Von Dagmar Henn
Beinahe zum ersten Mal wurde jetzt eine Veränderung des Narrativs in den USA unmittelbar in Deutschland nachvollzogen. Am Mittwoch erschien ein erster Kommentar in einem US-Mainstreammedium, der Washington Post, der die Begriffe "Ukraine" und "Niederlage" miteinander verband. "Das Risiko in der Ukraine ist kein Patt. Es ist eine Niederlage." Und mehr oder weniger zeitgleich erschien auf t-online ein Interview mit der charmanten Überschrift "Es geht den Bach runter". Beide Texte verfolgen den Zweck, irgendwie aus ihrem Publikum doch weitere Unterstützung für die Ukraine herauszuquetschen, aber beide kommen nicht länger umhin, die Möglichkeit einer vollständigen Niederlage zu benennen.
In den USA hat besagter Text, auch das kann man inzwischen sagen, seinen Zweck nicht erreicht. Die geplante Zusage von weiteren 61 Milliarden US-Dollar hat keine Mehrheit im US-Kongress, und das änderte sich auch nicht durch die Treffen von Senatoren und dem Sprecher des Repräsentantenhauses mit Wladimir Selenskij. US-Präsident Joe Biden überreichte ihm dafür vor laufenden Kameras auf der Pressekonferenz im Oval Office ein Trostpflästerchen von 200 Millionen Dollar. Die Bettelschale für Kiew blieb weitgehend leer.
Was bei der EU nicht wesentlich besser aussieht. Ungarn und die Slowakei blockieren weitere Mittel; damit besteht vorerst als letzte Option eine direkte Unterstützung aus deutschen Haushaltsmitteln. Aus einem Haushalt, der nicht vor dem 15. Januar verabschiedet werden wird. Was bedeutet, vorerst sind die einzigen finanziellen Mittel, die Kiew zur Verfügung stehen, die eine Milliarde Kredit, die der IWF (gegen sämtliche seiner Regeln, wie üblich) eben erst gewährte.
Das ist ein neuer Faktor, der noch dazu dadurch verschärft wird, dass durch die Blockaden an den Grenzen für ukrainische Lkw (die sich gegen Lohndumping durch ukrainische Fahrer richten) auch die meisten Exportrouten versperrt sind und damit ein großer Teil der ohnehin geringen Exporteinnahmen Kiews auch noch wegbricht. Sprich, wenn die fiskalische Lage des Selenskij-Regimes schon in den letzten Monaten verzweifelt war und die Funktionsfähigkeit des ukrainischen Staates nur durch westliche Spenden aufrechterhalten wurde, ist sie nun zappenduster.
Natürlich sind die westlichen Sponsoren daran völlig unschuldig. Schließlich haben nicht sie die existenziellen Wirtschaftsbeziehungen nach Russland gekappt, einen Bürgerkrieg begonnen, das Land verleitet, eine NATO-Mitgliedschaft anzustreben und zuletzt die Friedensverhandlungen in Istanbul sabotiert, oder? Alles Entscheidungen einer souveränen und unabhängigen Ukraine.
Aber die beiden erwähnten Artikel befassen sich nicht mit dem ökonomischen und administrativen Zusammenbruch, hier geht es um die militärische Niederlage. Und es wird ein geradezu außergewöhnliches Niveau des Realismus erreicht:
"Die Gefahr ist, wie der höchste ukrainische General letzten Monat warnte, nicht einfach ein Patt. Sie besteht darin, dass ukrainische Truppen, denen die Ausrüstung ausgeht, versucht sein könnten, sich zurückzuziehen, ihre Verteidigungslinien zu verkürzen und Gebiete aufzugeben."
Interessanterweise sind beide Darstellungen auch in Bezug auf die russische Reaktion weit nüchterner als all die Artikel und Aufsätze, die von einem "Einfrieren" reden. Weiter in der WaPo:
"Ein vollständiger militärischer Zusammenbruch der Ukraine ist unwahrscheinlich, zumindest in den nächsten Monaten. (…) Aber es ist gleichermaßen unwahrscheinlich, eine mit Russland ausverhandelte Waffenruhe zu erwarten, die die momentanen Frontlinien erhält. (…) Für den Kreml-Diktator würde ein "Kompromiss" die Unterwerfung der Ukraine und ihre Auflösung als unabhängiger Staat bedeuteten. Eingeschlossen einen Regimewechsel, mit Selenskij im Exil (oder tot) sowie einem Ende für Kiews Bestrebungen, der EU oder der NATO beizutreten."
Wenn man mal die überflüssige Rhetorik übergeht und das Verschweigen der Istanbul-Verhandlungen, könnte man sagen, das ist die erste halbwegs reale Wiedergabe der russischen Forderungen, seit man im Dezember 2021 so tat, als sei da nichts auf den Tisch gelegt worden.
Ja, genau um den letzten Punkt ging und geht es die ganze Zeit. So wie der Maidan-Putsch vor allem das Ziel hatte, eine Ukraine zu schaffen, die sich von der NATO benutzen ließ. Die Frage des Gebiets und die Frage, welche Gestalt eine Ukraine danach hat, hat selbstverständlich heute eine andere Antwort als noch zur Zeit der Istanbul-Verhandlungen; das ist die unvermeidliche Konsequenz, wenn solche Fragen militärisch geklärt werden und nicht diplomatisch.
Ja, die WaPo zitiert sogar das Institute for the Study of War, diesen Auswuchs der Kagan-Nuland-Sippschaft, mit einem durchaus zutreffenden Satz (was, wie alle bestätigen werden, die gelegentlich einen Blick auf die Verlautbarungen dieser Truppe werfen, fast einem Lottogewinn gleich kommt): "Verhandlungen zu Russlands Bedingungen sind gleichbedeutend mit einer vollen ukrainischen und westlichen Kapitulation."
