nun sich das "Tal der Ahnungslosen" (eine Metapher der Dresdner Region zu Zeiten des real existierenden Sozialismus, den sehr beschränkten Rundfunkempfang in dieser Region beschreibend) mitsamt seiner damaligen medialen Zensur heimlich aufgebläht hätte, gar über die heutigen Grenzen Deutschlands hinaus? Der Balkonist, obgleich seit langen Jahren in dem freiwilligen Exil seiner Wohnung zurückgezogen, empfand plötzlich die gedankliche Enge einer ganzen Republik, illuminiert durch jenes hart kontrastierende Mondlicht, das bisweilen die andere Seite der Wirklichkeit hervorbringt. Galt beispielsweise zu früheren Zeiten die Bundesrepublik als modern und aufgeklärt, die Fernsehnachrichten als objektiv und die führenden Politiker als integer und dem Staatsvolk verpflichtet. Gar der Bundeskanzler seit den ersten bundesdeutschen Wahlen bis in die achtziger/neunziger Jahre als ein vertrauenswürdiger und bis zur Erschöpfung arbeitender Staatslenker. Auch boten bis in die achtziger Jahre die wenigen, drei, vier oder manchmal fünf Fernsehprogramme in der Deutung der Tagesnachrichten und der politischen Entwicklung mehr Kontroversen, als heute fünfzig oder sechzig deutschsprachige Kanäle.
Nur "drüben", in der Region Dresdens vor der "Wendezeit", konnten diese vielschichtigen "Westnachrichten" nicht ohne weiteres empfangen werden. Dennoch waren sich die meisten Menschen im anderen Teil Deutschlands über den eingeschränkten und manipulativen Charakter der offiziellen Nachrichten auf ihrer Seite der Mauer bewusst; viele auch bestens informiert über die konträre Sicht der Dinge auf der anderen Seite. Gänzlich anders scheint ein Großteil der heutigen Bürger Gesamtdeutschlands die allabendliche, monomorph-gleichgeschaltete Berieselung durch die Nachrichten der heutigen "neuen Aktuellen Kamera" nicht nur kritiklos zu glauben, sondern sogar zu genießen. Das neue alte Motto scheint wieder zu lauten: "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!". Und dazu noch "Lauft couragiert mit im Gleichklang der guten Gesinnung und höchsten Moral!" (und für einen, nebelhaft verklausulierten, Demokratiebegriff ‒ auch jener ehemalige sozialistische Staat im Osten Deutschlands bezeichnete sich bekanntlich als demokratische Republik).
Aber wie viel Courage benötigt es wirklich, um lediglich in einer gleichschrittigen Menschenmenge mitzulaufen?! Auch solle man "stets ein Zeichen setzen für gute Moral". Dann noch: "Wir müssen aufstehen für dieses und jenes!" ‒ Alles stets und überall, jedoch in der gewünschten Interpretation einer elitären Obrigkeit. Die Toleranz hört anscheinend dort auf, wo nach der Definition von Rosa Luxemburg sogar die Freiheit nicht enden darf. Eine vielfältige Meinungsdarstellung erscheint nur im gewünschten Sinne geboten (zum Beispiel zu Themen wie "Regenbogensymbol", Gendern und neuartigen, vermeintlich wissenschaftlich belegten Ideologien), um das Staatsvolk vor allzu gefährlichen freiheitlichen Meinungsabwegen zu schützen. Heute in Gesamtdeutschland, wie damals in einem sozialistischen Staatskonstrukt, bedeutet es offenkundig wenig Aufwand für Systemmedien, schöne gleichgeformt-einheitliche Bilder für die abendlichen Nachrichtensendungen einzufangen und begeistert dreinschauende Gesichter mit passenden strammen Schlagworten in den Vordergrund zu heben (auch das Schlagwort kann eine bedeutungsverändernde Verkürzung vielschichtiger Informationen bedeuten).
Dies alles als Beiklang der moralisch guten Botschaft, ein schönes mildes Opium zum Vergessen anderer freier Meinungen einer vielleicht weniger schöngemalten, dafür unbequemen, kantigen, kontroversen Sicht auf die Dinge im Staat. Könnte man doch nur den belastenden Satellitenempfang kontroverser Nachrichtenquellen gänzlich ausschalten! Könnte man sich sodann gänzlich ins heimelige neue Tal der Ahnungslosen begeben: hier ganz systemkonformistisch befreit von allen Grübeln und Zweifeln und in der beruhigenden Negation augenscheinlicher Gegensätze! ... Offenbar ob dieser einschläfernden Gedankengänge schnurrte Murr III. im rhythmischen Halbschlaf des bestellten oder angeordneten Marsches für die moralisch gute anständige Sache... und versäumte so leider die abschließenden Assoziationen, welche nun folgen sollen...
Man muss allerdings zugeben, dass es eine mehr als hundert Jahre alte Betrachtungsweise zumindest einiger europäischer sogenannter Intellektueller und ketzerischer deutscher Autoren gibt, die nicht ganz von der Hand zu weisen ist: dass nämlich speziell der Deutsche schon immer gerne zu Musikgetöse und festen Ansprachen der Obrigkeiten artig applaudierte und freudentrunken im opportun wogenden Menschenbad mitschwamm. Gar wie der prototypische Hauptcharakter aus Heinrich Manns Roman "Der Untertan", welcher die Macht, also den "herrlichen jungen Kaiser", fast bis zur Ohnmacht angehimmelt hat! Oder der naive FDJ'ler, welcher für die gute Sache der Arbeiter, Bauern und der Partei freiwillig, ernsthaft und eifrig Fahne schwingend aufmarschierte.
Der Balkonist sparte sich, hierzu noch die vielen Beispiele aus dem Dritten Reich aufzuzählen, welches ja geradezu eine furchtbare Parade der massenhaften Mitläufer war, die sich später zuhauf als "bloßes Rädchen in einer Maschinerie" exkulpieren wollten (nach Hannah Arendt). Der Mitläufer war schon immer in den Augen der jeweils Regierenden ein gern gesehener Bürger; zugleich aber im objektiven Licht historischer Dimensionen betrachtet, ein arges Problem, insbesondere in seiner Verweigerungshaltung gegenüber dem selbständigen Denken!
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