Von Alexej Danckwardt
Als Deutschland das letzte Mal mit seinem Drang nach Osten, einem imperialistischen Expansionsplan, katastrophal und blutig scheiterte, nahm sich der bessere Teil des Landes vor, es nie wieder zu versuchen. Bertolt Brecht, die unbestrittene Stimme dieses besseren Deutschlands, dichtete dem Land und dem Volk passend zur Melodie Haydns eine neue inoffizielle Hymne und darin den neuen Vorsatz und die neue Hoffnung der Deutschen:
"Dass die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin,
Sondern uns die Hände reichen,
So wie anderen Völkern hin."
Man kann darüber streiten, wie sehr das Nachkriegsdeutschland diesem Vorsatz gerecht geworden ist. Die DDR, das muss man ihr zugutehalten, hat tatsächlich niemanden auf der Welt ausgeraubt oder übervorteilt. Man lebte von der eigenen Hände Arbeit und des eigenen Bodens Ertrag, auch wenn zur Wahrheit gehört, dass billiges Erdöl aus der Sowjetunion dazu beitrug, dem durchschnittlichen DDR-Bürger einen Konsum zu ermöglichen, um den ihn der durchschnittliche Sowjetbürger beneidete. Der Ostblock war ein Antiimperium: Die "Unterworfenen" lebten besser als die "Unterdrücker" in der "Metropole".
1989 befand das DDR-Volk dieses Leben von der eigenen Hände Arbeit und des eigenen Bodens Ertrag (sowjetisches Erdöl war da nicht mehr ganz so billig) für seiner nicht gut genug. Man wollte so leben, wie es die Brüder und Schwestern im Westen taten. Oder vorgaben zu tun. Erzählt mir nicht, dass es um "Freiheit" ging, ich war dabei: Um Bananen ging es. Und um den Neuwagen alle fünf Jahre.
Mit der Alt-BRD ist es nicht ganz so einfach. Der Fleiß der Arbeiter bei BASF und Daimler ist unbestritten, die Qualität der Endprodukte ebenso. Doch die BRD war eben in das amerikanische Imperium, das System des Neokolonialismus integriert. Billiges Öl kam aus Saudi-Arabien, Bananen zum Spottpreis aus Lateinamerika. Welchen Anteil die Ausbeutung der Dritten Welt am Gesamtwohlstand der Bonner Republik hatte, muss noch errechnet werden. Meine Vermutung ist, dass es mit fairem Handel auch im Westen kaum besser ausgesehen hätte als im Osten. Was übrigens so schlecht nun auch nicht ist.
Man war wenigstens nicht stolz darauf. Das Thema der Ausbeutung der Dritten Welt wurde verlegen umgangen, zu Weihnachten spendete man (des Gewissens wegen) für "Brot für die Welt" und frau legte sich ein Patenkind in Afrika zu. Es dauerte bis ins 21. Jahrhundert hinein, bis aus verschämten Profiteuren des Neokolonialismus selbstbewusste, ungenierte und zielstrebige Mitglieder einer imperialen Räuberbande wurden. Der in der transatlantischen Finanzoligarchie bestens vernetzte Horst Köhler musste noch vom Amt des Bundespräsidenten zurücktreten, als er zu offen über die wahren Ziele der Auslandseinsätze der Bundeswehr plauderte. Erinnern Sie sich?
"Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ, durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern."
Freie Handelswege... in Afghanistan und Mali. So denkt ein Imperium, aber damals genierte man sich noch, zuzugeben, dass man zu einem gehört, auf der Herrscherseite. Wir schrieben das Jahr 2010, als Köhler zurücktreten musste.
Keine drei Jahre später ging Deutschland offen auf Jagd nach kolonialer Beute, in der Ukraine. Jeder diplomatische, politische und moralische Anstand waren abgelegt, als sich die EU ‒ und mit ihr eben auch Deutschland ‒ einem hungrigen Vampir gleich auf das infantil-naive junge Land stürzte, um das nur für die EU vorteilhafte Assoziierungsabkommen zum Nulltarif durchzupeitschen.
2021 kamen Scholz und seine "Zeitenwende", kaum anders zu verstehen als eine endgültige Abkehr von allen deutschen Nachkriegstugenden. Seitdem wird wieder hemmungslos gestohlen und geraubt und ungeniert darüber gesprochen. Die laufende Woche lieferte gleich zwei Beispiele dafür.
Am Montag plauderte Roderich Kiesewetter, Bundestagsabgeordneter der CDU, im gebührenfinanzierten Fernsehen offen darüber, was Deutschland und die EU in der Ukraine zu suchen haben. Wenn Europa die "Energiewende" bewältigen wolle, so Kiesewetter, brauche es eigene Lithiumvorräte. Für Batterien der Elektroautos, versteht sich. Und die größten Lithiumvorräte in Europa gäbe es nun einmal in der Gegend um Donezk und Lugansk. Wann aus den Bodenschätzen von Donezk und Lugansk Deutschlands oder der EU "eigene" geworden sind, weiß auch nur ein Imperialist. Und darum, rief Kiesewetter die Zuschauer auf, dürfe man jetzt vor keinen Entbehrungen zurückschrecken, um der Ukraine militärisch zu helfen. Des "eigenen" Lithiums wegen.
Am Mittwoch gab dann der Generalbundesanwalt bekannt, er habe bereits im Juli gegen ein russisches Finanzinstitut ein "selbständiges Einziehungsverfahren" eingeleitet. Dieses hatte 720 Millionen Euro bei einer Frankfurter Bank aufbewahrt und, als es im Frühjahr 2022 unter antirussische Sanktionen der EU fiel, versucht, das Guthaben zu überweisen. Der Versuch scheiterte, die Frankfurter Bank führte die Überweisung nicht aus. Dennoch wird es als Umgehung von Sanktionen und damit als Straftat gewertet.
