"Postrussischer Raum" – wie Russland in Berlin schon mal in 40 "Länder" zerlegt wurde

Sie wollen den ganzen riesigen Raum im Norden Eurasiens politisch umkrempeln. Sie wollen bis zu 40 neue Nationalstaaten gründen. Sie wollen in der Stunde X die Ersten sein. Wer sind diese Menschen – und wie wollen sie ihrem Traum näherkommen? Ein Besuch in Berlin hilft, das Geheimnis zu lüften.

Von Wladislaw Sankin

Dieses Mal ist es Berlin, zuvor waren es Rom, Washington, D.C., Tokio, Helsingborg (Schweden), Brüssel, Prag, Warschau und Paris. Die 9. Sitzung des "Forums der Freien Völker Post-Russlands" findet zum ersten Mal in der deutschen Hauptstadt statt. Es darf nicht mit der "Free Russia Foundation", mit "Open Russia", dem "Free Russia Forum" oder anderen im Westen gegründeten Initiativen mit ähnlichem Klang verwechselt werden! Sie alle gehen zumindest davon aus, dass Russland existiert. Das "Post-Russland-Forum" tut das grundsätzlich nicht. Die Worte "Russland" oder "russisch" kommen in dessen Dokumenten kaum noch vor. Und solche Dokumente gibt es inzwischen reichlich. Manifeste, Dekrete und Karten mit vierzig künftigen Staaten des Raums "Nord-Eurasien". Wer sind denn deren Verfasser und Unterzeichner, und was haben sie vor?

Um das zu erfahren, begeben wir uns zum Veranstaltungsort – ein Kameramann und ich. Wider Erwartungen ist es nicht schwer, mit Teilnehmern des Forums ins Gespräch zu kommen. Der erste von ihnen, den ich noch auf dem Weg zum Veranstaltungsort in der Katholischen Akademie in Berlin treffe, sagt sofort zu. Er heißt Witalij Ginsburg und kommt aus Prag, wo er seit 2015 lebt. Russland sei ein "irrational organisiertes Gebilde", ein Staat, der von niemandem gegründet worden und daher illegitim sei. "Ein gescheiterter Staat", will mir Ginsburg am Ende einprägen. Er argumentiert mit rechtlichen Begriffen und kommt mir sogar intellektuell gut geschult vor.

Was ich zu diesem Moment noch nicht weiß: An diesem Tag ist hier auch Janusz Bugajski, der Autor des Buches "Gescheiterter Staat: Ein Leitfaden für das Aufbrechen Russlands" (im Original "Failed State: A Guide to Russia's Rupture"), persönlich zugegen. Das Buch wurde August 2022 von The Jamestown Foundation herausgegeben, und Ginsburg scheint ein aufmerksamer Leser gewesen zu sein. Seine zentrale These an diesem Tag ist jedoch eine andere: Russland soll nach seiner Niederlage nicht nur einem internationalen Tribunal unterworfen, sondern auch noch "entbarbarisiert" werden. Denn Russland sei nach wie vor ein barbarisches Land mit einer menschenfeindlichen Ideologie, das innen und außen nur Grausamkeit sät.  

Geleitet wird die Veranstaltung von einem Teilnehmer am "Euromaidan", dem Ukrainer Oleg Magalezki. Wir dürfen überall drehen, und Magalezki verspricht uns sogar ein Interview – später. Er ahnt, dass unser Bericht nicht wohlwollend wird, bleibt aber kooperativ. Wir müssten nur erwähnen, dass das Forum demokratisch und offen verfasst sei. Während er eine Live-Übertragung ins Internet einrichtet, kommen wir mit dem Teilnehmer Denis Ugrjumow ins Gespräch. Er lebt seit 2011 in Lettland und vertritt die "postrussische" Region "Freies Ingermanland" (Ingria) im Nordwesten. Ingria hieß einmal im 17. Jahrhundert eine schwedische Provinz, die das heutige Sankt Petersburg umgibt.

