Von Susan Bonath
Weihnachten naht und etwas scheint anders zu sein als sonst. Der traditionelle Ablasshandel – das befristete "Herz für Arme" – will sich im inflationsgeplagten Deutschland nicht so richtig einstellen. Die mediale Klischee-Debatte darüber, wie man die Peitsche noch härter gegen Arme schwingen kann, überschattet die bürgerliche Feiertagswohltätigkeitslaune. Deutschland jagt "Faulpelze", allerdings nur die armen. Gegen Superreiche mit leistungslos geerbten Milliarden hält sich der Zorn in Grenzen.
Bürgerliche Moralapostel und ihr "Herz für Arme"
In München hat der Verein "Aktion Brücke" Weihnachtsgeschenke an Obdachlose verteilt. Die Stuttgarter Zeitung nennt dies einen "vollen Erfolg". Die Frage ist: Für wen oder was? Vermutlich dient es vor allem dem Wohlgefühl einiger bürgerlicher Moralapostel. Die Stimmung im Land scheint das nicht zu widerspiegeln, schon gar nicht die mediale – offenbar nicht einmal unbeabsichtigt.
Nachrichten wie aus Fulda, wonach die Caritas eine Weihnachtsfeier an Heiligabend "für Obdachlose und Einsame" vorbereitet, oder einen Weihnachtsspenden-Aufruf für Menschen ohne Bleibe in Leipzig klingen aktuell wie aus einer Parallelwelt.
Denn wo die Unsicherheit wächst, schrumpft das Herz für Arme. Dass die Armut in Deutschland steigt, ist seit Langem bekannt. Auch in diesem Jahr hatten Armutsforscher – die dafür bezahlt werden, die Armut zu erforschen, ohne dass sich dadurch etwas daran ändert – in der Vorweihnachtszeit Hochkonjunktur.
So fand beispielsweise die Diakonie zusammen mit der Fachhochschule Kiel heraus, dass immer mehr Menschen oft trotz Arbeit immer ärmer werden. Berliner Sozialforscher registrierten eine "hohe soziale Polarisierung", vor allem in Ostdeutschland und im Ruhrpott. Mit einer Erkenntnis, für die es keiner Wissenschaft bedurft hätte, wartete im November die Hans-Böckler-Stiftung auf: Die steigende Armut gefährde die Demokratie. Na so was, könnte man ironisch darauf antworten.
Mediales Nach-unten-Treten
Die andere Seite der Berichterstattung zeugt von der Scheinheiligkeit all der Wohltätigkeitsappelle und Klagen über wachsende Armut aus der "bürgerlichen Mitte". Glaubt man der Boulevardpresse, haben es die Armen gar noch viel zu gut in Deutschland. Selber schuld an ihrem Elend seien sie sowieso.
Laut Westdeutscher Allgemeiner Zeitung (WAZ) fördert das Bürgergeld nämlich das mysteriöse Faulheitsvirus. Für die CDU kann wie gehabt die Peitsche gegen Arme nicht hart genug sein. Letzten Monat echauffierte sich die B.Z. von Springer reißerisch darüber, dass ein Gericht den Staat dazu verpflichtet hatte, einem mittellosen 67-Jährigen – im Boulevardjargon "Stütze-Empfänger" – eine Dachreparatur für ganze 580 Euro zu bezahlen.
Derlei Berichte zielen freilich auf die Empörung der geneigten Leser ab. Man könnte sich dabei doch fragen: Wäre es besser, wenn dieser inzwischen wohl zum Niedrigaltersrentner gewordene Sozialhilfeempfänger und alle anderen rund 14 Millionen Armen in Deutschland mit Kind und Kegel unter eine Brücke verwiesen und zum Betteln verdonnert würden? Mal abgesehen davon, dass es so viele freie Plätze unter Brücken wohl nicht gibt: Wer aus dem nicht vorhandenen sozialen Frieden einen Bürgerkrieg fabrizieren will, kann das schon fordern.
Klischeegeladenes Armen-Bashing
Weihnachten hin oder her, legt sich wie gewohnt auch Springers Bild beim Armen-Bashing kräftig ins Zeug. Kürzlich schlug das Boulevardblatt mit einer abenteuerlichen "Rechnung" auf: Wie viel könnten "wir" sparen, wenn alle "Stütze-Empfänger" arbeiten würden? Wer das ominöse "wir" sein soll, blieb dabei unerwähnt.
Das Blatt verschweigt geflissentlich, dass von den knapp sechs Millionen Bürgergeld-Beziehern fast zwei Millionen Kinder sind, eine weitere knappe Million arbeitet und aufstockt und etwa noch einmal so viele krank sind, kleine Kinder oder Pflegebedürftige betreuen, also gar nicht zusätzlich zu ihrer womöglich tagtäglichen unbezahlten Arbeit auch noch "lohnarbeiten" können. Es ist nicht bekannt, wie viele von den angeblichen "Faulpelzen" ein Ehrenamt ausüben, sich privat sozial engagieren oder was sie sonst noch an einer regulären Lohnarbeit hindert. Hauptsache "wir" können draufhauen.
Bullshit-Jobs und Lohnarbeits-Fetisch
Das mediale Nach-unten-Treten dominiert längst über die festliche Besinnlichkeit. Sie verbannt die Freunde der Wohltätigkeit in eine Parallelwelt zur stümperhaften Gewissensbereinigung. Mehr noch: Diese Debatte scheint mit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise geradezu fanatische Züge eines Fetischs anzunehmen, der Lohnarbeit zum einzig wahren Gradmesser des gesellschaftlichen Nutzens von Menschen definiert.
