Eine Lesermeinung von Mikhail Balzer
Neues vom Balkonisten, oder "Das beste Deutschland aller Zeiten" (19.01.2024)
An einem verdrießlichen, typisch winterdeutschen Januarmorgen saß der Balkonist wie üblich auf seinem moderat angewärmten Balkon. Trotz der bereits genossenen zwei Tassen Kaffee wollte der Kopf nicht wach werden ‒ und der dunkle, wolkenverhangene Himmel des feuchtkalten Wetters war nun auch nicht geeignet, ihm Energie einzuhauchen.
So sinnierte er denn in mühsamen Gedankenkreisen über die gestrigen Abendnachrichten, dabei jene vereinzelten Menschen auf den ansonsten leeren Bürgersteigen "seiner" Straße beobachtend (er betrachtet üblicherweise diese nahegelegene Straße, die er aufgrund der günstigen Lage seines Balkons in ganzer Länge einsehen kann, als sein "visuelles Eigentum", das er stetig beobachtet und dabei selbst kleinste Veränderungen akribisch registriert).
"Was machen diese Leute, zumeist Frauen mittleren Alters und Rentner, nur dort draußen? Gehen sie notgedrungen einkaufen, oder ist dies nur eine Art von Selbstbeschäftigung ‒ so, wie ich es hier alltäglich auf dem Balkon beim nachdenklichen Beobachten ausübe?". So oder ähnlich lauteten die spontanen Gedanken eines Mannes, der zwar Langeweile stets verneint hat mit den Worten "Was, Langeweile? Dieses Gefühl kenne ich überhaupt nicht!", aber anscheinend schon derart an diesen Zustand gewöhnt ist, dass er tatsächlich außer Stande ist, das Gefühl der Langeweile bewusst wahrzunehmen.
Nun denn, in der gestrigen spätabendlichen Talkshow (die er insgeheim als "seichte, volksbelehrende Themenschau mit weltanschaulich-moralischem Hintergrund" bezeichnet) tauchten wieder einmal, mit wohlgesetzten Worten aus dem Mund irgendeines Politikers, diese opiumartig den Verstand des Fernsehzuschauers einlullenden Aussagen vom "Besten Deutschland aller Zeiten" auf. Und dass wir uns alle doch glücklich schätzen sollten, hier und nicht in Timbuktu, Kalkutta oder gar Russland zu leben, wo es um Freiheit und Demokratie so schlecht bestellt wäre.
Quasi nur hier, in Deutschland, in Europa (und noch in den USA), sei "alles zum Besten bestellt, man könne sogar für noch so abwegige Meinungen demonstrieren... natürlich nur im Rahmen unserer Verfassung!". Solche Aussagen sind eben gewichtig, und sind zudem viel wichtiger, als die banale Höhe der Durchschnittsrente in eben diesem "besten Deutschland aller Zeiten" zu kennen.
Und obwohl er eigentlich eine kritische Einsicht pflegt, liebt er es wie wohl fast alle anderen Zuschauer, spätabends und halbschlaftrunken noch etwas tiefer in dem Fernsehsessel zu versinken und jene optimistisch klingenden Einflüsterungen aufzusaugen – um sie dann aber am nächsten Morgen, wenn der Verstand frischer ist, umso mehr von allen Seiten zu betrachten und kritisch zu analysieren. Aber vielleicht hängt dies auch nur damit zusammen, dass er morgens wieder auf seinem Balkon sitzt, wo er den Zustand einer "Enklave der Geistesfreiheit" genießt.
"Moment mal, war da nicht etwas...?", schoss es ihm bei diesem überstrapazierten Motto des "Besten D... aller Zeiten" durch den Kopf, elektrisiert bis in die wenigen verbliebenen Haarspitzen (welche er dennoch nicht weniger akkurat und ausgiebig pflegt wie in früheren Zeiten seine leicht gewellte Langhaarfrisur). An irgendein Zitat erinnerte ihn dieser Satz plötzlich... wenn doch nur Murr III., sein etwas rundlicher, träger Kater, des Weges käme, um ihm, wie so oft, auf die Sprünge zu helfen!
