Der demokratische Antidemokrat – Zum Tod von Wolfgang Schäuble

Hätte sich Schäuble 2010 nicht durchgesetzt, stünden die EU und Deutschland heute besser da. Dass er sich durchgesetzt hat, lag an seinem Willen zur Macht. Er strebte unter den Bedingungen der Demokratie nach absoluter Herrschaft. Makroökonomische Zusammenhänge blieben ihm bis zum Tod fremd.

Von Gert Ewen Ungar

Wolfgang Schäuble ist tot. Er starb im Alter von 81 Jahren im Kreise seiner Familie. Schäuble konnte auf eine lange politische Karriere zurückblicken, die nicht frei von Skandalen war. Schäuble war durch und durch Machtpolitiker, wollte bestimmen, dominieren, dem politischen Gegner Niederlagen beibringen. Der Machtkampf trieb ihn an, nicht die Suche nach guten und sinnvollen Lösungen. Das trieb oftmals absurde Blüten.

Als Innenminister zettelte er eine Diskussion um den Einsatz der Bundeswehr im Innern an. Er wollte durchsetzen, dass das Recht zum Abschuss eines Passagierflugzeugs in einer Gefahrenlage gesetzlich verankert wird. Das Bundesverfassungsgericht schob dem einen Riegel vor. Schäuble blieb weiter dran und wollte sich durchsetzen. Dafür sollte das Grundgesetz geändert werden und neben dem Verteidigungsfall eine Quasi-Verteidigungsfall eingeführt werden, der den Einsatz der deutschen Luftwaffe ermöglichen sollte. Die Diskussion zog sich ab 2007 über mehrere Jahre hin. Der Fall war völlig hypothetisch, Schäuble vom Durchsetzungswunsch besessen. 

Welcher Preis für Kompromisslosigkeit zu zahlen ist und wer ihn zu zahlen hat, interessierte ihn nicht. Wolfgang Schäuble interessierte nur das Obsiegen und Niederringen im politischen Kampf. Den Kompromiss verachtete er. Für die Demokratie war er damit eigentlich ungeeignet. Auch wenn er im Fall des Einsatzes der Bundeswehr im Innern eine Niederlage erlitt, generell hatte er Durchsetzungsvermögen, keine Frage.

Gegen jede ökonomische Vernunft zwang er als Finanzminister und Mitglied der Euro-Gruppe zur Bekämpfung der Finanzkrise in den Jahren nach 2010 Griechenland zu einem absurd strengen Austeritätskurs, von dem sich das Land bis heute nicht erholt hat. Er schrieb nicht nur Deutschland die Schuldenbremse ins Grundgesetz, sondern wollte sie zum Standard für die Länder der EU erheben. Dieses Mal konnte er sich weitgehend durchsetzen.

Der Preis dafür: Seitdem geht es mit der EU ökonomisch bergab. Der von Schäuble verordnete Austeritätskurs hat sie von der globalen Entwicklung entkoppelt. Für die Durchsetzung seiner Ideen von Sparsamkeit war Schäuble bereit, die Griechen hungern zu lassen. Er wollte das Land vom Zugang zum Euro abschneiden, sollten seine bizarren Vorstellungen von Volkswirtschaft nicht umgesetzt werden. 

In der EU ist Schäuble daher "umstritten", um es vorsichtig auszudrücken. Was er Griechenland angetan hat, ist nicht vergessen. In Deutschland gilt er in Verkennung der Tatsachen dennoch als "glühender Europäer", denn er hat die EU das Deutsch-Sprechen und die deutschen Tugenden gelehrt. Er zwang die EU unter die deutsche Knute. Man wird ihm das nicht vergessen.

Faktisch hat er damit wie kein anderer der EU und ihrer Idee geschadet. Rückblickend wird man sagen, Schäuble hat mit seinem Bestehen auf Austerität den Anfang vom Ende der EU eingeleitet. Seitdem schleppt sie sich von Krise zu Krise, die Fliehkräfte nehmen zu. Dass es keine Solidarität, sondern nur Konkurrenz unter den Ländern der EU gibt, im Ernstfall jedes Land daher für sich alleine steht, hat Schäuble wie kein anderer vorgeführt. Es hat sich während der Zeit der Corona-Maßnahmen wiederholt, und wiederholt sich auch in den diversen Flüchtlingskrisen. Schäuble hat jede Hoffnung auf eine geeinte EU zerstört.  

Dass es ziemlicher Unsinn war, sich die Schuldenbremse ins Grundgesetz zu schreiben, dämmert inzwischen dem ein oder anderen Verantwortlichen in Berlin. Ohne Investitionen gibt es kein Wachstum. Wer Wachstum und Wohlstand will, darf vor Schulden nicht zurückschrecken. Diesen Zusammenhang hat Wolfgang Schäuble nie verstanden, er hätte daher nie Finanzminister werden dürfen. Seine Nachfolger übrigens auch nicht. 

Die Finanzkrise machte auch deutlich, wie wenig der "glühende Europäer" von Demokratie, Wahlen und Referenden hielt. 

"Dass Wahlen Wirtschaftspolitik ändern, darf nicht zugelassen werden", war seine Position.

Mit dieser Aussage entkernte Schäuble die demokratische Idee völlig und machte sie zur bloßen Fassade. Nein, Wolfgang Schäuble war kein Demokrat. Demokratie und alles, was damit zusammenhängt, war ihm zuwider. Damit aber passte er wiederum gut zur immer autokratischer agierenden, deutsch-sprechenden EU.  

Meinungsfreiheit war ihm nur dann genehm, wenn sie seiner Meinung entsprach. RT würde den Grundsätzen der Meinungsfreiheit nicht entsprechen, behauptete er vor einigen Jahren gegenüber der dpa, ohne zu erläutern, was er damit konkret meint. Er wurde damit zum Vorreiter für eine sich immer weiter verstetigende Tendenz. Meinungsfreiheit wird inzwischen ausgelegt als das Recht, das politisch Vorgegebene zu meinen. Alles andere ist mindestens verdächtig. 

Sein Counterpart während der Finanzkrise, der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis zeichnete die Gespräche der Euro-Gruppe auf und veröffentlichte sie als Buch. "Die ganze Geschichte" ist lesenswert, denn das Buch gibt einen Einblick in die Funktionsweise des innersten Zirkels der EU. Es ist ein eindrucksvolles Psychogramm.

Unter dem Titel "Adults in the Room" wurde das Buch verfilmt. Ulrich Tukur schlüpfte in die Schurken-Rolle "Wolfgang Schäuble", Costa Gavras führte Regie. Der Film hat es trotz zahlreicher Auszeichnungen und Starbesetzung nie in die deutschen Kinos geschafft. Er fand keinen Verleih. Ohne politische Einflussnahme ist das schwer vorstellbar. Ja, Wolfgang Schäuble tat sich immer schwer mit der Demokratie und dem, was sie ausmacht. Er wollte immer nur absolut herrschen – auch unter den Bedingungen der Demokratie. 

Wolfgang Schäuble ist tot – er wurde zu Lebzeiten mehr gefürchtet als geachtet. Er hat der EU großen Schaden zugefügt. In Deutschland wird man das nicht aufarbeiten. In anderen Ländern der EU wird man sich dagegen gut erinnern und ihn und sein Wirken einzuordnen wissen. 

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