Von Scott Ritter
Das vielleicht wichtigste Ereignis des zu Ende gehenden Jahres war die mit Spannung erwartete Gegenoffensive der Ukraine im vergangenen Frühjahr. Sozusagen die NATO-Version der deutschen Offensive in den Ardennen vom Dezember 1944 – ein letzter Versuch, alle verbleibenden Reserven in eine verzweifelte Schlacht zu stürzen, einen Gegenschlag zu erzielen, gegen einen Gegner, der die strategische Initiative bereits ergriffen hatte. Jeder vernünftige Militäranalytiker hätte die Unvermeidlichkeit einer ukrainischen Niederlage vorhersagen können. Man kann nicht mit gutem Gewissen davon sprechen, einen Frontalangriff auf eine stark verteidigte, gut vorbereitete Abwehrstellung mit Kräften zu starten, die für diese Aufgabe weder ausgerüstet, organisiert noch ausgebildet sind.
Das Ausmaß an Wahnvorstellungen, die mit den Erwartungen der Ukraine und der NATO einhergingen, unterstreicht nur die Verzweiflung, die dieser Sache zugrunde lag. Die Unterstützung des Westens für die Ukraine war stets oberflächlicher Natur, wobei die Innenpolitik Vorrang vor der globalen Realität hatte. Die Ignoranz derjenigen, die glaubten, die Ukraine könne die russischen Verteidigungsanlagen durchbrechen, wurde von jenen übertroffen, die glaubten, dass durch die kombinierte Wirkung von Wirtschaftssanktionen und einem ewigen Krieg in der Ukraine ein Maidan in Moskau entstehen könnte.
Die Gegenoffensive ist die Manifestation der Russophobie, die den kollektiven Westen erfasst hat, wo Unwissenheit die Fakten übertrumpft und Wahnvorstellungen die Realität verdrängen. Die gescheiterte Gegenoffensive der NATO und der Ukraine hat Russland keineswegs geschwächt, sondern sie erwies sich als Brutstätte für die Geburt eines mächtigeren, selbstbewussteren und widerstandsfähigeren Russland, das sich nicht länger als Mitglied zweiter Klasse innerhalb der Weltgemeinschaft herabstufen lässt.
Der 7. Oktober: Der Krieg zwischen Israel und der Hamas
Am 6. Oktober 2023 lag Israel an der Weltspitze. Tel Aviv hatte erfolgreich die Regierung von US-Präsident Joe Biden dahin gehend eingeschüchtert, eine Zweistaatenlösung in der Palästinafrage zu vergessen. Stattdessen vertraten die Machthaber in Tel Aviv die Vision eines Großisraels, was den fortlaufenden Diebstahl palästinensischen Bodens beschönigte, durch die unkontrollierte Unterstützung illegaler israelischer Siedlungen. Gleichzeitig konzentrierte man sich auf die umfassenderen geopolitischen Vorteile von normalisierten Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Golfstaaten. Die israelischen Streitkräfte galten als das beste Militär in der Region und wurden von einem Geheimdienst und einem Sicherheitsapparat unterstützt, der den legendären Ruf hatte, alles über alle zu wissen. Dann kam der 7. Oktober und der Überraschungsangriff der Hamas.
Alle Gespräche über eine israelisch-arabische Normalisierung wurden beendet. Die israelischen Streitkräfte wurden von der Hamas in Verlegenheit gebracht und von der Hisbollah übertrumpft. Der israelische Geheimdienst wurde als eine substanzlose Sage entlarvt, dessen größte Errungenschaft ist, eine durch künstliche Intelligenz gesteuerte Software zu besitzen, die das Töten von palästinensischen Zivilisten erleichtert.
Die neue Realität im Nahen Osten wird nun von zwei miteinander verbundenen Sachverhalten geprägt: der Notwendigkeit eines palästinensischen Staates und der Unvermeidlichkeit einer strategischen israelischen Niederlage. Die Wege zur Lösung jedes dieser Sachverhalte werden nicht einfach zu beschreiten sein und diese können sich eher über Jahre als nur über Monate erstrecken. Aber eines ist sicher: Diese neue geopolitische Realität wäre ohne die Ereignisse vom 7. Oktober nicht möglich gewesen.
Der Aufstand in der Sahelzone
Innerhalb von drei Jahren hat sich Françafrique, der postkoloniale, von Frankreich dominierte Einflussbereich in der Sahelzone auf dem afrikanischen Kontinent, als Sprungbrett für die Projektion französisch geführter Macht der USA und der EU entkoppelt. Zur militärischen Machtprojektion gehörten ein Versuch, die Kräfte des islamischen Aufstands zu besiegen, bis hin zur Demütigung und Niederlage, herbeigeführt durch Nationalisten, die profranzösische Regierungen stürzten und sie durch antifranzösische Regimes ersetzten. Beginnend mit Mali im Jahr 2021, gefolgt von Burkina Faso im Jahr 2022 und schließlich Niger im Jahr 2023: Der Ausbruch der Sahelzone aus Françafrique war ebenso dramatisch wie entscheidend. Offenbar konnten Frankreich und seine Verbündeten nichts tun, um diesen Trend der antifranzösischen Stimmung in der Region umzukehren. Am Ende scheiterte sogar die Drohung einer militärischen Intervention von außen, um den Putsch in Niger rückgängig zu machen, angesichts der einheitlichen kollektiven Verteidigungsbereitschaft der drei ehemaligen französischen Kolonien.
