Von Wladislaw Sankin
Sie pressen unfreiwillig entschuldigende Erklärungen hervor und wollen damit die Wogen glätten – die Insassen der russischen Fernsehshows, die sie seit Jahrzehnten bevölkern, sind in Sorge: Ihre Teilnahme an Silvester-Programmen und Filmproduktionen ist gefährdet. Es gibt ernstzunehmende Gerüchte, dass Sequenzen mit ihrer Teilnahme "gecancelt werden". Bei manchen werden schon Konzerte abgesagt und Werbeverträge gekündigt. Ihr "Vergehen": Sie feierten am 20. Dezember bei der sogenannten "Fast nackt"-Party im Moskauer Klub "Mutabor" mit – RT DE berichtete.
Die Veranstaltung mit hunderten Gästen wurde von Bloggerin und Moderatorin Nastja Iwlejewa organisiert. Sie hat 4,5 Millionen Abonnenten auf Youtube und 18 Millionen auf Instagram. Ihr "Markenzeichen" sind Freizügigkeit, freche Sprüche und zur Schau gestellter Reichtum. Sie sorgte persönlich dafür, dass bei der Party Fotografen auftauchten und so viele Bilder wie möglich ins Netz gestellt wurden. Auf einem der Videos präsentierte die Bloggerin stolz auf dem Po ihre Diamantkette für 23.000.000 Rubel (umgerechnet 200.000 Euro). Dieser Po, vor die Nase der einfachen Russen gesetzt, ist zum Symbol jener Party geworden.
Iwlejewa ist auch erfolgreiche Unternehmerin, inzwischen gehört ihr ein kleines Firmengeflecht. Am Dienstag fanden in den Büros ihrer Firmen Durchsuchungen statt, sie wird verdächtigt Steuerhinterziehung in Höhe von 137.000.000 Rubel (ca. 1,3 Mio. Euro) begangen zu haben. Nach Angaben russischer Medien seien die Vorwürfe nicht neu – Informationen, dass sie ihre Gewinne nicht korrekt versteuert habe, fänden sich seit April.
Der Eintritt zur Iwlejewa-Party soll eine Million Rubel (10.000 Euro) gekostet haben. Für dieses Geld kann man einen Hilfstransport für die notleidende Bevölkerung in kriegsnahen Gebieten organisieren und noch ein paar Aufklärungsdrohnen für die Soldaten oben drauflegen. Seit Beginn der Sonderoperation Russlands ist die russische Kunst- und Kulturszene sowie Vertreter der Unterhaltungsbranche in drei ungleiche Teile gespalten. Nicht wenige teilten die Meinung des Westens zum Ukraine-Krieg und haben aus Protest das Land verlassen. Viele von ihnen ätzen nun gegen die "aggressive" Heimat mit öffentlicher Kritik, einige spenden sogar für die Ukraine.
Ein anderer Teil der Kultur-Prominenz reist regelmäßig an die Front, gibt Konzerte und sammelt Spenden. Einige von ihnen haben das schon seit 2014 getan – dafür wurden sie in der Branche ausgegrenzt. Diese Freiwilligen mussten für ihr Engagement bisweilen auch mit dem Leben bezahlen: Die Choreografin und Regisseurin Polina Menschich starb während eines Konzerts für Soldaten bei einem HIMARS-Beschuss. Der bekannte Schauspieler und Direktor eines Theaters, Sergei Puskepalis, starb bei einem Autounfall, als er einen Lieferwagen, den er für eigenes Geld für den Transport der Hilfsgüter in den Donbass gekauft hatte, ins Kriegsgebiet fuhr. Der Schauspieler und engagierter Freiwillige Iwan Ochlobystin entging nur knapp bei einem Beschuss im Dezember dem Tod.
