Von Martin Jay
Ein kürzlich in der Financial Times veröffentlichter Artikel (Paywall) hat die weißrussische Regierung möglicherweise sehr amüsiert. Darin appellierte ein Grande der Europäischen Kommission an US-Tech-Giganten, die in Weißrussland mit dem Internet verbunden sind, die Artikel oppositioneller Journalisten stärker zu propagieren und hervorzuheben. Derzeit unterstützt Google die weißrussische Sprache auf seinen Suchplattformen nicht, was, wie die EU-Beamtin behauptet, der amtierenden Regierung von Lukaschenko einen deutlichen Vorteil verschaffe.
"Der Kampf gegen Desinformation und die Förderung der Medienfreiheit sind zwei Seiten derselben Medaille – und wir wollen, dass Big Tech beides tut", platzte es Věra Jourová, der Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, gegenüber dem Journalisten der Financial Times heraus. "Das bedeutet, die Sichtbarkeit vertrauenswürdiger Informationen im Internet sicherzustellen – und nicht der Propaganda von Minsk oder dem Kreml", fügte sie hinzu und kritisierte die Internet-Plattformen für die Verbreitung von Propaganda aus Weißrussland und seinem engen Verbündeten Russland.
Natürlich sollten hart gesottene Analysten nicht überrascht sein, wie energisch sich die Europäische Kommission als Entwicklungshelfer von Staaten in der Region präsentiert und Weißrussland ein alternatives Modell zum Einfluss Moskaus anbietet. Viele Weißrussen könnten diesen Vorstoß der EU jedoch als Wahnvorstellung betrachten, wenn man bedenkt, wie viel Porzellan die EU in der benachbarten Ukraine zerbrochen hat, wo sie den Bürgern dieses Landes seit 2014 die EU-Mitgliedschaft wie eine Karotte vor der Nase baumeln ließ.
Aber wir sollten nicht vergessen, dass Brüssel eine von Ironie befreite Zone ist. Darüber hinaus ist die EU eine Organisation, die sich weigert, in die Vergangenheit zu blicken und ihre kolossalen Niederlagen in ihren Experimenten als Supermacht zu betrachten. Oder zumindest als Möchtegern-Supermacht. Aber lassen wir uns nicht ablenken. Es scheint, dass sich Frau von der Leyen von der Rolle der EU in Bezug auf die Realität hinreißen lässt, mit der sich bald alle – nicht zuletzt die EU-Steuerzahler – auseinandersetzen müssen.
Dieser Trick der Europäischen Kommission ist natürlich ein getarnter Angriff auf Russland, da braucht man sich nichts vorzumachen. Da die gescheiterte Strategie der NATO nun Schlagzeilen in jenen Mitgliedsstaaten der EU macht, die den Krieg in der Ukraine am vehementesten unterstützt haben, sucht die EU nach Trost in ihren Bemühungen, ein politischer Akteur zu bleiben. Zumindest kann man den Top-Gurus der EU einen geringen Gesichtsverlust garantieren, wenn selbst diese Strategie schiefgehen sollte, daher werden sie von diesem Spiel angezogen wie die Motten vom Licht.
Wir können die tiefere Ironie dieser letzten Showeinlage in der Financial Times jedoch nicht ignorieren. Offenbar wendet sich die EU an jene US-Tech-Giganten, die sie normalerweise wegen wettbewerbswidrigem Verhalten mit Geldstrafen belegt. Mit der Botschaft: "Seht her, helft uns unsere dissidenten Journalisten in Weißrussland zu unterstützen, damit ihre Texte leichter gefunden und gelesen werden können, und wir werden … ähm … das nächste Mal Milde walten lassen, wenn ihr erneut die Kartellvorschriften im freien Markt verletzt." So funktioniert Korruption. Und so funktioniert die EU, wenn sie mit großen Konzernen interagiert, die mehr oder weniger Eigentümer des Europäischen Parlaments sind – und zwar mit Haut und Haaren.
Die weitere Ironie besteht jedoch darin, dass sich die EU, indem sie sich als Schiedsrichterin der freien Meinungsäußerung und gleichzeitig als unerschütterliche Unterstützerin des Journalismus präsentiert, gegenüber Ländern wie Weißrussland sowohl skurril als auch wahnhaft präsentiert. Man könnte auch noch heuchlerisch hinzufügen. In Wirklichkeit hasst die EU die freie Meinungsäußerung und den ungezähmten Journalismus. Der einzige Journalismus, den die EU als genehm befürwortet, ist jene Version, die dermaßen von politischer Korruption durchzogen ist, dass sie stets den Zielen der EU dient, damit diese ihre Botschaften und sich selbst im besten Licht präsentiert bekommt. Jeder, der schon einmal in Brüssel war, wird Ihnen sagen können, dass die Beziehung der Financial Times zur Europäischen Kommission alles andere als normal ist, wie man es von einer großen Zeitschrift und einer mächtigen Institution erwarten würde. In Wirklichkeit behandelt die Europäische Kommission die Financial Times wie ihr Schoßhündchen. Brüssel bestimmt, wie Interviews durchgeführt werden, wann sie durchgeführt werden und zu welchen Themen. Die Financial Times spielt die Rolle des unbezahlten PR-Agenten der mächtigen Europäischen Kommission und erhält dafür im Gegenzug einen direkten Zugang zu den Großkopferten der EU. Mehr Korruption geht nicht.
Und doch wird von uns erwartet, dass wir dieses neueste journalistische Machwerk der Financial Times ernst nehmen, in dem die EU die Rolle einer höheren Instanz einnimmt, die sich als Vorreiter für unabhängigen freien Journalismus präsentiert. Man lese einfach den Artikel und wird feststellen, dass im Interview mit der Vizepräsidentin der Europäischen Kommission auch alle anderen wichtigen Akteure interviewt wurden, von denen man annimmt, dass sie etwas Wichtiges zu diesem Thema zu sagen haben. Außer irgendjemanden in der Regierung in Minsk, mit denen man nicht gesprochen hat. Das wäre ein Verstoß gegen die Hausordnung der EU und gegen die Grundlage der Vereinbarung, die die Europäische Kommission für das Interview vorgelegt hat. Es würde mich überhaupt nicht überraschen, wenn die Kommission den Artikel vor der Veröffentlichung auch noch redigiert hat.
Was für eine absolute Schande und Farce, dass das alternative Modell, das die EU dem weißrussischen Volk zu präsentieren versucht, bis ins Mark von Korruption durchtränkt ist. Es erinnert unweigerlich an die gute alte Zeit der Sowjetunion.
Ersterscheinung in englischer Sprache auf Strategic Culture Foundation.
Martin Jay ist ein preisgekrönter britischer Journalist mit Wohnsitz in Marokko, wo er als Korrespondent für die britische Daily Mail (UK) arbeitet. Zuvor berichtete er von dort aus für CNN und Euronews über den Arabischen Frühling.
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