Von Pierre Lévy
Ist es das Bedürfnis, Seiten zu füllen, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Nachrichten angeblich eine Pause einlegen? Oder ist es gar die Besorgnis angesichts der Skepsis der Bevölkerung über die Fortsetzung des "großen europäischen Abenteuers"? Oder war es vielleicht die letzte Ehre, die vor Jahresende 2023 den EU-Politikern in Brüssel verliehen wurde?
Immerhin veröffentlichte Le Monde in ihrer Ausgabe vom 31. Dezember und am 1. Januar eine von der Soziologin Dominique Méda unterzeichnete Kolumne, in der diese die "soziale Wende der Europäischen Union" lobte. Nachdem man vorsichtshalber überprüft hat, dass es sich tatsächlich um den 1. Januar und nicht etwa schon um den 1. April handelt, ist die Neugier groß, die Wesenszüge dieser "Revolution" zu entdecken, die den einfachen Bürgern der EU offensichtlich entgangen war.
Die Autorin zitiert zunächst die Studie eines amerikanischen Ökonomen, demzufolge
"die Globalisierung – zusammen mit dem Freihandel, der Liberalisierung des Kapitals und der Automatisierung – (...) seit den 1990er Jahren (...) die Hauptverantwortung für die starke wirtschaftliche Unsicherheit bestimmter Bevölkerungsgruppen trägt".
"Die Deindustrialisierung, die Standortverlagerungen und die Verzerrung der Aufteilung zwischen Kapital und Arbeit haben sich zum Nachteil dieser sozialen Gruppen ausgewirkt", fügt die Soziologin ihrerseits hinzu.
Sie weist auf die politischen Folgen hin: "Diese Situation hätte logischerweise der Linken zugutekommen müssen, aber den politischen Führern der extremen Rechten ist es gelungen, sie zu ihrem Vorteil zu wenden". Um die Partei von Marine Le Pen zu besiegen, müsse man dringend "mit einer auf die Bedürfnisse des Kapitals zugeschnittenen Globalisierung brechen, um ein neues Gleichgewicht zugunsten der Arbeit zu erreichen".
Leider, liest man Dominique Méda förmlich seufzen, habe die französische Regierung "diesen Weg nicht gewählt, ganz im Gegenteil". Wenn man das Rassemblement National durch die AfD und Paris durch Berlin ersetzt, hätte die Autorin denselben Artikel auch an die Adresse des Bundeskanzlers schreiben können. Aber zum Glück gebe es die Europäische Union, denn, so schwärmt sie: "Es sind die Europäische Kommission und das Europäische Parlament, die eine soziale Wende einzuleiten scheinen."
Sie führt drei Beispiele an, welche zumindest die Leser der Tageszeitung der liberalen Eliten Frankreichs vollends überzeugen dürften. Das erste betrifft die Richtlinie über die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Personen, deren Einkommen von einer digitalen Plattform abhängt. Zur Erinnerung: Dieser Text listet die Kriterien auf, die es bestimmten "Scheinselbstständigen" ermöglichen sollen, einen sogenannten "Arbeitnehmerstatus" zu beanspruchen.
Die "Uber"isierung trage in sich die Logik des "Sozialdumpings, dem sich die zahlreichen Plattformen hingeben, die sich den arbeitsrechtlichen Verpflichtungen entziehen und der Sozialversicherung Beiträge in Höhe von Hunderten Millionen Euro entgehen lassen", stellt Dominique Méda zu Recht fest und freut sich, dass die künftige EU-Richtlinie auf diese Weise einige Sklaven der modernen Zeit aus dem Wasser fischen kann.
Sie übersieht jedoch ein Detail: Es sind gerade die EU-Institutionen – deren Kommission, der Rat und das Parlament –, die gemeinsam die Deregulierung des Arbeitsmarktes vorangetrieben und organisiert haben und damit die Bedingungen für die Entwicklung der Firmen Uber und Co. geschaffen haben. In Frankreich hatte das 2016 hochumstrittene und doch verabschiedete El-Khomri-Gesetz eine (leider vergebliche) gewerkschaftliche Massenmobilisierung gegen die "Flexibilisierung" des Arbeitsrechts ausgelöst. Dieses Gesetz war direkt aus den "Empfehlungen" abgeleitet, die die Brüsseler Kommission an Frankreich gerichtet hatte.
Auch heute noch macht die gleiche EU-Kommission die Auszahlung von Post-COVID-Subventionen an die Mitgliedsstaaten davon abhängig, ob und wie eifrig diese ihre neoliberalen "Reformen" umsetzen. Letztere haben nicht gerade den Schutz der Rechte von lohnabhängig Beschäftigten in der Europäischen Union zum Ziel...
