Von Wladislaw Sankin
Der ausverkaufte Saal in einem Berliner Industriedenkmal, der heutigen Event-Location "Kühlhaus am Gleisdreieck" wartete gespannt auf den Auftritt des georgischen Chors Shavnabada. Der war zuvor als krönender Abschluss des Musikfestivals "Into the Open", als "Nachgesang" und als Zusatzkonzert gepriesen und auch vorab massiv in sozialen Medien beworben worden. Der Leiter des Festivals Nikolaus Rexroth würdigte in seiner Ankündigung des Auftritts auch stolz die Anwesenheit des offiziellen Botschafters Georgiens Levan Izoria und der "Kulturministerin der Autonomen Republik Abchasien" im Auftrag der sogenannten Exil-Regierung Abchasiens in der georgischen Hauptstadt Tbilissi (deutsch auch Tiflis genannt). Rexroth erwähnte dabei auch, das Festival-Projekt sei von der Europäischen Union gefördert und sein nächster Termin werde in Georgien stattfinden. Dann ergriff der georgische Botschafter das Wort.
Zunächst bedankte er sich bei den Organisatoren und stellte kurz die Musiker vor. Dann, ohne viel Zeit mit weiteren Nettigkeiten zu verschwenden, kam er schnell zum Hauptthema seiner Eröffnungsrede: Mit scharfen Worten warf er Russland die Okkupation von Teilen Georgiens vor. Russland habe 20 Prozent des georgischen Territoriums besetzt und nun auch noch die Ukraine angegriffen. "Wir sind gegen russischen Terror", sagte er in aufgebrachtem Ton.
Von dieser derben politischen Komponente war in der Programmankündigung jedoch nicht die Rede. Die Rede war dort vom UNESCO-Kulturschatz polyphonen Gesanges in Georgien und dessen Wiederbelebung durch Shavnabada. "Unsere Reise führt uns auf Expeditionen durch verschiedene Regionen Georgiens, wo wir verborgene Musikstücke entdeckten und diese zeitlosen Lieder sowohl lokal als auch auf internationalen Bühnen präsentierten."
Der Autor dieser Zeilen erhob seine Stimme aus dem Auditorium: "Wir wollen hier Kultur hören, aber keine Politik!". Doch mit seinem "wir" war er etwas voreilig, wie sich wenig später herausstellte. Der Botschafter wandte sich energisch zur Seite und erklärte, dass man Kultur und Politik nicht trennen dürfe. Ausgerechnet jetzt, in diesen Zeiten, gehörten sie zusammen.
Dafür erntete er die erste Applauswelle der Zuhörer. Der Protestierer war zum Konzert nicht allein gekommen. Neben ihm saßen vier seiner Begleiter, die klar anderer Meinung waren und auch antirussische Propaganda an dieser Stelle nicht hören wollten. Er und seine Nachbarin erhoben nochmals die Stimme. Er stand aufgeregt auf und wandte sich noch einmal an den Botschafter: "Sie vertreten hier nur Ihre Meinung!"
Danach kam ein Ordner auf ihn zu und zwang ihn, sich zu setzen. Den Sieg über den Störenfried haben die Zuhörer mit einem nochmaligen Klatschen besiegelt. In diesem Moment wurde die Situation glasklar. Der Botschafter hat versucht, die Deutschen gegen Russland aufzubringen, und hat ein kulturelles Ereignis für seine ideologischen Zwecke genutzt. Und die Zuhörer fanden es toll.
Der Eklat war jedoch schnell vergessen, als die Männer von den höheren Rängen des ehemaligen Industriegebäudes ihr erstes Lied anstimmten. Der Zauber dieses Gesangs war jedoch von diesem Moment an für die Dauer des ganzen Abends verflogen – zumindest für eine kleine Gruppe der Besucher. Als sie nach dem letzten Lied als Erste aufstanden, um die Reihe zu verlassen, zischten ihre Sitznachbarn von allen Seiten Spott und Häme hinterher.
