Von Timofei W. Bordatschow
Die herausragendsten Ereignisse in der internationalen Politik im Jahr 2023 haben gezeigt, dass der Ursprung der aktuellen grundlegenden Veränderungen natürlicher Natur ist und die Hauptprozesse konstruktiv bleiben. Aus diesem Grund wird das vergangene Jahr von zukünftigen Historikern als das Ende der Zeit betrachtet werden, in der die neue Realität mit Beklommenheit wahrgenommen wurde. Der Beginn einer Zeit, in der dieser neuen Realität gegenüber eine konstruktive Haltung entwickelt wurde. Mit anderen Worten: Im Jahr 2023 wurde vielen von uns klar, dass der Zusammenbruch der bisherigen internationalen Ordnung keine Katastrophe bedeutet, sondern erhebliche Vorteile für die Entwicklung auf der ganzen Welt mit sich bringt.
Da die Natur der internationalen Politik auf Tragödien beruht, wird diese Politik immer von Umwälzungen und den Schrecken von Kriegen begleitet werden. Aber etwas versteckt durch all die Dramen, die wir jetzt erleben, zeichnen sich nach und auch Merkmale des Gleichgewichts ab, das die Grundlage für eine zukünftige relativ friedliche und gerechte Ordnung bilden wird. Dies umso mehr, nachdem einige Merkmale dieser neuen Realität bereits sichtbar geworden sind.
Besonders positiv ist, dass das Verhalten der Mächte, die diese neue Realität schultern, weder die Grundlagen der zwischenstaatlichen Beziehungen zerstört hat noch darauf abzielte, eine groß angelegte militärische Konfrontation anzuzetteln. Unter diesen Merkmalen der neuen internationalen Ordnung lassen sich einige der wichtigsten identifizieren.
Erstens, die Entstehung einer demokratischen Multipolarität, symbolisiert durch die Gruppe der BRICS-Staaten. Zweitens, die allmähliche Erosion des Monopols einer kleinen Gruppe von Staaten in verschiedenen Sektoren der Weltwirtschaft. Drittens, die Wiederbelebung der außenpolitischen Aktivität einer größeren Zahl von Ländern, die wir als Weltmehrheit definieren: eine Gruppe von Staaten, die sich keine revolutionären Ziele gestellt haben, sondern danach streben, ihre Unabhängigkeit im Weltgeschehen zu festigen und ihre eigene Zukunft zu bestimmen.
Revision der Weltordnung, nicht ihre Zerstörung
All diese lebhaften Phänomene der Weltpolitik im Jahr 2023 zeigten, dass ein politischer Wandel – um eine Definition aus dem Buch "The Twenty Years Crisis: 1919 – 1939" (Die zwanzigjährige Krise) des britischen Historikers Edward H. Carr zu verwenden – viel wahrscheinlicher ist als ein revolutionärer Wandel, der schon immer die Menschheit in Weltkriege geführt hat. Und jetzt sehen wir, dass selbst die konservativsten Kräfte in internationalen Angelegenheiten, vereint in militärisch-politischen Achsen und unter der Führung der Vereinigten Staaten, entweder auf eine Revision der Ordnung zusteuern, in der sie eine privilegierte Stellung innehatten, oder Verteidigungskämpfe führen, mit dem Ziel, die Voraussetzungen für künftige Verhandlungen zu schaffen. Auch bei den von den BRICS-Staaten angeführten Kräften des Wandels ist der Kampf um Veränderung von der Hoffnung auf eine Revision der internationalen Ordnung geprägt, nicht jedoch von deren endgültiger Zerstörung. Dies ermöglicht es uns, vorsichtig optimistisch in eine gemeinsame Zukunft zu blicken.
Die BRICS entstand zu einer Zeit, als die Dominanz der USA und ihrer engsten europäischen Verbündeten in der Weltpolitik so gut wie vollständig war und sie als Verteiler globaler Privilegien schalten und walten konnten und – was am wichtigsten ist – dieser Zustand für andere Staaten einigermaßen akzeptabel war. Dies ist ein weiteres Phänomen der internationalen Ordnung, von der wir uns jetzt verabschieden, und der Art und Weise, wie dies geschieht. Noch nie zuvor wurde die Ungerechtigkeit gegenüber den Interessen der meisten Länder der Welt so effektiv durch die Vorteile ausgeglichen, die praktisch jedem aus der Globalisierung entstanden sind. Man könnte sogar sagen, dass der Zustand, den wir als liberale Weltordnung kennen, seiner Natur und seinem Inhalt nach eine Übergangsphase zwischen der absoluten Tyrannei der europäischen Imperien des 19. Jahrhunderts und der neuen internationalen Ordnung war, die gerade erst entsteht. Und dies geschieht als Resultat des unvermeidlichen Prozesses des Hervortretens einer Vielzahl souveräner Staaten.