Ein großer Teil der Szene stellt demgegenüber eine Art "Sumpf" dar. Viele geben sich unpolitisch oder stehen Konflikten, in die das Land geraten ist, im Stillen ablehnend gegenüber. Einige verzichten wiederum auf Kritik oder bekunden sogar öffentlich ein Minimum an "Patriotismus". Damit hätten sie sich "freigekauft", denken sie offenbar bei sich, um ihren ausschweifenden, zur Schau gestellten Lebensstil beizubehalten. Der Skandal um die "Fast nackt"-Party zeigt, dass dieser "Vertrag" mit Politik und Gesellschaft jetzt einseitig aufgekündigt wurde. Nun stellt ebendiese Gesellschaft, die ihrerseits spendet und hilft, folgende Fragen:
"Alle meine Freunde haben verkauft, was sie konnten, um das so dringend benötigte Geld an die Front zu bringen. Iwlejewa hat mit Snacks 445.000.000 Rubel verdient. Wie viel davon wurde für Prothesen ausgegeben? Kirkorow, Bilan, Jigan, Lolita, wo sind eure Konzerte an der Front? Postet Fotos von euren kugelsicheren Westen, die ihr an der Front tragt. Ach ja, ihr habt um Verzeihung gebeten, und jetzt wird alles wieder so sein wie früher?"
Diese Gesellschaft ist nun wütend und sie möchte auch wütend bleiben. Während die einfachen Söhne Russlands an der Ukraine-Front sterben, zahlt ein Rapper eine Million Rubel, um dieser Gesellschaft seine in eine Socke gekleideten Genitalien zu zeigen. Seine mit obszöner Sprache durchsetze "Kunst", mit der er sein Geld verdient, ist ein Manifest der Vulgarität und Unkultur. "Und dann gibt es Mütter und Ehefrauen, Witwen und Väter, die ihren einzigen Sohn verloren haben, die den Fernseher einschalten und einen Mann sehen, der genauso alt ist wie ihr toter Sohn, dessen Porträt in Tarnfarben unter einem schwarzen Trauerband an der Wand hängt. Und [dieser Mann im TV] ist nackt und steht mit einer Socke am Schwanz da. Können Sie sich dieses Bild vorstellen: das Porträt eines toten Helden Russlands über dem Fernseher, zusammen mit diesem Bastard im Hosenlatz auf dem Bildschirm. Dafür ist er also gestorben?"
Die "Fast nackt"-Party in Moskau war an sich nichts Außergewöhnliches. Seit Anfang der 1990er Jahren haben sich diese "Stars" im russischen Fernsehen eingenistet und ihren Lebensstil gefeiert. Bislang gaben sie in der Unterhaltungsbranche den Ton an. Das Land hat sich seitdem vielfach verändert, sie nicht. Nun findet der Aufstand gegen diesen ausgedienten Prominenten-Klan statt. Die Wut richtet sich aber nicht gegen die Personen selbst, sondern gegen die Verkommenheit und Geschmacklosigkeit, die sie verkörpern.
"Wir 'canceln' Iwlejewa und den Rest der 'Nackt-Party' nicht. Wir sind begierig nach echter Kultur. Nach einem Fernsehen, das unsere Helden feiert, nach Schauspielern, die auf die Bühne gehen und mit Tränen in den Augen Kriegsprosa lesen, so dass die Wände beben. Wir suchen in leeren Kinosälen nach Gesichtern, die auf der Leinwand das sagen, was sie im Leben sagen. Wir canceln Lügen und Verrat, Betrug und Hass auf unser Land und unsere Geschichte."
Ich habe an dieser Stelle den Namen des hier zitierten Telegram-Bloggers mit Absicht nicht genannt. Sein Name ist unwichtig, er bringt das auf den Punkt, was es täglich tausendfach zu lesen und zu hören gibt – in Blogs und Interviews, in Facebook-Kommentaren und russischen Küchengesprächen. Auch dafür, dass diese Stimmen gehört werden, hat Russland seit fast zwei Jahren mit Waffen gekämpft. Ob der gewünschte Wandel aber tatsächlich eintritt oder nur ein paar Gesichter am Prominenten-Himmel "ausgetauscht" werden, bleibt abzuwarten.
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