Wie schon erwähnt, der geschasste "Störenfried" war der Autor dieses Berichts. Wie seine Begleiter wollte er in der Tat den berühmten georgischen Gesang einmal Live erleben, denn in ihrer russischen Heimat gibt es eine bestens integrierte georgische Gemeinde, und georgische Kultur genießt dort einen hohen Stellenwert. Die drei Minuten Orwellscher Hass vor einem Konzert, das eigentlich Weltmusik und Völkerfreundschaft feiern sollte, waren für uns schlichtweg unerträglich und dagegen die Stimme erhoben zu haben, war ein natürlicher und spontaner Protest. Dieser hatte mit Journalismus nichts zu tun, auf dem Konzert war ich vollkommen privat und auch als Privatperson habe ich protestiert. Nach dem Konzert wurde ich wieder zum Journalisten, ging auf den Festivalleiter Rexroth zu und sprach ihn an. Ich wollte wissen, wie er die Eröffnungsrede und den gesamten Eklat bewertet. Er wollte allerdings darüber nicht reden und entfernte sich sichtlich angewidert von mir.
Eine deutsche Bildungsbürgerin, die meine Frage gehört hat, sagte mir im Vorbeigehen, dass der Botschafter Izoria ein Diplomat sei und dass in Deutschland die Meinungsfreiheit herrsche. Ich erwiderte, dass sein Auftritt mit Diplomatie nichts zu tun gehabt habe und dass er seinen ehrenwerten Status für Propagandalügen missbraucht habe, indem er gegen ein Drittland hetzte. Ihr Begleiter mischte sich noch in das Gespräch ein und sagte, dass es ja in Russland keine Meinungsfreiheit gebe und Schwule verfolgt würden. Damit beendeten die beiden auch diese Diskussion.
Doch nach wenigen Minuten stellte sich heraus, dass wohl doch nicht alle Zuschauer der Propaganda zugejubelt hatten. Doch das waren allesamt keine Deutschen. Eine Polin kam auf mich zu und sagte, dass sie das Problem genauso sieht – eine politische Kundgebung habe bei einem Musikereignis nichts zu suchen, es sei denn, sie wäre vorher angekündigt worden. Dann sprach mich noch ein Italiener an. Auch er äußerte mir seine Zustimmung. Seine Begleiterin, eine Engländerin, nannte die klatschenden Zuschauer kurzum eine "Schafherde".
Doch diese Menschen waren eine kleine Minderheit. Die meisten fanden diese politische Hasstirade vor einem tollen Konzert mit Volksmusik völlig richtig und sogar wichtig. Sie waren offenbar schon zuvor hinreichend mit dem Russlandhass infiziert. Heute hat er sie zu einer Masse zusammengeknetet – und sie fanden es toll, sie haben "Haltung" gezeigt, wie es heute in Deutschland so gern genannt wird: "Russland, der Peiniger aller Freiheitsliebenden, hat 20 Prozent Georgiens okkupiert, da muss man das Opfer bemitleiden! Wir sind die Guten!" Die Organisatoren des Botschafter-Auftritts haben streng nach den beliebten Ponsonby-Grundsätzen der Kriegspropaganda gehandelt, deren achtes Gebot da lautet: "Anerkannte Kulturträger und Wissenschaftler unterstützen unser Anliegen." Das hat Früchte getragen.