Man könnte die Feiertage dazu nutzen, über diesen Fetisch nachzudenken. Man könnte sich zum Beispiel fragen, warum die Erziehung der eigenen Kinder weniger wert sein soll als etwa ein Job in der Rüstungsproduktion von Rheinmetall. Oder: Wozu braucht die Menschheit eigentlich so unfassbar viele hochbezahlte Werbefachleute, Finanzjongleure, Großaktionäre, Immobilienverwalter und allerlei Sprechblasenproduzenten im wirtschaftlichen und politischen Establishment?
Im Volksmund spricht man von "Bullshit-Jobs". Davon scheint es immer mehr zu geben. Der inzwischen verstorbene US-amerikanische Kulturanthropologe und Bestsellerautor David Graeber hat 2018 sogar ein ganzes Buch darüber geschrieben. Darin geht es um eine wachsende Anzahl oft gutbezahlter Arbeitsstellen für das Bildungsbürgertum, die nutzlos oder sogar schädlich sind. Er untermalte das bildlich: Fallen Reinigungskräfte aus, fiele das sehr schnell auf, nicht so bei Konzernlobbyisten oder Telefonverkäufern.
Produktion für die Mülltonne
Hinzu kommt noch ein anderes absurdes Phänomen, welches das Kapital vor Preisverfall und somit Profiteinbußen schützen soll: Eine gigantische Überproduktion für die Mülltonne. Während Hunderte Millionen Menschen auf der Welt vom Hungertod bedroht sind und noch mehr im absoluten Elend leben, gibt die EU Milliarden für die Vernichtung von Lebensmitteln aus.
Vor einem Jahr kam eine Studie zu dem Schluss, dass jährlich Waren für 163 Milliarden Euro ungenutzt im Müll landen.
In der jüngeren Vergangenheit diskutierte man im reichen Westen über die Vernichtung gigantischer Milchpulverberge, um einen Preisverfall zu verhindern. In der chilenischen Freihandelszone ZOFRI (Zona Franca de Iquique) – etabliert übrigens 1975 unter dem marktradikalen Diktator Augusto Pinochet – türmt sich derweil der Kleidermüll auf.
Faulpelze mit ererbten Milliarden
Letztendlich war auch die Arbeit für diese Überproduktion glatt für die Tonne. Man verteilt die Dinge nicht an die Bedürftigen aus Furcht vor Profitverlusten bei den Reichen. Denen geht es prächtig, wie kürzlich die neoliberale WirtschaftsWoche freimütig berichtete. Das Zeitalter der Erbmilliardäre habe begonnen, heißt es in dem Artikel. Deren Vermögen übersteige inzwischen das der sogenannten "Self-made-Milliardäre".
Gemeint sind Faulpelze, die steinreich geboren wurden, nie einen Finger rühren mussten und trotzdem dank fremder Arbeitskraft leistungslos in Steueroasen hockend ihren Kontoständen beim Prosperieren zusehen können. Nur scheint das in diesem Falle niemanden zu stören. Man hört keinen Aufschrei wegen überbezahlter Bullshit-Jobs. Man schweigt zu gigantischer Produktvernichtung, wodurch neben der Profitsicherung die Armen arm gehalten werden.
Arbeitsreligion fürs Volk
Man könnte es auch so ausdrücken: Das ökonomische und politische Establishment produziert die Armen strukturell und absichtsvoll, um sie anschließend zur Hassfigur Nummer eins erklären zu können. Und je nachdem, wie Mächtige gelaunt sind, taugen ihnen Arme vorübergehend immer noch dazu, um sich als weihnachtliche Wohltäter aufzuspielen, so nach dem heuchlerischen Motto: Ein Herz für Arme.
Die Peitsche hat das Establishment dabei stets im Gepäck. Während es den Erbmilliardären die Luxusruhe am Privatpool in irgendeinem Steuerparadies gönnt, schröpft es die Arbeitsplatz-"Besitzer" und erzählt ihnen, die Armen und der Sozialstaat seien schuld daran. So muss das Establishment seine Peitsche nicht einmal selber schwingen und kann, zum Ärger mancher Abgezockter, sein "Herz" für Obdachlose oder arme Kinder präsentieren und Moralpredigten über unsere angebliche "Leistungsgesellschaft" halten.
Die vielbeschworene Leistungsgesellschaft gilt freilich nur für die lohnabhängigen und kleinselbständigen Ottonormalbürger. Für sie gilt: arbeiten bis zum Umfallen. Die 80-jährige Armutsrentnerin, die vier Kinder großgezogen hat, kann immer noch mit ihrem Wägelchen ein paar Bullshit-Werbeprospekte verteilen, auch wenn diese niemanden interessieren. Lohnarbeit um der Arbeit statt des Nutzens willen ist angesagt, als sei dies die neue Religion der Selbstgeißelung für die "kleinen Leute".
Lohnarbeit als Mittel zur Kontrolle
Dem entgegen, so resümierte Autor David Graeber vor fünf Jahren, strebe der Mensch seit Jahrtausenden nach weniger Arbeit und mehr Freizeit. Angesichts der technologischen Entwicklung müsse niemand mehr 40 Stunden oder länger in der Woche schuften. Aber "man bekommt den Eindruck, immer mehr Jobs werden nur zu dem Zweck eingerichtet, damit wir alle ständig arbeiten". Arbeitsplätze seien zu einem Wert an sich geworden. "Dabei interessiert es offensichtlich nicht, ob diese Arbeitsplätze für irgendetwas gut sind."
Für eines ist der Endlosdienst nach Vorschrift gegen Bezahlung mit Sicherheit perfekt geeignet: So lassen sich die Bürger trefflich kontrollieren. Wer acht Stunden täglich stramm beschäftigt ist, hat wenig Zeit zum Nachdenken, zum Beispiel über die Herrschenden, ihre Medien und deren Propaganda.
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