Die dramatische Vertreibung Frankreichs aus der Region ging mit dem Aufstieg einer neuen Regionalmacht einher – Russland. Der Aufstieg des neuen regionalen Bündnisses zwischen Mali, Burkina Faso und Niger fiel mit einer selbstbewussteren russischen Außenpolitik zusammen, die darauf abzielte, gemeinsame Sache mit einem Afrika zu machen, das immer noch von den Fesseln der postkolonialen Existenz befreit werden muss. Der russische Ansatz wurde durch den Erfolg des russisch-afrikanischen Gipfels im vergangenen Sommer in Sankt Petersburg aufgegleist und der die seitdem entstandenen und zunehmenden Wirtschafts- und Sicherheitsbeziehungen zwischen Russland und vielen afrikanischen Staaten bestätigt. Die russische Trikolore scheint die Flagge Frankreichs, als einflussreichstes Symbol für ausländisches Engagement in dieser Region, abgelöst zu haben.
Die Erweiterung der BRICS
Im Jahr 2022 war China Gastgeber des 14. Gipfeltreffens des Wirtschaftsforums BRICS, unter Teilnahme der Mitgliedsländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Auf diesem Gipfel strebten die BRICS-Staaten nach Erweiterung, konnten aber nicht mehr erreichen, als über die Schaffung eines sogenannten "Währungskorbs" zu sprechen, der die globale Vormachtstellung des US-Dollars infrage stellen sollte, und wehmütig über die Möglichkeit einer Öffnung ihrer Organisation für andere Nationen zu sprechen.
Dann kam der 15. BRICS-Gipfel in Südafrika. Von einem Forum mit ungenutztem Potenzial explodierte BRICS auf der internationalen Bühne zu einem multilateralen Konkurrenten der US-amerikanischen Singularität. Die BRICS-Staaten stellten sich als ernst zu nehmende Herausforderer der von den USA auferlegten "regelbasierten internationalen Ordnung" auf, die seit dem Zweiten Weltkrieg den globalen geopolitischen Diskurs dominiert. Die Ereignisse, die dabei halfen, die BRICS-Staaten ins Zentrum des Geschehens zu bringen und auf die Bühne globaler Bedeutung zu schieben, stellten sozusagen einen perfekten Sturm geopolitischen Unglücks dar: Die Niederlage des kollektiven Westens durch Russland in der Ukraine, der Zusammenbruch von Françafrique in der Sahelzone, und die zunehmende Dominanz Chinas in der globalen Wirtschaftsrealität.
Der in Südafrika ausgerichtete BRICS-Gipfel erwies sich als perfekter Kontrapunkt zum gemeinsamen Pathos des Gipfeltreffens der G-7-Staaten in Hiroshima und des NATO-Gipfels in Vilnius. In Hiroshima und in Vilnius wurde die Ohnmacht des Westens für die ganze Welt sichtbar. Im krassen Gegensatz dazu stellte die Virilität der BRICS eine multilaterale Alternative dar, die sich für viele Nationen als attraktiv zeigte, einschließlich der sechs Staaten, die im Rahmen der Expansionsstrategie am 1. Januar 2024 in die BRICS aufgenommen werden: Ägypten, Iran, Äthiopien, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Argentinien hat nach der Wahl von Javier Milei zum Staatspräsident im Dezember 2023 seine Ambitionen auf Mitgliedschaft zurückgezogen. Dazu kommen vierzehn weitere Nationen, die offiziell Anträge auf einen Beitritt zur BRICS im Jahr 2024 einreichen werden, in dem Jahr, in dem Russland den Vorsitz der Organisation übernimmt. BRICS hat die G7 hinsichtlich einer kollektiven wirtschaftlichen Schlagkraft überholt, und der geopolitische Einfluss ist so groß, dass es in den kommenden Jahren sowohl die G7 als auch die NATO hinsichtlich der allgemeinen internationalen Relevanz übertreffen wird.
Die USA als nackter Kaiser
Die Vereinigten Staaten geben jährlich fast eine Billion US-Dollar für ihre Verteidigung aus – mehr als die gesamten Verteidigungsausgaben ihrer zehn engsten Rivalen kombiniert. Dieses Geld finanziert die strategische nukleare Abschreckung und das konventionelle Potenzial militärischer Machtprojektion der USA. Angesichts der enormen Summe, um die es hier geht, müsste man davon ausgehen, dass die Dominanz der US-Militärmacht weltweit unübertroffen bleibt. Seltsamerweise ist dies nicht der Fall.