Dieser dritte Murr hat nämlich die unglaubliche Fähigkeit, mitzudenken und menschliche Gedanken zu erahnen, um dann still und heimlich das fehlende Mosaiksteinchen zu den bislang sprunghaften Gedankengängen hinzuzufügen. Unstet und beinahe verzweifelt schweifte sein Blick über das wohlgefüllte Bücherregal, welches sich zu allen drei vorgelagerten Balkonseiten unterhalb der Fenster erstreckt ‒ ohne irgendein Ziel seines suchenden Blickes erspähen zu können. Und ausgerechnet heute Morgen kam Murr III. nicht auf den Balkon, um ihn zu unterstützen.
Abrupt wurde er abgelenkt durch ein kurzes schrilles Hupen draußen auf der Straße. Dort bemerkte er eine gar nicht so alte Frau, welche sicherlich in ihrer Jugend durchaus als Schönheit gegolten haben mag, die nun leicht gebückt aufgrund der Last ihrer Einkaufstaschen die Straße überqueren wollte ‒ dies offenbar zu langsam aus Sicht eines hektischen Autofahrers. Bei genauerer Betrachtung schien es jedoch nicht nur das Gewicht der Taschen zu sein, welches diese Frau in eine dergestalt gealterte Körperhaltung brachte, doch was mochte es sonst sein? (Eigentlich mag der Balkonist solche melancholischen Einsprengsel in seine täglichen Betrachtungen gar nicht).
Zurück zu Murr III. und der ursprünglichen Fragestellung nach den "besten Dingen...". Wo hatte sich der Kater zur gestrigen Fernsehzeit versteckt, bevor er sich vor den Füßen des Balkonisten anschmeichelte? Der schwarze Haustiger musste wohl auf dem Balkon verblieben sein, an den er dieselben Besitzansprüche stellte wie die menschlichen Eigentümer, in der festen Anschauung, dass Menschen sowieso stets die Hilfe ihrer vierbeinigen Samtpfoten benötigen, um ein vernünftiges Leben führen zu können ‒ und so sollen sie auch alle ihre Lebensräume vollumfänglich mit den Katzen teilen. Katzen tragen bekanntlich nicht nur zur Entspannung ihrer menschlichen Mitbewohner bei, sie spüren (nach ihrer Selbstauffassung) auch Stimmungslagen und Gedanken auf, die sie positiv zu beeinflussen vermögen.
Nun ja, der Kater hatte gestern wohl in einer speziellen Nische gestöbert, zwischen abgelegten Büchern, Zeitungen und anderen Papierresten, die hier unschlüssig in der Ecke vor dem Regal herumlagen. Was er da konkret gesucht hatte, erschloss sich unserem Balkonisten hingegen nicht. Daher raffte er sich nun auf und suchte mit vorsichtigen Fingern, ob sich hier ein Fingerzeig (pardon: Pfotenzeig) seines wundersamen Katers befinden möge. Und tatsächlich, unter diversen angeknitterten Zeitungen und abgelesenen Büchern befand sich überdies ein kleines vergilbtes Taschenbuch mit der Aufschrift "Voltaire: Candide oder Die beste aller Welten".
Das war es also gewesen, was man gestern Abend in der illustren politischen Diskussionsrunde im Fernsehen wiederkäuen wollte: Candides beinahe zwanghafter Optimismus bis zum mehrfachen Tod und wiederholten schlimmsten Erlebnissen. Hat nun die Katze bekanntlich neun, so muss jener Candide mindestens dreißig Leben besitzen! Diese wäre allemal genug, für sämtliche Experimente einer fiktiven, abgehobenen und realitätsfernen Politelite, welche ohnehin nur unser Allerbestes will, speziell im ökologischen und moralischen Sinne ‒ und so, das Gute wollend, leider manchmal quasi als Nebenprodukt das weniger Gute erschafft. Es handelt sich hierbei sozusagen um die Inversion des mephistophelischen Zitates, die vielleicht mehr die Erdenwirklichkeit widerspiegelt denn die originale Version. Mit diesen letzten Gedanken des Balkonisten möchte nun der Herausgeber/Autor den werten Leser zunächst allein lassen...
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