Von Anton Gentzen
Diesen Samstag ist es wieder so weit: Facebook, X/Twitter und wie sie alle heißen, werden wie jedes Jahr geflutet sein mit Fotos vorrangig linker und grüner Politiker, die jeweils ein Schildchen in die Kamera halten, auf dem auf Deutsch und auf Hebräisch etwas Kluges über Auschwitz steht. Es ist der 27. Januar, Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahr 1945, und dieses Posieren für die Kamera mit einem Schildchen ist inzwischen ein Ritual, das in für Politiker gedruckte Kalender festen Eingang gefunden hat.
Was es dagegen nie gab und auch dieses Jahr wahrscheinlich nicht geben wird, ist, dass dieselben Politiker eines anderen Ereignisses gedenken. Des Endes der Blockade Leningrads nämlich, das ebenfalls am 27. Januar sogar ein rundes Jubiläum feiert.
An Leningrad und seine Toten zu erinnern, gehört nicht zur jährlichen Nomenklatur der Politikerrituale und gilt offenbar selbst unter Abgeordneten der Linken als nicht woke und als "politisch nicht opportun". Ich bin bei gefühlt der Hälfte der Linkenabgeordneten der vorhergehenden Legislaturperiode auf Facebook und Twitter gesperrt, weil ich sie einst mit etwas Nachdruck an die doppelte Bedeutung des 27. Januar zu erinnern wagte. Bei Abgeordneten anderer Parteien habe ich es übrigens nicht einmal versucht: Es besteht nicht einmal eine theoretische Chance, dass etwa ein Grüner oder ein Liberaler verstehen würde, was ich meine.
Dabei ist es beinahe mystisch, wie Gott oder Geschichte die beiden Ereignisse – die Befreiung Leningrads aus der tödlichen Schlinge der deutsch-finnischen Belagerung im Jahr 1944 und die Befreiung des Todeslagers Auschwitz ein Jahr später – auf ein und dasselbe Datum gelegt und damit für alle Ewigkeit miteinander vermählt haben. Das Datum ist nicht die einzige Gemeinsamket: An beiden Orten starben in etwa je eine Million Menschen.
Beide Ortsnamen stehen als Sinnbild für jeweils einen der beiden Aspekte der verbrecherischen Natur des deutschen Faschismus: Auschwitz für den Genozid an den europäischen Juden und Leningrad für den Genozid an den Völkern der Sowjetunion. Der absoluten Zahl der Getöteten nach in dieser Reihenfolge: an Russen (6,9 Millionen ermordete Zivilisten und 5,8 Millionen gefallene Soldaten), an Ukrainern (6,5 Millionen Zivilisten und 1,4 Millionen gefallener Soldaten), an sowjetischen Juden (2,7 Millionen ermordete Zivilisten und 142.000 gefallene Soldaten) und an Weißrussen (1,1 Millionen ermordete Zivilisten und 252.000 gefallene Soldaten).
An den einen Aspekt zu erinnern, den anderen zu unterschlagen, bedeutet, dass man das Verbrecherische im deutschen Faschismus nur zur Hälfte (und damit nicht wirklich) begreift und verurteilt.
Aber vielleicht ist es ja auch die Erklärung für die auffällige Einseitigkeit der Gedenkrituale deutscher Politiker: dass sie gar kein Problem mit dem Hitlerismus hätten, wenn er die europäischen Juden in Ruhe gelassen und sich allein auf die Vernichtung von Russen, Ukrainern und Weißrussen, derjenigen, die Hitler "slawische Untermenschen" nannte, beschränkt hätte? Das würde in der Tat vieles erklären, etwa die erstaunliche Toleranz für Russophobie und die Diskriminierung Russischsprachiger in der Ukraine, in Estland, in Lettland. Auch die eigene Cancel-Culture und die Begeisterung, mit der deutsche Waffen ihrem ursprünglichen Zweck – der Tötung von Russen – zugeführt werden.
Versuchen wir eine mildere Interpretation. Vielleicht ist all das ja nichts Bewusstes, doch die Einseitigkeit der deutschen Erinnerung ist in jedem Fall Beleg dafür, dass Deutschland die Lektionen seiner Geschichte nur zur Hälfte (und damit nicht wirklich) gelernt hat. Dann muss man sich auch nicht wundern, dass der nicht gelernte Teil jetzt wiederholt wird, und zwar auch und insbesondere von denen, die aufgeregte Antifaschisten sind, wenn sie Spuren von Antisemitismus entdecken.
Wenn es überhaupt einmal argumentiert wurde, warum man der Befreiung von Auschwitz gedenkt und der Leningrads nicht, dann war es ein Hinweis auf den "Ausnahmecharakter des Holocaust" und auf den "industriellen Charakter" der Vernichtung der Juden in Auschwitz.
Leningrad muss demnach ein homöopathisches, naturbelassenes Vernichten mit Normcharakter gewesen sein. Nein, sicher bezwecken die so Sprechenden nicht eine Verhöhnung der Toten der Stadt an der Newa, aber sie kommt eben dabei raus. Dabei ist die ganze Diskussion insoweit unnötig, als die Erkenntnis der herausragenden und in der Weltgeschichte bislang tatsächlich einmaligen Bösartigkeit des Holocaust, über die man reden darf und sogar muss, niemanden daran hindern kann, sich des anderen Aspekts des verbrecherischen Wesens des deutschen Faschismus bewusst zu sein. Zwei Schilder statt nur einem in die Kamera zu halten oder zwei Selfies nacheinander zu schießen, wenn man schon das eigentlich Untrennbare trennen will, kann kaum unzumutbaren Aufwand erzeugen.
Es schmälert nicht das Andenken an die eine Opfergruppe, wenn man auch der anderen gedenkt. Dagegen sendet es in der Tat ein Signal der Missachtung, wenn man die eine Gruppe schlicht mit Schweigen übergeht, weil angeblich nur die andere gewichtig und des Gedenkens wert sei.
Ja, Gott oder Geschichte haben die Befreiung von Leningrad und diejenige von Auschwitz nicht ohne Grund auf ein Datum gelegt. Es hat eine mystischen Sinn, aber auch einen durch und durch praktischen: An ihrem Gedenken werdet ihr sie erkennen – die echten Antifaschisten und die, die nur Auschwitz-Schilder hochhalten.
Mehr zum Thema – Deutsche Panzerlieferungen an die Ukraine sind Berlins neonazistischer "14/88"-Gruß