Von Dagmar Henn
Neben dem eiligen Jubel der westlichen Presse, die sich freute, dass das Urteil nicht "Waffenstillstand" lautete, gibt es auch viele Stimmen auf nichtwestlicher Seite, die die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit des Urteils beklagen. Aber das ist ein wenig voreilig.
Das Gericht hat für sich aus einer Situation zwischen Scylla und Carybdis einen eleganten Ausweg gefunden. Hätte es auf den ersten Blick die Forderung der südafrikanischen Klage erfüllt, hätte es sich auf volle Konfrontation mit den Vereinigten Staaten begeben, die immerhin ihre Unterstützung des blutigen israelischen Kurses gerade erst durch die Lieferung frischer Kampfflugzeuge bekräftigt haben. Hätte es die südafrikanische Klage zurückgewiesen und sich auf die (juristisch tatsächlich klägliche) israelische Position eingelassen, hätte es seinen Ruf endgültig ruiniert und die Neigungen in den BRICS und ihrem gewaltigen Umfeld verstärkt, die vorhandenen Institutionen der Vereinten Nationen durch neue zu ersetzen.
So hat es einen Spruch gefällt, bei dem die USA und ihre Mittäter so tun können, als hätte er kaum Konsequenzen, und gleichzeitig das Recht eingehalten. Ein wenig erinnert das an das Urteil im Kaufmann von Venedig. Der Kreditgeber Shylock fordert, nachdem das Schiff seines Schuldners untergegangen ist, das halbe Pfund Fleisch aus seiner Brust, das ihm verpfändet wurde; der Richter spricht es ihm zu, fügt aber an, er müsse es sich holen, ohne dabei auch nur einen Tropfen Blut zu vergießen, denn von Blut stünde nichts im Vertrag.
Wenn das Gericht in Den Haag von Israel verlangt, dafür zu sorgen, dass keine Palästinenser getötet werden oder diese keine schweren Schäden an Leib und Seele erleiden, dann entspricht das dem Blut, das nicht vergossen werden darf. Es ist schlicht nicht möglich, einen Feldzug in Gaza fortzusetzen, Wohnhäuser und Schulen zu bombardieren, ohne genau dies zu tun. Insofern fehlt das Wort Waffenstillstand zwar explizit, aber nicht implizit.
Allerdings könne das Gericht seinen Spruch ja ohnehin nicht durchsetzen, lautet der nächste Einwand. Das war jedoch von vornherein klar. Das konnte es noch nie; und selbst wenn man es mit der gewöhnlichen staatlichen Ordnung vergleicht, kein Gericht kann das. Es braucht immer die Exekutive, um ein Urteil umzusetzen. Die Exekutive, die völkerrechtlich vorgesehen ist, ist der UN-Sicherheitsrat, und wie die Verhältnisse in diesem aussehen, ist bekannt.
Dennoch ist dieses Ergebnis ein wichtiger Schritt. Denn wollte man einmal annehmen, es gäbe Staaten, die sich tatsächlich eine Durchsetzung des Völkerrechts auf die Fahnen geschrieben hätten, dann wäre es zwingend erforderlich, dass sie sich selbst an die Abläufe hielten, die darin vorgesehen wären, oder nicht? Das ist nun einmal das Grundproblem bei der Durchsetzung einer Herrschaft des Rechts, dass sie ohne eine entsprechende Selbstbindung nicht möglich ist.
Sicher ist es frustrierend, nicht den schnellsten und direktesten Weg zu wählen, der den Genozid in Gaza besser heute als morgen beendet. Der langfristig erfolgreichere Weg ist allerdings jener, der ein Modell liefert, wie in solchen Fällen gehandelt werden sollte. Denn in Wirklichkeit stehen vor jener Gruppe von Staaten zwei Aufgaben zugleich. Auf der einen, den globalen Wilden Westen und seinen Hauptakteur in die Schranken zu weisen; auf der anderen, zu demonstrieren, dass es tatsächlich anders geht, dass es möglich ist, das Völkerrecht auf eine Art und Weise einzufordern, die nicht mehr Schaden hinterlässt, als sie Nutzen bringt.
So verlockend die Vorstellung ist, dass irgendjemand den israelischen Gewalttätern und ihren US-amerikanischen Sponsoren auf die Mütze haut, so kurzfristig wäre dieses Ergebnis, von der Gefahr der Eskalation ganz abgesehen, die nach wie vor von den Neokons in Washington betrieben wird. Eine Befürchtung übrigens, die gerade durch die zuletzt kursierenden Gerüchte eines US-Rückzugs aus Syrien und dem Irak gestützt wird; das wäre eine notwendige Vorbereitung, wäre wirklich ein Angriff auf Iran geplant, weil all diese Truppen in dem Fall nur leichte Ziele wären.
