Von Anton Gentzen
- Lettland weist 82-jährigen russischen Staatsbürger aus
- Lettland: Fast 1.200 Russen von Abschiebung bedroht
- Lettland: Parlament erlaubt Beschlagnahmung des "Moskauer Hauses" in Riga
- Estland stellt Finanzierung des Russischunterrichts ein
- Finnland schließt zweisprachige Schulen an Grenze zu Russland
- Finnland verlängert Grenzschließung zu Russland ...
Das alles sind frische Schlagzeilen aus nur zehn Tagen des Jahres 2024. Am Dienstag wurde zudem bekannt, dass Lettland als Nächstes die Ausweisung einer 72-jährigen blinden Russin plant. Wie der am vergangenen Wochenende deportierte 82-jährige Pensionär, lebte auch sie seit vielen Jahrzehnten in dem baltischen Kleinstaat, hat ihre gesamte Verwandtschaft und den sozialen Rückhalt dort. Während halb Deutschland entsetzt über Gedankenspiele der AfD ist, ausreisepflichtige Migranten auszuweisen, setzt Lettland das Szenario auf demonstrativ grausame Weise gegen seit Jahrzehnten im Land verwurzelte Russen bereits um. Ein Aufschrei in Deutschland oder Europa darüber? Fehlanzeige!
Ob Lettland, Estland oder Finnland, die Maßnahmen der jeweiligen Regierung haben eines gemeinsam: ihre demonstrative Inhumanität und Irrationalität. Selbst wenn man auf der Position steht, dass Russland mit seiner Intervention in der Ukraine Völkerrecht verletzt habe, was nützt es, sich dafür an der eigenen Bevölkerung, und genau das sind die Russen in dem jeweiligen Land, zu rächen? Wen und wie stören Schulen mit russischem Unterricht, an denen 30 Jahre lang niemand Anstoß genommen hatte? Welche Gefahr stellen siebzig und achtzig Jahre alte Rentner dar?
Rational wäre es doch eher, wenn die drei Länder sich mit Großzügigkeit und Empathie der Loyalität der russischen Bevölkerungsgruppe versichern würden, statt sie mit Inhumanität gegen sich aufzuwiegeln und nebenbei für Russlands Narrativ, die Regime der baltischen Länder seien zunehmend nazistisch, eigenhändig Beweise zu liefern. Zumal Estland und Lettland auch noch ein handfestes demografisches Problem haben. In Estland leben – Russen inklusive – 1,3 Millionen Menschen auf einer Fläche so groß wie Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg zusammen. Lettland hat seit 1989 ein Drittel seiner Einwohner verloren. Ist man angesichts dessen tatsächlich in der Situation, ein Viertel seiner Bevölkerung sinnlos zu drangsalieren?
Es gibt nur eine logische Erklärung für all das: Die Regierungen der drei Länder handeln gar nicht im eigenen nationalen Interesse. Weder im Sinne eines stabilen inneren Friedens, noch im Sinne einer gut nachbarschaftlichen Beziehung zu dem großen Nachbarn. Sie sind vielmehr Agenten fremder Interessen. All die Drangsalierung der russischen Bevölkerungsminderheit, all die demonstrativ irrationalen Handlungen der letzten Tage sind einzig und allein darauf ausgelegt, Russland zu provozieren. Die baltischen Zwergstaaten und Finnland, das eigentlich die handfesten Vorteile gut nachbarschaftlicher Beziehungen zu Russland kennt, haben aus Übersee den Auftrag bekommen, den russischen Bären mit scharf angeschliffenen Stockspitzen in den Rücken zu piksen, bis er sich umdreht und sich ihnen bedrohlich zuwendet. Eine zweite Front soll nach dem Willen von Washington, Brüssel und London her, die baltische.
Nicht zufällig erleben wir zeitgleich eine verstärkte Kriegspropaganda im Westen, die dem Medienkonsumenten eben dieses Szenario ausmalt: Unruhen der russischen Bevölkerungsminderheit in Estland und Lettland, russische Intervention in den beiden NATO-Mitgliedsländern. Und zu diesem Szenario treibt man die baltischen Russen und den russischen Staat gerade, bewusst, zielgerichtet, zynisch. Jemand im Westen will ganz dringend den Dritten Weltkrieg.
Der russische Bär hat ein dickes Fell. Es hat acht Jahre permanenten Dauerbeschusses von Donezk und Lugansk gebraucht, um ihn zur Intervention in der Ukraine zu bewegen. Es wird sicherlich noch viel geschehen müssen, damit er sich dem Baltikum zuwendet und über die finnische Selbstdemontage kann er auch nur mit Achseln zucken. Doch unendlich ist auch Russlands Geduld nicht, und Wladimir Putin hat in dieser Woche bereits eine Warnung in Richtung Riga und Tallinn ausgesprochen: Die Deportation der Russen berührt die Sicherheitsinteressen Russlands. Deutlicher konnte der russische Präsident in diesem Stadium der Eskalationsspirale gar nicht werden.
Es ist nun an den Völkern Estlands, Finnlands und Lettlands, aber auch ganz Europas, zu begreifen, dass sich die Kriegsgefahr nicht dadurch beseitigen lässt, dass man immer weiter und immer mehr Öl ins Feuer gießt, dass man immer weiter und immer mehr stichelt, reizt, provoziert. Es ist höchste Zeit, zur Besinnung zu kommen, vernünftig und deeskalierend zu werden und Regierungen, die so offensichtlich fremder Mächte Interessen dienen, gegen neue, den wahren nationalen Interessen verpflichtete, auszutauschen.
Einen Hoffnungsschimmer gibt es: Die estnische Regierung hat sich am Mittwoch dagegen ausgesprochen, das sowjetische Soldatendenkmal, um das es vor einigen Jahren so viel Unruhe gab, auch noch von seinem derzeitigen Standort auf einem Soldatenfriedhof zu entfernen. Regierungschefin Kaja Kallas hat plötzlich Kreide gefressen: "Die russischsprachigen Einwohner sind auch Teil unserer Gesellschaft", sagte sie heute. Ist Putins Botschaft angekommen? Hoffentlich!
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