Von Alexandr Nossowitsch
Selenskijs Erlass über den Kampf um die Bewahrung der nationalen Identität von ethnischen Ukrainern auf Russlands Territorium ist ein Anlass, ernsthaft über die ukrainische Identität zu sprechen. Vorab sei angemerkt, dass es das Thema ist, das ernst ist, nicht die Leute in Kiew, die es aufgeworfen haben. Diese "Menschen" sollten zunächst aufhören, Zivilisten in Belgorod und Donezk – in Regionen, die ihrer Meinung nach von ethnischen Ukrainern besiedelt sind – mit Artillerie zu töten, und sich erst dann über die Wahrung von deren nationaler Identität Sorgen machen.
Doch das Thema selbst ist nicht daran schuld, dass es von blutigen Clowns zur Sprache gebracht wurde. Identität ist wohl die wichtigste Angelegenheit im gegenwärtigen Konflikt. Diese ganze historische Region – Ukraine, Baltikum, Weißrussland, Moldau – besteht aus Gebieten mit beweglicher, fluktuierender Identität. Es konnte auch gar nicht anders sein, hatten sie doch jahrhundertelang keine eigene Staatlichkeit und wechselten regelmäßig ihre Besitzer. Dadurch können sogar die Identitäten eines einzigen Menschen während seines Lebens mehrmals ändern. Ich führte dazu seit mehreren Jahren in Artikeln und Büchern das Beispiel der baltischen "Wendehälse" an. Ganz zu schweigen davon, dass Identitäten von oben herab mithilfe von sozialen Technologien verbreitet werden können. Heute mögen Russen und Ukrainer ein Volk sein, und morgen zwei unterschiedliche. Oder andersherum – heute mag es das Volk der Moldawier geben, und morgen existiert es nicht mehr, und es gibt nur noch Rumänen.
Ich schreibe das, um zu verdeutlichen, dass sich die ukrainische Identität wegen der Besonderheiten dieser Länder nach historischen Maßstäben augenblicklich ändert. Der "Schalter" stellt sich sofort um, was durch das Fehlen irgendeiner bemerkbaren Partisanenbewegung in den Gebieten Charkow und Saporoschje bewiesen wird. Man kann noch so oft behaupten, dass die Referenden über den Beitritt zu Russland fiktiv gewesen seien, doch können der SBU und sonstige ukrainische Geheimdienste die Tätigkeit eines ukrainischen Untergrunds in diesen Regionen nicht einmal simulieren.
Dabei geht es gar nicht darum, dass sich Menschen nicht mehr für Ukrainer halten. Es geht um einen Verzicht auf die ukrainische Identität in der Version "Moskowiter auf den Galgen". Sobald Kiew die Kontrolle über ein Gebiet verliert und seine totale Propagandamaschinerie dort zu funktionieren aufhört, kommt es zu einem Paradigmenwechsel.
Daher kommt auch der Terror, den das Kiewer Regime nach seiner erneuten Besatzung von Gebieten, etwa im Gebiet Charkow, im Jahr 2022 entfaltete. Das ist eine Strafaktion an der Bevölkerung dafür, dass sie sogar auf passiven Widerstand verzichtet hatte, von einer massenhaften Untergrundbewegung und Guerillakrieg ganz zu schweigen. Kontrolliert Russland ein Gebiet, integriert sich die dortige Bevölkerung unweigerlich in die russische Gesellschaft. Und je länger diese Kontrolle anhält, desto sicherer ist die Integration.
Dies bedeutet zweierlei:
Wenn die Ukraine weitere Gebiete verliert, wird sie diese für immer verlieren. Im Übrigen ist die Rede hierbei nicht nur von ihrem Verlust an Russland. Die Bewohner des ukrainischen Bessarabiens könnten morgen mit Leichtigkeit zu Rumänen werden.
Eine Änderung der eigentlichen ukrainischen Identität – im bereits bekannten Sinne von Denazifizierung und neutralem Status – ist möglich.
Und nun zur billigen Provokation von Selenskijs Amt, das internationale Konflikte in Russland zu entfachen versucht, indem es Hetze gegen die Ukrainer provoziert. Das ist nicht eine Frage der ukrainischen Identität, sondern der russischen Kultur, die alles absorbiert und integriert. Wie bereits mehrmals festgestellt wurde, wurde in den zehn Jahren des direkten Konflikts in Russland nichts, was mit der Ukraine und den Ukrainern in Zusammenhang steht, umbenannt, verboten, abgeschafft oder abgerissen. Nur aus purer Verzweiflung könnte man glauben, dass es möglich sei, in Russland Pogrome gegen ukrainische Restaurants, den Kiewer Bahnhof in Moskau und Menschen, deren Nachnahmen auf "o" enden, zu provozieren.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.
Alexandr Nossowitsch, Jahrgang 1987, ist ein russischer Politologe und Journalist. Er ist ein Spezialist für sozialpolitische Prozesse im Baltikum, in der Ukraine und in Weißrussland und Chefredakteur des analytischen Portals Rubaltic.ru.
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