Von Gert Ewen Ungar
Dass man sich in Deutschland nicht um eine klare Sicht auf die Fakten bemüht, sondern nur noch innerhalb der westlichen Allianz abgesprochene Narrative wiederkäut, machte am Mittwoch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner Regierungserklärung zum Europäischen Rat deutlich. Dort sagte er, er sei beeindruckt davon, was die ukrainischen Soldaten leisten – und schloss an, diese hätten seit Beginn der militärischen Spezialoperation im Februar 2022 über die Hälfte des von Russland besetzten Gebietes wieder befreit. Das ist nicht nur eine steile These, sondern auch die offenkundig verabredete Sprachregelung innerhalb der NATO.
Sie wurde zum ersten Mal von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf dem Außenministertreffen der NATO-Staaten Ende November der Öffentlichkeit präsentiert. Die Ukraine könne auf enorme Erfolge verweisen, es sei ihr gelungen, mehr als 50 Prozent des von Russland ursprünglich besetzten Gebietes zurückzuerobern. Wiederholt hat diese Behauptung dann die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dort schrieb sie:
"Die Ukraine hat mehr als die Hälfte der seit Februar 2022 von Russland besetzten Gebiete befreien können ..."
Jetzt trägt sie Scholz im Bundestag vor. Alle drei weisen dann noch darauf hin, dass Russland angeblich die Kontrolle über den westlichen Teil des Schwarzen Meeres verloren habe, da die Ukraine Getreidetransporte durchführen könne. Der Wortlaut ist nahezu identisch. Es ist das aktuelle Narrativ, von dem niemand abweichen darf.
Durch die Wiederholung werden die Behauptungen jedoch nicht wahrer. Dass Russland sich aus der Umgebung von Kiew wieder zurückgezogen und damit große Gebiete wieder zurückgegeben hat, war kein militärischer Erfolg der Ukraine, sondern nach allem, was man weiß, Teil einer in der Türkei zwischen der Ukraine und Russland getroffenen Vereinbarung, die zu einem Friedensvertrag führen sollte. Die ausgehandelte Übereinkunft wurde dann allerdings nach erfolgtem Rückzug durch die Bilder von Butscha sabotiert. Dafür, dass es sich bei Butscha um eine Inszenierung handelt, um einen Friedensschluss zu hintertreiben, spricht auch, dass eine offizielle und unabhängige Untersuchung zwar gefordert, aber nie umgesetzt wurde. Der Krieg könnte schon längst wieder vorbei sein, aber der Westen will ihn lang. Auch Scholz setzt darauf, den Krieg weiter zu verlängern, denn er verweigert sich der Behebung der zugrunde liegenden Ursache.
Dabei wird es für Deutschland zunehmend zum Problem, dass sich sowohl die Bundesregierung als auch die größte Oppositionspartei CDU vor der Realität in diesem vorgegebenen Kriegs-Narrativ verschanzt hat, denn der Bezug zu einer ausschließlich ausgedachten Wirklichkeit verhindert das Finden von Lösungen für reale Probleme. Das politische und mediale Establishment lebt in einer Inszenierung.
Mit dem Rekurs auf vorgegebene Textbausteine gerät die Regierungserklärung von Scholz zu einer Desinformationsveranstaltung. Allerdings kann die CDU zur Aufklärung ebenfalls nichts beitragen. Oppositionsführer Friedrich Merz setzt auf die gleichen Falschinformationen wie der Kanzler und die Ampel-Minister. Auch er glaubt an eine militärische Lösung des Konflikts zwischen dem Westen und Russland, der in der Ukraine ausgetragen wird.
Der Krieg in der Ukraine sei die größte sicherheitspolitische Herausforderung für den Kontinent, sagt Scholz und hat damit recht. In der Folge macht er dann deutlich, dass diese Herausforderung militärisch zu lösen sei. Damit hat er natürlich unrecht. Er zeigt damit, dass er wie schon die deutsche Außenministerin in schlichtes Blockdenken zurückgefallen ist und in Gewalt ein probates Mittel zur Problemlösung sieht. Mehr Waffen, mehr Granaten und Raketen, dann wird es die Ukraine schon wuppen, ist die Logik, der mit Scholz auch die Mehrheit der deutschen Parlamentarier anhängt. Die Logik der Schlacht von Verdun.
Das europäische Sicherheitsproblem kann nur europäisch gelöst werden, und Russland ist das größte Land Europas. Zu glauben, die durch westliches Expansionsstreben und die Ausdehnung von NATO und EU bedingte Erosion der europäischen Sicherheitsarchitektur ließe sich durch Aufrüstung und in Konfrontation zu Russland lösen, ist mehr als nur naiv, sie ist für den gesamten Kontinent gefährlich. Sie ist zudem ein Zivilisationsbruch, denn damit fällt Deutschland hinter den Geist der Charta der UNO zurück.
In Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg verbreitet Scholz zahlreiche Desinformationen. So behauptete er, Russland habe weitere Rekrutierungen geplant. Das ist schlicht falsch. Nur einen Tag später nimmt Wladimir Putin auf der jährlichen Pressekonferenz Stellung und stellt klar, dass dies nicht der Fall ist. Er tritt damit Gerüchten entgegen, die es auch in Russland gibt. Es ist ein Gerücht, das Scholz in seiner Regierungserklärung den Abgeordneten als Tatsache verkauft.
Diesem Stil der Wahrheitsbeugung bleibt Scholz treu. Dank der Lieferung deutscher Luftabwehrsysteme sei die ukrainische Luftverteidigung nun besser aufgestellt. Das überrascht angesichts der täglichen Meldungen von Luftalarm in der ganzen Ukraine und erfolgreich durchgeführten Angriffen auf ukrainische Militäreinrichtungen und Munitionsdepots im Landesinneren. Fakt ist: Trotz der deutschen Unterstützung ist es Russland zu jeder beliebigen Zeit möglich, jeden beliebigen Punkt in der Ukraine mit Raketen und Drohnen zu treffen. Es wird Zeit, dass auch das politische Establishment in Deutschland diese Fakten zur Kenntnis nimmt. Das ist notwendig, um auf der Basis von Tatsachen vernünftige und rationale Entscheidungen zu treffen. Dazu ist Politik in Deutschland derzeit nicht in der Lage.
Das Ausrichten an einem künstlichen Narrativ untergräbt jede Lösung. Damit werden nur Scheindebatten ermöglicht, wie dann später deutlich wird. Oppositionsführer Merz wirft Scholz Zögern bei Waffenlieferungen vor. Merz glaubt, mit der früheren Lieferung von Kampfpanzern und der Lieferung von Taurus-Mittelstreckenraketen könne die Ukraine gegen Russland militärisch bestehen. Das ist nicht der Fall. Eine frühere Lieferung hätte nur die Verluste der Ukraine früher in die Höhe getrieben. Realistisch kann die Ukraine diesen Konflikt militärisch nicht für sich entscheiden. Es wäre dringend notwendig, dass man in Deutschland zu dieser Einsicht kommt, schon um weiteren Schaden zu begrenzen.
Auch bezüglich des Wirtschaftskriegs desinformiert Scholz das Parlament. Mit den Sanktionen schneide man Russland von den Ressourcen ab, die es zur Kriegsführung benötigt, wiederholt er eine oft vorgetragene Behauptung, der er dann selbst widerspricht. Russland habe die Waffenproduktion deutlich erhöht, stellt er an anderer Stelle fest und ist sich des Widerspruchs offenbar nicht bewusst. Das Sanktionsregime ist ebenso gescheitert wie die Logik der Waffenlieferungen. Russland wächst in diesem Jahr um drei Prozent, während sich Deutschland und die Eurozone in der Rezession befinden.
Angesichts all der Fakten ist es bizarr, dass Scholz eine erneute Aussetzung der Schuldenbremse an den Verlauf des Krieges in der Ukraine knüpft. Das ist mehr als nur irritierend. Kapituliert die Ukraine nicht, gibt es keinen Waffenstillstand, wird die Schuldenbremse zwangsläufig im Lauf des nächsten Jahres erneut ausgesetzt – zugunsten der weiteren Finanzierung der Ukraine. Deutschland nimmt Kriegskredite auf. Nicht für sich und seine Interessen, sondern für einen anderen Staat.
Ginge es Scholz tatsächlich um die Sicherheit in Europa, dann gäbe es einen Weg, das Problem zu lösen. Das ist der Dialog mit Russland und die Verständigung auf eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur unter Beachtung auch russischer Sicherheitsinteressen. Deren Missachtung ist die Ursache des Konflikts, deshalb liegt darin auch seine Lösung. Russlands Sicherheitsinteressen müssen beachtet werden. Genau das aber wollen weder Scholz noch Baerbock, Robert Habeck und Co. Auch die CDU lehnt den Dialog mit Russland ab.
Das aber belegt, dass die von Scholz angeführte Behauptung, Russland habe imperialistische Interessen, ebenso falsch ist wie alles andere, was er dem Parlament über Russland und den Ukraine-Konflikt vorträgt. Es sind der Westen und folglich auch Deutschland, die imperialistischen Ideen anhängen. Das gilt ebenso für die NATO wie für die EU. Russland soll sich dem westlichen Machtstreben und seinem Expansionsdrang fügen. Dieser imperialistische Gedanke stieß am 24. Februar 2022 an seine Grenze.
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