Dabei wussten sicher nur die Wenigsten, was der Botschafter Izoria mit 20 Prozent des okkupierten Territoriums eigentlich genau meinte. Da hat er allerdings ein bisschen aufgerundet. Georgien kann in der Tat nur 18 Prozent seines vom Westen anerkannten Staatsgebiets nicht kontrollieren – 12,3 Prozent entfallen auf Abchasien und 5,6 Prozent auf Südossetien. Diese beiden ehemaligen Autonomen Republiken innerhalb der Georgischen SSR hatten im Zuge der Auflösung der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit von Tbilissi erklärt. Anfang der 1990er Jahre war jene Zeit, als der georgische Nationalismus in seiner militanten Form erblühte (in Gestalt der paramilitärischen Bewegung " Sakartwelos Mchedrioni"). Die ehemals gemeinsamen Wege der Abchasen, Süd-Osseten und Georgier trennten sich, das waren ethnische Konflikte, mit denen Russen gar nichts zu tun hatten. Zwei lokale Kriege flammten auf. Besonders erbittert waren die Kämpfe um Suchumi, die Hauptstadt Abchasiens. Ende September 1994 hat die abchasische Volkswehr die georgischen Truppen aus ihrer kleinen proklamierten Republik Abchasien vertrieben. Mit georgischen Truppen verließen auch Hunderttausende der Georgier die Zwergrepublik. Sie waren einst in dieses Gebiet unter sowjetischer Führung übergesiedelt. Heute zählt Abchasien nur noch etwa 244.000 Einwohner.
"Russland hat Abchasien nicht okkupiert. Auch die Abchasen nicht. Aber nach Meinung der Georgier haben wir, Abchasen, unser eigenes Land okkupiert", erklärt mir die Pianistin und Komponistin Khibla Amichba. Seit vielen Jahren lebt sie in Berlin, sie ist Mitglied des Deutschen Komponistenverbands. Nach dem Eklat im Kühlhaus erklärt sie mir die Position Abchasiens: "Ja, es gibt bei uns eine russische Militärbasis mit etwa 3.000 Soldaten. Aber die gibt es schon seit der Sowjetzeit. Und die Russen haben vielmehr im Konflikt mit Georgien vermittelt und später ihre Friedenstruppen gemäß einem gültigen Abkommen nach Abchasien entsandt. Eine Zeit lang, in den 1990er Jahren, nahmen sie sogar gewisse progeorgische Positionen ein und schlossen sich Sanktionen gegen Abchasien an. Es war wirtschaftlich eine extrem schwere Zeit."
In den 2000er Jahren begann die Annäherung zwischen Russland und Abchasien. Nach dem Angriff Georgiens auf Südossetien am 8. August 2008 und dem darauf folgenden fünftägigen Krieg hat Russland die beiden abtrünnigen Republiken Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten anerkannt. Seitdem ist die russische Hilfe gewachsen, die russisch-abchasische Integration geht voran. Dann kommt sie wieder auf die Frage nach der vermeintlichen Okkupation zurück. "Es gibt völkerrechtliche Kriterien für die Besetzung eines Landes durch ein anderes, die auch durch statistische Ausgangsdaten gestützt werden. Nach keinem dieser Parameter passt die so genannte 'Besetzung' Abchasiens hinein".
Khibla spricht von einer Instrumentalisierung der abchasischen Frage seitens Georgiens: "Tbilissi erweckt auf den internationalen Bühnen den Eindruck, dass Abchasien ein Teil Georgiens ist. Aber die sogenannte Autonome Republik Abchasien, die in Berlin durch 'eine Ministerin' vertreten wurde, ist ein Phantom. Sie haben nichts zu regieren." Sie schickt mir dann noch den Link zum Telegram-Kanal des echten abchasischen Außenministeriums. Dort ist in einem am Montag verfassten Statement von der georgischen "Politik der Eingliederung ohne Anerkennung" die Rede. Diese Politik sei im Westen konzipiert und ziele darauf ab, durch Elemente der Soft Power, vor allem Kultur, Tätigkeit der NGOs und Vergabe der Staatsbürgerschaft die beiden abtrünnigen Republiken wieder in den Einflussorbit von Tbilissi zu bringen.
"Abchasiens Kampf um sein Überleben wird ungerechterweise als Okkupation gebrandmarkt, es werde aber nicht gelingen, einen Keil zwischen Abchasien, Russland und all die anderen zu treiben, die die abchasische Unabhängigkeit anerkannt haben", verlautbart das Außenministerium Abchasiens.