Das zweite Beispiel, das angeführt wird, ist ähnlich. Es betrifft die "Richtlinie über die Sorgfaltspflicht der Unternehmen in Bezug auf die Nachhaltigkeit" (die Wortwahl ist ein schönes Beispiel für technokratische Poesie). Der besagte Text fordert die Unternehmen auf, "die Menschenrechte und die Auswirkungen auf die Umwelt in ihrer gesamten Lieferkette zu respektieren". In Brüssel stilisiert man sich also nicht nur gern zur Speerspitze der Verteidigung der Proletarier des alten Kontinents, sondern auch der Benachteiligten auf der ganzen Welt.
Erfreut über diesen plötzlichen Brüsseler Kreuzzug prangert die Soziologin nun an, "wie der freie Kapital- und Warenverkehr es transnationalen Unternehmen ermöglicht hatte, sich von der sozialen und ökologischen Verantwortung zu emanzipieren, die zuvor durch nationale Rechte auf ihnen lastete", übersieht dabei aber völlig, dass der freie Kapital- und Warenverkehr der symbolträchtigste rote Faden der europäischen Integration ist. Zusammen mit der Freizügigkeit von Arbeitskräften und Dienstleistungen ist diese "vierfache Freiheit" der Freizügigkeit sogar in den Gründungsverträgen verankert.
Das dritte Beispiel stammt aus der künftigen EU-Verordnung zur sogenannten Künstlichen Intelligenz. In dem Text wird eine Typologie von Bereichen mit "inakzeptablem Risiko", "hohem Risiko" und "begrenztem Risiko" erstellt. Und es werden Ziele für die Transparenz von Algorithmen festgelegt. Aber die Autorin lobt vor allem "mehrere Bestimmungen, die zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen beitragen". Welche sind das? Von wem? Leider gibt sie dies, sicher nur aus Platzmangel, nicht an.
Schließlich, so freut sie sich, "verdient ein letzter Fortschritt Erwähnung. Es handelt sich zwar nur um einen nicht bindenden Antrag des Europäischen Parlaments, zeigt aber einen innovativen Weg auf". Der Antrag fordert die EU unter anderem auf, in einen "ökologischen Übergang zu investieren, der hochwertige Arbeitsplätze schaffen wird". Laut den Europaabgeordneten würden somit "1,4 Millionen Arbeitsplätze für Gering- und Mittelqualifizierte sowie 450.000 Arbeitsplätze für Hochqualifizierte geschaffen, wenn die Investitionen in die Gebäudesanierung steigen und der Energieverbrauch fossiler Brennstoffe für Heizzwecke sinkt".
Diese Zahlen – deren Berechnungsmethode ebenfalls unbekannt bleibt – sind mit anderen Zahlen zu vergleichen, die im Jahr 2020 von Luc Triangle genannt wurden, einem belgischen Gewerkschaftsführer, der damals an der Spitze des europäischen Gewerkschaftsverbands IndustriALL European Trade Union stand. Diese (die wirklich keine antieuropäische Gewerkschaft ist) wies damals auf die Folgen des "Green Deal" hin, den die Brüssel Behörde zur "Rettung des Planeten" ausgeheckt hatte: "Wir sprechen hier von etwa 11 Millionen Arbeitsplätzen, die direkt in der Rohstoffindustrie, der energieintensiven Industrie und der Automobilindustrie betroffen sind." So sind also 11 Millionen Arbeitsplätze direkt bedroht.
Also ist Brüssel als Ritter des sozialen Fortschritts gegenüber widerspenstigen Staaten bekannt? Diese Behauptung löst unwillkürlich ein Lächeln aus. Und selbst wenn sie nicht absurd wäre, vergessen diejenigen, die daran glauben, dass hier noch nie soziale Errungenschaften von oben herab verliehen wurden, sondern nur durch Kampf erreicht werden können.
Das hindert das Monster eines angeblich "sozialen Europas" jedoch nicht daran, regelmäßig wieder aus den trüben Gewässern aufzutauchen. Bereits 1997 hielt die Sozialistische Partei Europas einen Kongress in Malmö ab, auf dem dieser Slogan zu hören war. Mit dem Amtsantritt von Anthony "Tony" Blair in London, Lionel Jospin in Paris und dem bevorstehenden Amtsantritt von Gerhard Schröder in Berlin würde die Sozialdemokratie endlich die letzten Hindernisse auf dem Weg zu einem wahrhaft "sozialen" Europa aus dem Weg räumen.
Bereits ein Jahrzehnt zuvor hatte François Mitterrand, als er gerade zum Präsidenten gewählt worden war, feierlich verkündet: "Europa wird sozial sein oder es wird nicht sein."
Die Folgen sind uns allen wohlbekannt.
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