Nein, die Deutung, die vermutlich zutrifft, ist, dass die südafrikanische Klage Teil einer abgesprochenen Strategie ist, zu der dann auch der angekündigte Friedensvorschlag Saudi-Arabiens gehört. In die sich dann auch die Aktionen der Ansar Allah im Jemen eingliedern, denn wenn das Urteil in Den Haag irgendeine unmittelbare Wirkung hat, dann die, dass diese Handlungen damit völkerrechtlich legitimiert sind. Auch wenn das Urteil keine Stellungnahme enthalten konnte, ob in Gaza ein Genozid stattfindet, wurde klar genug formuliert, dass auf den ersten Blick erkennbar ist, dass zumindest ein Genozid droht. Was alle Handlungen, die Israel mit der Möglichkeit ausstatten, derartige Akte weiter zu begehen, zumindest in den Verdacht der Mittäterschaft stellt.
Das alles ändert natürlich nichts an den Positionen, die in den Kernländern des Westens vertreten werden, obwohl sich inzwischen selbst in Deutschland Kommentatoren finden, denen auffällt, wie leer es rundherum geworden ist: "Deutschland steht fast alleine da", titelte heute t-online, und im Kommentar selbst heißt es dann: "Mit ihrer Position stehen die USA, Großbritannien sowie die Bundesregierung daher zunehmend allein da, um nicht zu sagen: mit dem Rücken zur Wand."
Das dürfte einer der Gründe gewesen sein, warum Bundesaußenministerin Annalena Baerbock so sehr darauf drängte, dass die EU Schiffe ins Rote Meer schickt, auch wenn sie damit für die bisher von Jemen explizit verschonten deutschen Reedereien ein Problem schafft. Denn in Bezug auf Israel ist – trotz oder wegen – der vorlauten Treueschwüre von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Richtung Israel keine gemeinsame Position mehr möglich. Da verhält es sich ähnlich wie mit dem Personal der Biden-Regierung, dessen obere Etagen ihre Nähe zu Israel gerade feierten, während die unteren vor dem Gebäude, in dem sie tagsüber arbeiten, gegen ebendiese Nähe demonstrierten.
Der Dreh- und Angelpunkt, der letztlich entscheidende Gegner in der Auseinandersetzung um Gaza, heißt eben nicht Israel, sondern Vereinigte Staaten von Amerika. Ohne die beständige politische Deckung, die finanzielle Unterstützung und die massiven Waffenlieferungen wäre dieser Krieg gegen die Palästinenser nicht möglich. Und für das Ziel, aus den Vereinten Nationen die Verkörperung des Völkerrechts zu machen, die sie sein könnten und die sie für eine gerechtere Weltordnung werden müssten, ist es erforderlich, den Griff dieser Vereinigten Staaten um die internationalen Organisationen zu brechen.
Mehr, als diesen Griff weiter zu lockern, als in diesem juristischen und geistigen Abnützungskampf ein Stück Boden gutzumachen, war von diesem Verfahren erst einmal nicht zu erwarten. Selbst eine unmissverständliche Forderung nach einem Waffenstillstand hätte nicht mehr erreichen können als das.
Wenn man sehen will, wie weit der Westen inzwischen in die Defensive geraten ist, wie löchrig das gesamte Konzept der "regelbasierten Ordnung" geworden ist, genügt es, sich die Pressekonferenz des State Department vom 25. Januar anzusehen. Etwa ab Minute 1:40 kann man betrachten, wie der Pressesprecher Vedant Patel immer heftiger ins Rudern gerät, als er gefragt wird, ob die Vereinigten Staaten sich durch ein Urteil des IGH gebunden fühlten, und ob sie vorhätten, im UN-Sicherheitsrat weiter ein Veto einzulegen. Und die wutschäumenden Erklärungen aus Israel, die dem IGH inzwischen "Antisemitismus" vorwarfen, werden das künftig nicht besser machen.
Man darf nicht erwarten, dass auf dem Feld des Rechts mehr ausgetragen wird als Fragen des Rechts. Die Fragen der Macht werden andernorts geklärt, im günstigen Fall in der Diplomatie, im ungünstigen auf dem Schlachtfeld. Aber auf dem Feld des Rechts war das heutige Urteil ein Sieg, der eine auf dem Völkerrecht beruhende Weltordnung ein Stück näher gebracht hat.
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