Von Dagmar Henn
Wenn ich für meinen Vater eine Geste finden müsste, die ihn für mich so zusammenfasst, wie einst die Handbewegung in Lembkes Beruferaten, dann ist es das nachmittägliche Ablegen der Krawatte. Alle Teile des Tages ohne Krawatte waren privat.
Nun war mein Vater nicht Politiker, sondern Beamter, und er mochte Krawatten nicht, was er dadurch zu erkennen gab, dass er sich eine ganze Sammlung ungewöhnlicher Krawatten zulegte, mit denen er den Krawattenzwang gewissermaßen gegen den Strich bürsten konnte. Aber diese klare Trennung zwischen den unterschiedlichen Lebensbereichen hatte etwas für sich, und es hat es ihm sicher erleichtert, sie auch emotional nachzuvollziehen.
Zugegeben, in der Politik ist das komplizierter, aber desto wichtiger. Weil diese Trennung auch funktional entscheidend ist. Nicht nur in dem einfachen Sinne einer Teilung zwischen privat und öffentlich, sondern in dem einer Unterscheidung zwischen verschiedenen Rollen, die unterschiedlichen Bindungen unterliegen. Denn es gibt eben viele Rollen, in denen ein Auftrag erfüllt wird und die Person im Grunde gar nicht gefragt ist; das ist schon bei einfachen Wahlämtern so. Der Spielraum, den die öffentliche Rolle hat, um beispielsweise vom Parteiprogramm abzuweichen, wird desto kleiner, je höher die Position ist, und wenn mehrere derartige Positionen kollidieren, muss immer dementsprechend gewechselt werden.
Das bedeutet nicht, dass die private Person verschwindet. Im Gegenteil, wer einmal auf Parteitagen war und in den Raucherecken stand, weiß, wie wichtig gerade die Nischen sind, in denen private Begegnungen stattfinden; das reicht von der Selbstvergewisserung über Bündnisse bis zum Schmieden von Intrigen. Es ist ein bisschen Standbein und Spielbein: Die Rolle mit der festgelegten Position und die private Person, die versucht, ihre eigenen Positionen durchzusetzen.
Wenn man diese Situationen kennt, stellt man fest, dass diese "private Politik" letzten Endes der Motor für die inhaltliche Entwicklung ist. Neue Gedanken entstehen nicht in den ritualisierten Sitzungen, sondern in den Kaffeepausen und den Raucherecken.
Dieses Potsdamer Treffen hat nun dazu geführt, dass darüber diskutiert wird, inwieweit Politiker überhaupt Anspruch auf eine Privatsphäre hätten. Dabei wird dann ein Professor für öffentliches Recht von der Universität Würzburg zitiert (wobei schon allein die Wahl eines Staatsrechtsprofessors interessant ist):
"Gerade bei einem politisch motivierten Gesprächskreis ist es natürlich irgendwie denkbar absurd zu behaupten, es handele sich dabei um ein privates Zusammentreffen."
Viel Erfahrung in politischen Zusammenhängen kann dieser Professor nicht haben, siehe oben. Natürlich gibt es private Treffen mit politischen Inhalten; schließlich bilden sich im Verlauf der Jahre auch private Beziehungen, was irgendwie automatisch dazu führt, dass man Sommerfeste in einem Weinberg damit verbringt, über politische Themen zu diskutieren. Das ändert nichts daran, dass es ein privates Treffen ist. Der entscheidende Unterschied zu einem "offiziellen" politischen Treffen besteht nicht einmal in den teilnehmenden Personen, die können sich in anderen Zusammenhängen genauso gut begegnen; der entscheidende Unterschied besteht darin, dass keine Bindung durch irgendeine Rolle besteht.
Sprich, die Trennung zwischen privat und nicht privat betrifft das Kommunikationsverhalten, nicht die Teilnehmerliste. Diese Unterscheidung gibt es bis in die höchsten Ebenen, und sie ist essenziell für das Funktionieren politischer Zusammenhänge, für die Bildung von persönlichem Vertrauen, für den Freiraum, um neue Ideen zu finden. Würde die Sicht, die der Würzburger Staatsrechtler vertritt, in der Breite, in allen politischen Zusammenhängen durchgesetzt, es würde tatsächlich die Demokratie bedrohen.
Der MDR zitiert auch noch einen Politikwissenschaftler, der erklärt, im Falle dieses Potsdamer Treffens werde "der Schutz der Privatsphäre (…) nur vorgeschoben, tatsächlich sei das Interesse, etwas Konspiratives geheim zu halten." Niedlich. Konspiration für Anfänger: Man buche ein teures Hotel nicht weit entfernt von Berlin … jede Kleingartenvereinswirtschaft ist konspirativer.