Das Strafgesetzbuch sieht in der Tat vor, dass Erträge aus Straftaten eingezogen (also konfisziert, enteignet) werden können. In erster Linie zugunsten der Opfer der Straftaten, wenn es solche jedoch nicht gibt, dann zugunsten des Staates. Seit einer unter Juristen umstrittenen Reform des Strafrechts vor einigen Jahren geht das auch ohne Hauptverhandlung, ohne Urteil, unabhängig von Verjährung und sogar bei jemandem, der sich selbst nichts hat zu Schulden kommen lassen. Paragraph 76a StGB nennt es "selbständiges Einziehungsverfahren". Voraussetzung ist aber weiterhin, dass das, was der Staat da "einziehen" will, aus einer Straftat stammt, durch sie erstmals erlangt wurde. Also Diebesgut oder dessen Wert, das, was der Betrüger an dem Betrug verdient hat, die hinterzogene Steuer.
Die 720 Millionen des russischen Finanzinstituts hat dieses aber nicht durch die gescheiterte Überweisung erlangt, sie waren vorher schon sein rechtmäßiges Vermögen. Was der Generalbundesanwalt da betreibt, ist klare Rechtsbeugung und Willkür. Es ist Raub mit den Mitteln der Justiz. Aber was interessieren Recht und Gesetz, Logik und Anstand, wenn fette Beute winkt?
Ein paar Sätze zu den Sanktionen selbst. Sie sind schon für sich genommen Willkür und drehen ein halbes Jahrhundert fortschrittlicher Rechtsentwicklung zurück. Sie widersprechen so vielen Prinzipien des Rechtsstaats, dass man nur fassungslos sein kann, dass ausgebildete Juristen diese Praxis widerspruchslos hinnehmen.
Ein halbes Jahrhundert lang kämpften wir darum, dass es Strafen ("Sanktion" ist auch nur ein anderes Wort für "Strafe") nur für individuelles Verschulden gibt. Keine Kollektivschuld sollte es mehr geben, keine Sippenhaft, kein Bürger sollte für die Handlungen des Staates, dem er angehört, haften. Die antirussischen Sanktionen der EU sind genau das: Haftung Privater (natürlicher und juristischer Personen) für die Handlungen "ihres" Staates ohne individuelles Verschulden, Sippenhaft, Anwendung des überwunden geglaubten Prinzips kollektiver Schuld.
Was hat das russische Finanzinstitut, was haben seine Anleger verbrochen, dass sie so dreist enteignet und beraubt werden? Was hat der Russe verbrochen, dem an der Grenze seine paar hundert Euro abgenommen werden? Was hat der deutschrussische Spätaussiedler verbrochen, der seine Verwandten in Russland besuchen will und dem am deutschen Flughafen durch den von seinen Steuern bezahlten Zoll dasselbe widerfährt?
Und was bitte ist mit dem heiligen Grundsatz der Gewaltenteilung? Da sitzen anonyme Beamte in Brüssel und verhängen ohne Gerichtsverhandlung Sanktionen, bestrafen faktisch, was in einem Rechtsstaat den Gerichten und einem rechtsförmlichen Verfahren vorbehalten sein sollte. Regt sich auch da kein Unmut bei deutschen Juristen?
Ich fürchte, es regt sich kein Unmut und kein Widerspruch. Ohne es zu merken, sind die Deutschen, inklusive ihres Generalbundesanwalts und ihrer Richter, zu Geisteszuständen und Denkroutinen zurückgekehrt, die den Hitlerismus erst ermöglicht haben, die in ihm gipfelten, aber keineswegs mit ihm begannen. "Wir sind wieder wer": Mitglieder einer Räuberbande, die keine Zurückhaltung und keinen Anstand mehr kennt. Deutschland ist wieder die Räuberin, vor der die Völker erbleichen.
Und nein, die Rohstoffarmut Europas verdammt uns nicht dazu, zu Piraten und Räubern zu verkommen. China und Russland bieten der Welt ein Modell des fairen Handels und des fairen Umgangs miteinander an, mit denen es Deutschland und ganz Europa recht gut gehen könnte. Ja, man wird auf einiges verzichten müssen, wenn man nicht mehr engster Vertrauter des Mafiabosses ist und ehrlicher Arbeit nachgehen muss. Wirklich merken werden es aber nur die Großkopferten in Europa: die Finanzoligarchie, die Großkapitalisten, deren politisches Bedienpersonal. Sie sind es, die nichts am Lithium aus Donezk und Lugansk verdienen werden, nichts am russischen Gas und Öl, das sie in weiterer Perspektive zu erobern hoffen. Für den arbeitenden Deutschen aber wird es in der neuen fairen Welt, in der Europa nicht mehr herrscht, nicht schlechter werden. Mit etwas Glück sogar besser, wenn er seinerseits nicht mehr für die besagten Großkopferten schuften und blechen muss.
Das ist die Wahl, vor der das deutsche Volk heute steht: als Räuberknechte sterben auf den Kampffeldern des Dritten Weltkriegs für Lithium aus Donezk und die Profite der großen Herren ‒ oder leben von der eigenen Hände ehrlicher Arbeit und des eigenen Bodens solidem Ertrag. In Frieden mit unseren Brüdern und Schwestern überall auf diesem riesigen eurasischen Kontinent.
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