In seiner Argumentation fallen die Worte "Selbstbestimmung" und "Bürgerrechte", im Gespräch sagt er sogar, dass er sich das "Ingermanland" im Rahmen einer Konföderation vorstellt. In seinem Konferenz-Beitrag klingt Ugrjumow anders. Er vergleicht deutsche Geschäfte und überhaupt diplomatische Beziehungen mit Russland mit einem Haufen Scheiße, in den man getreten sei. "Danach muss man die Schuhe putzen und Hände sauber machen". Auf dem Forum in Washington flehte er die US-Amerikaner an, ihm und seinesgleichen tatkräftig zu helfen. Auf Russlands Ruin könnten sie glänzende Geschäfte und Investitionen tätigen und Gender-Diversität feiern, versprach er. Er weiß, dass auf friedlichem Wege dieses Ziel nicht zu erreichen ist und erklärte sich daher bereit, auch zu Sabotage und Terrormethoden zu greifen.   

Ein Nachbar vom "Ingermanland" ist die "Republik Pskow". Sie wird auf dem Forum von Artjom Tarassow vertreten, einem Studenten aus München. Diese und andere Teile Westrusslands müssten von der NATO nach Russlands Niederlage im Ukraine-Krieg annektiert werden – um die Sicherheit der Ukraine zu gewährleisten. "Russlands Grenzen müssen nach Osten verschoben werden", sagt er. "Ja, das ist der Aufruf zur Verletzung der russischen territorialen Integrität. Und wenn es sein muss, werden wir in Pskow einen Prospekt im Namen Banderas errichten", lächelt Tarassow. Offenbar ist er stolz auf seinen Weitblick.  

Magalezki ist immer noch beschäftigt, und ich höre solange weiteren Rednern auf dem Podium zu. Ein anderer Aktivist aus "Ingermanland" tritt auf und sagt, dass er einen bewaffneten Aufstand in Erwägung ziehe. Ihm stünde ein Netzwerk aus hunderten Aktivisten vor Ort zur Verfügung, sagt er zur Reichweite seiner "Bewegung". Ich betrachte die Karte mit vierzig neuen "Staaten" in Nordeurasiens und kann nicht verstehen, welchem von ihnen mein Heimatort Wolgograd zugeschlagen wird. Die Auflösung ist schlecht und ich kann schwer erkennen: Es könnte die kalmükische Republik "Oirat" sein, aber auch "Nogai" oder "Kosakia". Was auffällt: der größte Staat "Post-Russlands" (wen überrascht es?) sind die "Vereinigten Staaten von Sibirien", gezeichnet mit einer Art Nachbildung der US-Flagge.

In seinen Interviews sagt Magalezki, dass die Planung der Demontage "Post-Russlands" ein dynamischer Prozess sei. "Grafik-Designer, die die Karte zeichnen, müssten immer wieder neue Wünsche unserer Experten zu Grenzziehungen berücksichtigen". Zu eventuellen Grenzstreitigkeiten zwischen den Parteien wollen die "Gründungsväter" neuer Nationen die NATO und EU als Streitschlichter heranziehen. Das kündigen sie später auch in einem Dekret an, das in einem entsetzlich schlechten English an Ende der Konferenz verlesen wird. 

Endlich hat Oleg Magalezki Zeit für uns. Er sagt, dass er die Initiative gegründet habe, weil er als Ukrainer "aus verständlichen" Gründen" will, dass sein Feind von innen zerstört wird. "Wir haben uns befreit und wollen kolonisierten Völkern Russlands" helfen. Es fallen Begriffe "freie Welt", "Achse des Bösen" und "Russische Proxies" – dies seien China, Nordkorea, Iran, Weißrussland, Venezuela, die Hisbollah und die Hamas. Finanziert werde die Plattform von Privatspendern aus Russland, den USA und der EU, wobei die Zuwendungen oft in vierstelliger Höhe fließen würden. Westliche Parlamente oder NGOs sind ebenfalls spendabel und bieten in der Regel mietfreie Räume für Konferenzen an.

Der 34-Jährige trägt karierte Jacke, Krawatte und Schlabberschuhe. Er ist umtriebig und hat sichtlich Spaß an seiner Arbeit. Im Dezember 2022 hatte er verkündet, dass er Russlands Zerfall schon im kommenden Jahr erwarte. Auf dem Kiewer Maidan vor zehn Jahren war er fast bei allen Ausschreitungen beteiligt. Er war es, der am 1. Dezember im Kiewer Regierungsviertel einen Bulldozer in die Reihen der Berkut-Polizisten rammte. Diese Bilder gingen um die Welt. Nach dem Umsturz ging er in den Kampf gegen die Donbass-Rebellion, wurde verwundet und sorgte 2015/2016 als Besitzer einer hippen Kiewer Bar für die Schlagzeilen, als er "kannibalische" Gerichte wie "Leber eines Moskals" oder Torte in Form eines russischen Säuglings anbot und Hinrichtungen russischer Piloten als "Performance" in Stile einer IS-Enthauptung inszenieren ließ. Dies sei als schwarzes Humor zu verstehen und Trollen, um "russische Propaganda" ins Lächerliche zu ziehen, rechtfertigte er seinen Zynismus.