Interessant ist allerdings, wie sehr das mit den Positionen kollidiert, die sonst so vertreten werden. Wie war das noch? Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sei schließlich "privat" auf der Fähre gewesen, daher hätte man ihn nicht mit Protest belästigen dürfen? Wir übergehen jetzt mal, dass ein Minister, der sich im öffentlichen Raum bewegt, weitaus weniger Anspruch darauf hat, "privat" zu sein, als ein "persönlicher Assistent", also schlicht ein Mitarbeiter einer Bundestagsabgeordneten, möge diese noch so prominent sein. Der Unterschied ist sehr simpel – letzterer hat gar keine Rolle, die ihn bindet, ersterer hat nicht nur eine solche Rolle, sondern ist zudem auch noch für eine ganze Reihe von Übeln verantwortlich.
Aber das ist nicht einmal der Punkt, schließlich geht es bei "privat" oder "öffentlich" im Zusammenhang mit politischem Handeln um die Art der Kommunikation. Auch um den Umgang mit Gefühlen beispielsweise, ein Punkt, an dem Bundesaußenministerin Annalena Baerbock mindestens ebenso gerne die Grenzen überschreitet wie mit ihren Bademänteln. Denn in der Rolle "Außenminister" sind eben die persönlichen Gefühle nicht gefragt, das ist eine Auftragsarbeit. Es ist auch etwas Anderes als eine Parteitagsrede; dieses permanente Hinüberschwappen von Klatschblatterzählungen, diese mangelnde Wahrnehmung eben der Differenz zwischen Rolle und Person ist eine fortgesetzte Peinlichkeit, von der Verlogenheit dieser Rührstücke ganz zu schweigen.
Das ist so ein grünes Ding, das mal mit dem Betroffenheitsgedusel anfing und sich inflationär verbreitet hat. Nur, wenn man meint, sich dort privat geben zu müssen, wo man es nicht sein sollte (was Habeck genauso tut wie Baerbock), dann muss man eben hinnehmen, dass man letztlich nirgends mehr privat ist – als Minister sowieso. Vielleicht noch in der Wohnung und auf der Toilette (falls die NSA unaufmerksam ist).
In Wirklichkeit ist das Bemühen, diesem Potsdamer Treffen die Privatheit abzusprechen, selbst die Schutzbehauptung. Weil es eben nicht legal ist, irgendwelche Begegnungen irgendwelcher Menschen zu beobachten, zu belauschen und die Ergebnisse zu veröffentlichen. Auch wenn die Privatschlapphüte von "Correctiv" ihre Ergebnisse ins Maßlose aufgeblasen haben, und eigentlich nur die Frage übrig bleibt, wer nun der Agent Provokateur in der Organisation des ganzen Treffens selbst war – diese staatsfinanzierte Truppe hat sich nicht journalistischer, sondern nachrichtendienstlicher Methoden bedient, was selbst dann heikel ist, wenn ein handfestes Ergebnis dabei herauskommt und nicht Wischiwaschi. Da wäre aber eigentlich eine Straftat oder zumindest eine klare Verabredung zu einer Straftat das Mindeste.
Ist es jetzt also in Ordnung, jeden zu überwachen, abzuhören und anschließend öffentlich anzuprangern, der einem nicht passt (ich kann es immer noch nicht fassen, dass an dieser dünnen Suppe fünf Köche gekocht haben)? Es ist ja mitnichten so, als gäbe es keine öffentlichen Positionen aller Beteiligten, die man sich einfach aus dem Netz ziehen kann. Aber vielleicht muss "Correctiv" ja solche Nummern liefern, um das viele Geld zu rechtfertigen, das aus dem Bundeshaushalt an sie fließt?
Wenn man über ein politisches Thema spricht, ist ein Treffen nicht mehr privat, das ist mehr oder weniger die Meinung, die jetzt vertreten wird (dann kenne ich reihenweise Menschen, mit denen man nicht einmal privat frühstücken kann, mich selbst eingeschlossen). Und wenn man ein solches Treffen dann als nicht mehr privat definiert, dann ist es auch in Ordnung, es auszuspionieren, nicht nur für die staatlichen Organe, sondern auch für ihre outgesourcten Zuarbeiter, wie "Correctiv". Die haben natürlich für besagte staatliche Stellen den Vorteil, noch weiter außerhalb des Gesetzes agieren zu können, als sie selbst das ohnehin schon tun, weil sie ja "Journalismus" für die Guten und gegen die Bösen betreiben und damit die Rechtmäßigkeit ihres Tuns nicht thematisiert wird.
Die Chancen, dass die Debatte sich noch einmal umkehrt, und das Verhalten dieses Nebengeheimdienstes skandalisiert wird und nicht dieses Treffen und seine Teilnehmer, ist ausgesprochen gering. Dabei dürften sich viele, die jetzt diese "Enthüllungen" bejubeln, vor Jahren noch empört haben, als bekannt wurde, wie ausgiebig NSA und BND in deutschen Datenflüssen graben. Derartige Strukturen wie "Correctiv", ganz unabhängig von den Objekten ihrer Tätigkeit, als Bedrohung von Bürgerrechten wahrzunehmen, auch weil sie mit ihrem regelungsfreien Handeln und ihrer staatlichen Finanzierung noch weit über eine NSA hinausgehen, das wäre die eigentlich nötige Konsequenz aus der ganzen Geschichte rund um das Potsdamer Treffen.
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