Ursprünglich hatten die Staaten der BRICS im Jahr 2006 das Ziel, ihren Einfluss im Weltgeschehen zu vertiefen und die globale Entwicklung gemäß ihren eigenen Interessen zu gestalten. Ihr Ziel war es nicht, die von den USA geführte Weltordnung zu zerstören, und sie haben auch noch keine derart ehrgeizigen Pläne vorgelegt. Das Hauptmerkmal dieser Vereinigung von Staaten – die souveräne Gleichheit der Mitglieder – unterschied sie zunächst von den bestehenden formellen und informellen Koalitionen des Westens, deren Mittelpunkt die unbestrittene Macht der USA über ihre Verbündeten im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik ist. Aufgrund ihrer Zusammensetzung wird die BRICS nicht in der Lage sein, ähnliche Beziehungen unter ihren Mitgliedsstaaten zu entwickeln.
Als sich jedoch die Krise der liberalen Weltordnung verschärfte, gewannen der Einfluss und die Rolle der BRICS im Weltgeschehen zunehmend an Gewicht. Erstens wuchs die politische Bedeutung der Gruppe – gerade als Signal für eine Alternative zum westlichen Ansatz zur Lösung der Probleme der globalen Entwicklung und der umfassenderen internationalen Agenda. Gleichzeitig haben die Länder der Gruppe noch immer keine Strategien formuliert, die als direkte Herausforderung für den Westen betrachtet werden könnten oder die eine Vision einer "idealen" Weltordnung widerspiegeln, die in ihrer Klarheit mit jener des Westens vergleichbar wäre. Dies ist eine unvermeidliche Folge der fehlenden Hegemonie einer einzelnen Macht innerhalb der Gruppe, in der die Entstehung gemeinsamer Interessen nicht verhindert wird, ihr aber die Möglichkeit nimmt, sich Ziele zu setzen, deren Erreichung die Unterwerfung aller unter Führung eines Einzelnen erfordert.
Trotz ihrer Besonderheiten und der Unterschiede zu traditionellen Institutionen war die BRICS im Jahr 2023 zweifellos das Hauptphänomen in der internationalen Politik. Die Entscheidung zur Erweiterung der Gruppe im August 2023 macht sie im Jahr 2024 zu einer Gemeinschaft großer und mittelgroßer Staaten. Wichtig dabei bleibt, wie die BRICS sich mit ihren neuen Mitgliedern und den sich daraus entwickelnden Partnerschaften mit anderen Staaten ihrem Hauptziel in der Weltwirtschaft nähert – ein Sicherheitsnetz bereitzustellen, um die Globalisierung in einer Zeit am Laufen zu halten, in der ihre früheren Verfechter im Westen diese Funktionen nicht mehr vollständig erfüllen können. Die Schaffung alternativer Finanzmechanismen und die Eingrenzung der Monopolstellung des US-Dollars werden nicht mehr als Mittel zur Zerstörung der alten Weltordnung betrachtet, sondern als notwendige Instrumente, um zu verhindern, dass die Weltwirtschaft ins Chaos stürzt.
Eine neue Ära der internationalen Politik
Dadurch bleiben die wichtigsten Errungenschaften der Globalisierung erhalten – universelle Marktoffenheit, Freihandel und technologischer Austausch. Mit anderen Worten: die strukturellen Möglichkeiten, auf denen die unabhängige Politik der meisten Länder der Welt basiert. Diese Länder machen es sich nicht zur Aufgabe, die bestehende internationale Ordnung umzustürzen und die Globalisierung zu zertrümmern. Allerdings steigern sie sukzessive ihren Grad der Unabhängigkeit bei außenpolitischen Entscheidungen und bei ihren wirtschaftlichen Partnerschaften.
Generell lässt sich die Mehrheit der Länder der Welt in zwei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe geht bereits selbstbewusst unabhängige Wege zur Erreichung der wichtigsten Entwicklungsziele und agiert als Partner sowohl des Westens als auch seiner Rivalen. Die zweite Gruppe erhöht lediglich ihre Forderungen an die USA und ihre Verbündeten hinsichtlich der Bedingungen für die Aufrechterhaltung formell respektvoller Beziehungen. Beide Verhaltensweisen sind jedoch Zeichen einer neuen Ära in der internationalen Politik.
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Ersterscheinung in russischer Sprache beim Valdai Discussion Club. Aus dem Englischen.
Timofei W. Bordatschow (geboren 1973) ist ein russischer Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der HSE Universität in Moskau. Unter anderem ist er Programmdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.