"Ich habe keine Angst vor Russen. Sie sind elendig, Mängelwesen, aber nicht furchterregend. Die sogenannten Russen sind das, was man meiden möchte – eine Abscheulichkeit. Das ist ein Sklavenvolk, das isoliert und entnazifiziert werden muss. Mein Verhältnis zu diesen Leuten ist das Verhältnis zu Übel und Dreck", sagt er mir auf die Frage, ob er russophob sei. Ich stehe Angesicht zu Angesicht vor einem glühenden Rassisten, einem Nazi. Als ich seine Hass-Tirade höre, ertappe ich mich bei diesem Gedanken. So bekommt man aber Informationen aus erster Hand. Mein letzter Gesprächspartner an diesem Tag rundet das Bild auf fatale Weise ab. 

"Ich will, dass Russland auf verschiedene Regionen zerbricht und es wäre sehr nett, wenn Kaliningrader Gebiet wieder Königsberg würde", sagt uns Nikolai Gorelow. Er ist Journalist und hat Kaliningrad in Sommer 2022 verlassen. Offenbar für immer. Er zitiert sich selbst aus seinem eigenen Auftritt in Paris. "Wir müssen Russland zerstören, nicht um Leute innerhalb Russlands glücklich zu machen, sondern außerhalb Russlands." Das fänden die anderen Teilnehmer auch gut. "Die Gefahr für die Welt stellen nicht nur Putin oder generell seine Regierung dar, sondern die Russen selbst, ihr Charakter, ihre Kultur und die Art, wie sie denken", erklärt Gorelow.

Wer unterstützt diese Leute im Westen? In Polen sind es die Vereinigung der Polnischen Journalisten, einige Ex-Minister und Europa-Abgeordnete, in Japan Vertreter aller Parlamentsparteien, in Italien libertäre Politiker und Publizisten, in den USA einige hochrangige Ex-Militärs. In Deutschland wird das Forum vom ehemaligen russischen Journalisten Sergei Sumlenny unterstützt. Lange leitete er die Filiale in Kiew der zu Bündnis 90/Die Grünen gehörenden Heinrich-Böll-Stiftung. Jetzt ist er Chef des European Resiliance Center, Gast bei den Talk-Shows und proukrainischer Propagandist auf X mit beachtlichen 153.000 Followern.

Sumlenny hat sich radikalisiert und setzt nun ganz auf den Zerfall Russlands. Er kommt zur Konferenz in Berlin, um sein Unverständnis darüber zu äußern, dass Deutschland zwar grundsätzlich einen "good job" bei der Ukraine-Unterstützung macht, doch in der Russland-Frage nach wie vor auf Leute aus dem Nawalny-Umfeld wie Wladimir Milow setzt. Dies sei ein Fehler. Sumlenny blickt in die Zukunft und sieht dort schon ukrainische Soldaten, die in Jalta die ukrainische Flagge hissen. Das ist für ihn die Stunde X, die der Auftakt zur Rebellion der russischen Nationalrepubliken gegen die Zentralmacht in Moskau ist. Er schwärmt, er wolle am Ende Recht behalten, denn offenbar glauben ihm im Moment in Deutschland nur wenige.

Der Tag neigt sich dem Ende zu, und so kommt die Zeit, um die Ergebnisse der Bemühungen für Russlands Zerfall vorzuweisen. Das kommt im "Dekret über die territoriale Organisation der unabhängigen Staaten des postrussischen Raums anlässlich des 9. Forums der freien Nationen Postrusslands" zum Ausdruck. Eine Vertreterin des kalmükischen Staats "Oirat" liest den Text auf English vor, acht Personen unterzeichnen. Der extremistische Zirkel scheint also noch nicht allzu groß zu sein. Doch die frischgebackenen "Gründungsväter" neuer Nationen wollen optimistisch bleiben. Sie stellen sich für ein gemeinsames Foto vor die Kamera, halten das frisch verfasste Dokument hoch – und lächeln.

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