Nun, das ist einer der Gründe, warum die Diplomatie erfunden wurde. Kriege kann man verlieren, und das ist dann für jedermann offensichtlich. So klingt das in der Variante t-online:
"Hinzu kommt, dass man die Realität eines langen Krieges noch immer nicht wahrhaben möchte. Es wurde darüber geredet, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnen kann. Einige diskutieren über Verhandlungen, über einen Waffenstillstand. Das ist und war Unsinn."
Wie schon gesagt, beide Texte sollen noch weiteren Einsatz für die Ukraine erzwingen, und der Fensterspalt, den sie öffnen, dient einzig diesem Zweck. Beide Texte tun immer noch so, als bräuchte es nur genug Geld und Entschlossenheit im Westen, um das beschriebene Ergebnis abzuwenden. Noch einmal t-online:
"Der Westen scheint die Realität im Ukraine-Krieg nicht zu sehen. Es gibt in Europa nicht den Willen, um ausreichend Munition und Fahrzeuge zu produzieren oder ukrainisches Gerät instand zu setzen. So können wir die Ukraine nicht durch einen langen Krieg bringen. Es könnte sein, dass auch Deutschland irgendwann aufwacht. Aber dann könnte es schon zu spät sein, denn rüstungsindustrielle Maßnahmen brauchen Vorlaufzeit, und es ist bereits fünf nach zwölf. Die Zeit hat die Ukraine nicht mehr. Wenn sich nun auch noch die Amerikaner mit ihrer Unterstützung weiter zurückziehen würden, dann wird es wirklich bitter."
Es ist und bleibt der Treppenwitz des ganzen Ukraine-Konflikts, dass die besten industriellen Voraussetzungen in der gesamten NATO ausgerechnet in Deutschland bestanden, dessen industrielle Möglichkeiten durch die höheren Energiepreise dank der Sanktionen deutlich reduziert wurden. Tatsächlich ist es unter allen Unternehmen des militärisch-industriellen Komplexes der NATO zur Freude von Frau Marie-Agnes Strack-Zimmermann der deutsche Rheinmetall-Konzern, der seine Granatenproduktion am kräftigsten erhöht hat. Natürlich zu deutlich höheren Preisen (wobei auch eine Rolle spielen dürfte, dass man zur Sprengstoffproduktion Ammoniak braucht, für dessen Produktion wiederum Erdgas …) – es hat schon einen gewissen Charme, dass der Wirtschaftskrieg des Westens ausgerechnet die militärisch-industriellen Fähigkeiten reduziert hat, aber so ist es.
Was der Österreicher Gustav Gressel, der Interviewpartner von t-online, schildert, ist also immer noch der Illusion verbunden, militärische Produktion wäre eine Frage des Willens. Das ist sie nicht, es braucht dafür Maschinen, Rohstoffe und qualifiziertes Personal. In den USA wurden Metallarbeiter aus der Rente geholt, um die Maschinen der Rüstungsindustrie zu bedienen. Und auch wenn sich die entsprechenden Firmen über ihre enormen zusätzlichen Gewinne freuen, wirkliche Kriegsproduktion ist Planwirtschaft. Nach 30 Jahren Neoliberalismus weiß man im Westen nicht einmal mehr, wie das geht.
US-Präsident Joe Biden hat übrigens die westliche Standardformel abgeändert. Sie lautet nun nicht mehr "so lange es nötig ist", sondern "solange wir können". Und die ganze Vorführung mit Selenskij in Washington weckt den Verdacht, dass es dabei allein um Schuldzuweisung ging und es gar nicht ernsthaft beabsichtigt war, weitere 61 Milliarden im Projekt Ukraine zu versenken.
Schließlich stellt sich die Frage, ob die ukrainische Armee, sollte sie beschließen, sich auf halbwegs stabile Verteidigungspositionen zurückzuziehen (womit sie ans westliche Dnjepr-Ufer müsste), überhaupt noch in der Lage ist, diesen Schritt zu vollziehen. Dabei geht es nicht nur darum, ob in weithin offenem Gelände ein massiver Rückzug unter russischer Luftüberlegenheit machbar ist, sondern vor allem darum, welche Konsequenzen dies auf die ohnehin längst nicht mehr stabile Moral der Truppen hätte.
Sollten das Weiße Haus oder das Pentagon diesen Faktor mit einrechnen und zu dem Schluss kommen, dass ein Aufrechterhalten der Front und ein Kaschieren der Niederlage bis zur US-Wahl unmöglich ist, könnte die Strategie sich völlig umkehren. Das hieße, dass offensiv versucht wird, den ukrainischen Zusammenbruch maximal zu beschleunigen, damit er bis zur Wahl im nächsten November bereits aus den Schlagzeilen verschwunden ist. Für Russland ein Fall von Zugzwang, weil der Westen, wenn er die Unterstützung mit dieser Absicht kappen sollte, kaum antreten wird, um die humanitären Folgen zu begrenzen.
Wer diese Variante für zu zynisch hält, sollte noch einmal einen genaueren Blick auf Gaza werfen. Oder sich daran erinnern, dass die Ukrainer spätestens seit dem Abbruch der Verhandlungen in Istanbul zu Kanonenfutter erklärt wurden. Ein forcierter kompletter Kollaps, um eine russische Rettung zu erzwingen, für die man dann die eigene Opposition verantwortlich macht, wäre eine denkbare Methode, um die Niederlage zumindest im Westen selbst noch einmal zu verschleiern. Für die Ukraine ein tragisches Ergebnis. Einzig die dann erfolgenden Pirouetten der Bundesregierung, die immer noch von einem ukrainischen Sieg spricht, dürften für Heiterkeit sorgen.
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