Indem Russland nur einen Bruchteil dessen ausgibt, was die USA für ähnliche militärische Bedürfnisse ausgeben, hat Moskau die Vereinigten Staaten in Bezug auf die strategischen Nuklearstreitkräfte überholt. Die USA benötigen eine umfassende Modernisierung ihrer nuklearen Triade – der landgestützten und von U-Booten abgefeuerten ballistischen Raketen und bemannter Langstreckenbomber –, die ihre nukleare Angriffsfähigkeit ausmacht. Während erneuerte Systeme in Arbeit sind, wird es mehr als ein Jahrzehnt dauern, bis diese Systeme einsatzbereit sind, und die Kosten dafür werden sich auf Hunderte Milliarden Dollar belaufen – oder auch mehr, wenn man die Geschichte der Ineffizienzen und der Überschreitung der Kosten in der US-Verteidigungsindustrie berücksichtigt.
Russland hat unterdessen damit begonnen, fortschrittliche Raketen in Dienst zu stellen. Raketen, mit denen die US-Raketenabwehr überwunden werden kann, sowie moderne U-Boote und bemannte Langstreckenbomber. Traditionelle Möglichkeiten, die den USA zunutze kamen, um die strategischen Fortschritte Russlands auszugleichen – etwa die Rüstungskontrolle –, stehen aufgrund der kurzsichtigen US-Politik nicht mehr zur Verfügung. Das Drehbuch wurde sozusagen umgeschrieben. Nun sind es die USA, die sich am unteren Ende beim nuklearen Ausgleich befinden. Diese nachteilige Lage wird durch die Zunahme bei den strategischen Nuklearkapazitäten Chinas zusätzlich noch verschärft.
Bisher behielten die USA eine konventionelle Streitkräftestruktur bei, die in der Lage gewesen wäre, zweieinhalb Kriege gleichzeitig zu führen – einen in Europa, einen in Asien und einen Halbkrieg im Nahen Osten, bis der Sieg auf einem der ersten beiden Kriegsschauplätze errungen ist, und die frei gewordenen Kräfte neu eingesetzt werden können. Wenn heute die USA versuchen wollen, eine globale Präsenz aufrechtzuerhalten, die der des Kalten Krieges entspricht, so sind sie nicht mehr in der Lage, allein einen großen Konflikt zu bewältigen und zu gewinnen. Die USA haben ihr konventionelles Potenzial in Europa ausgeschöpft und dort rund 100.000 Soldaten zur Unterstützung der NATO stationiert. Dies hat dazu geführt, dass das gemeinsame militärische Kampfpotenzial der NATO so weit verkümmert ist, dass kein NATO-Staat mehr über eine lebensfähige militärische Fähigkeit verfügt. Die kollektive Ohnmacht der NATO wird in der Ukraine deutlich, wo eine russische Armee dabei ist, ein von der NATO ausgebildetes und ausgerüstetes ukrainisches Militär zu demontieren.
Im Pazifik sehen sich die USA mit der Tatsache konfrontiert, dass ihnen die militärische Macht fehlt, um Taiwan angesichts einer möglichen chinesischen Militäroperation zu verteidigen. Es gab große Fortschritte bei der Treffgenauigkeit und Letalität chinesischer Abstandswaffen, einschließlich neuer fortschrittlicher Hyperschallraketen, die zumindest theoretisch die US-Luftverteidigungssysteme überwinden könnten, die das Herzstück der Machtprojektion der USA schützen – die Verbände der Flugzeugträgergruppen. Diese Schwachstelle beschränkt sich nicht nur auf einen möglichen Konflikt mit China – die US-Marine hat Flugzeugträgergruppen vor der Küste des Libanons, im Persischen Golf und im Roten Meer stationiert. Dort sind sie jedoch an einer entscheidenden militärischen Intervention gehindert, aus Angst, dass Raketen, die von der Hisbollah, dem Iran und den Huthi aus Jemen abgefeuert werden, das sichtbarste Symbol amerikanischer Militärmacht beschädigen oder versenken könnten.
Mit einem Haushalt von fast einer Billion US-Dollar würde man erwarten, dass die USA sich weltweit mit einem Militär präsentieren könnte, das in Bezug auf Fähigkeit und Letalität seinesgleichen sucht. Stattdessen wurden die USA als Kaiser ohne Kleidung entlarvt, dessen Nacktheit auf einer globalen Bühne, die sich an den Prunk und Pomp der amerikanischen Militärmacht gewöhnt hatte, eine Quelle der Verlegenheit darstellt. Die Demütigung der US-Marine durch die Huthi ist nur der jüngste Ausdruck eines Trends, der die militärische Schwäche der USA offenlegt. Dieser Trend wird sich im Jahr 2024 fortsetzen und noch zusätzlich verstärken.
Mehr zum Thema – Warum das Pentagon zu einem ein Multi-Billionen-Dollar-Betrugsapparat geworden ist
Aus dem Englischen.
Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie und Autor. Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung betreffen. Man kann ihm auf Telegram und auf X unter @RealScottRitter folgen.