Seit Jahrzehnten wird Georgien von Washington, Brüssel und Berlin mit allen Mitteln in das euroatlantische Bündnis hineingezerrt. Die Georgien-Krise hängt untrennbar mit der Ukraine-Krise zusammen. Im Jahre 2008 sollten die beiden Länder im Schnellverfahren in die NATO aufgenommen werden. Der Plan scheiterte, und nun ist eine Regierung in Tbilissi an der Macht, die sich weigerte, gegen Russland Sanktionen zu verhängen. Dies würde dem Land wirtschaftlich schaden, lautet die plausible Begründung. Da sehen Berlin und Brüssel Handlungsbedarf und schalten nun Kultur als "Softpower" ein. Der Europarat ließ noch im November 2017 Shavnabada im Plenarsaal in Straßburg die EU-Hymne in georgischer Interpretation singen. Da fielen auch die Worte "ich bin Georgier, also bin ich ein Europäer". Wie kein anderes ist dieses Ensemble geeignet, diese westliche "kulturpolitische" Offensive auch heute noch fortzusetzen.
Nun fördert die Europäische Kommission das "Into the Open", und als Förderer sorgt sie dafür (das ist natürlich nur Spekulation!), das Musikfestival in wenigen Monaten ausgerechnet in Georgien stattfinden zu lassen – ein Zufall? Im aufgedunsenen bürokratischen EU-Apparat in Brüssel passieren keine (solchen) Zufälle. Wenn von dort etwas gefördert wird, dann steckt ganz klar auch ein politischer Zweck dahinter. Keineswegs tauchte der Botschafter, ein bekennender Transatlantiker, ehemaliger Verteidigungsminister und Geheimdienstchef zusammen mit der sogenannten "Kulturministerin Abchasiens im Exil" zufällig in dem Konzert auf. Der Auftritt des georgischen Chors auf dem Festival sowie seine Propagandarede davor sind Teil der ausgeklügelten "strategischen Kommunikation", die in Brüssel von einer sogenannten "East StratCom Task Force" betrieben wird. Würde Russland ähnliches tun, würde sofort der Aufschrei lauten, Putin lasse wie der "Mörder Stalin damals" die russische Kultur für seine Staatspropaganda missbrauchen, welch purer Totalitarismus!
Im Jahre 2019 hatte Russland in Deutschland ein großangelegtes Kulturprogramm "Russian Seasons" veranstaltet. Der russische Botschafter in Deutschland Sergei Netschajew hielt damals natürlich Eröffnungsreden. In diesen Reden pries er die russischen Künstler an und warb in seinem Gastland für noch mehr Kulturaustausch mit Russland. Heute würde er das immer noch tun, denn Netschajew ist ein Diplomat der alten Schule. Auch in diesen stürmischen Zeiten lässt das russische Außenministerium Netschajew sein hiesiges Amt auf ebendiese diplomatische und seriöse Art ausüben. Im Deutschland geht es jetzt andersherum. Ein EU- und NATO-Kandidat Georgien ernennt einen westlich ausgebildeten Ex-Geheimdienstchef zum Botschafter und lässt ihn bei Kulturevents mit Propagandareden gegen Russland hetzen. Das eigentlich kultivierte, deutsche Publikum, allesamt Musikliebhaber und regelmäßige Konzertbesucher, nimmt ihm das auch noch dankend ab.
Deshalb wurde es für einen Augenblick recht gruselig bei diesem Konzert des georgischen Chors. Ich habe verstanden, wie der Massenwahnsinn während des deutschen Faschismus möglich wurde. Das Feindbild sitzt mittlerweile in den Köpfen vieler Menschen fest verankert und wird schließlich nicht mehr hinterfragt, Regierung und Medien stimmen beharrlich auf einen Krieg gegen diesen Feind ein. Was folgt danach?
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