Von Alex Männer
Noch vor Kurzem zählte Deutschlands Volkswirtschaft zu den effizientesten und stabilsten der Welt, weshalb man sie auch als Wirtschaftsmotor der Europäischen Union bezeichnete. Nach der Abkehr von den preiswerten Energieträgern aus Russland bekommt die Bundesrepublik inzwischen die Negativfolgen dieser kurzsichtigen Politik ihrer Regierung immer stärker zu spüren – und wird dabei zunehmend mit einer regelrechten Wirtschaftskrise konfrontiert.
Auf diesen Aspekt hatte unter anderem das Magazin The Economist verwiesen und Deutschland mit Blick auf seine Wirtschaftslage den "kranken Mann Europas" genannt. Demzufolge verzeichnete das Land in diesem Jahr in drei Quartalen in Folge eine Rezession (oder bestenfalls Stagnation), und könnte am Jahresende sogar die einzige Top-Volkswirtschaft sein, deren Wirtschaftswachstum 2023 insgesamt negativ ausfällt.
Der Negativtrend ist vor allem im deutschen Industriesektor zu konstatieren, der in den vergangenen zwei Jahren bereits um etwa ein Zehntel geschrumpft ist. So musste etwa die Chemieindustrie ihre Produktion wegen hoher Energiekosten zurückfahren. Aber auch die Autoindustrie ist von der zunehmenden Energiekrise betroffen und steht daher womöglich vor einem massiven Stellenabbau, infolgedessen Tausende Arbeitsplätze wegfallen könnten. Selbst die traditionsreichen Automobilhersteller wie BMW, Volkswagen oder Mercedes-Benz, die seit jeher die heimische Wirtschaft antreiben, ziehen Konsequenzen und verlagern ihre Produktion zunehmend ins Ausland.
Die ausländischen Industriegiganten hingegen verlassen Deutschland oder reduzieren ihre Produktion im Land erheblich. Dazu gehören zum Beispiel die weltweit führenden Reifenhersteller Michelin aus Frankreich oder die US-Firma Goodyear.
Angesichts dessen hat Deutschland sowie die EU eine wirtschaftspolitische Initiative auf Lager, die der deutschen Industrie Hoffnungen macht. Wie Medien vor wenigen Tagen berichteten, soll die Bundesregierung das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den vier Ländern des südamerikanischen Wirtschaftsbündnis Mersocur, Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay, schnellstmöglich unter Dach und Fach bringen wollen.
Im Fall einer Einigung würden Europa und Südamerika eine der weltweit größten Freihandelszonen schaffen. Diese Handelszone würde mehr als 700 Millionen Menschen umfassen und nahezu 20 Prozent der Weltwirtschaft und mehr als 30 Prozent der globalen Warenexporte abdecken.
Vermutlich war der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva am Montag in erster Linie deshalb zu Regierungsgesprächen nach Berlin gereist, um mit Scholz über den Abschluss des Vertrages zu beraten. Beide Politiker hatten zuvor schon die Wichtigkeit des Handelsabkommens unterstrichen, das jedoch über zwei Jahrzehnte hinweg ohne Ergebnis verhandelt worden war und vor Kurzem angeblich sogar vor dem Scheitern stand.
Ausschlaggebend dafür, dass diese Initiative zwischenzeitlich auf Eis gelegt wurde, sind die Anordnungen der EU hinsichtlich des Schutzes des Regenwaldes, die im Falle eines Verstoßes der EU Sanktionen gegen das betreffende Land erlauben würden. Die Länder des Mercosur empfinden das als Schikane.
Dieses Vorgehen Brüssels hat insbesondere Deutschland heftig kritisiert, dessen Wirtschaft bekanntlich exportorientiert und zudem auf den Import von Rohstoffen angewiesen ist.
Mit dem Abbau der Zölle und der Intensivierung der Handelsbeziehungen mit der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft verspricht man sich in Deutschland dagegen bessere Absatzmärkte für seine Waren. Dies gilt etwa für den eigenen Maschinenbaubereich, denn das Abkommen sieht unter anderem Exporte von industriell gefertigten Gütern aus der EU vor, wie Fahrzeuge und Ersatzteile.
Umgekehrt umfasst der Vertrag die Einfuhr von Rindfleisch, Soja und anderen Lebensmitteln aus den beteiligten südamerikanischen Ländern in die EU, was zum Beispiel in Brasilien mehrheitlich Zuspruch findet. Die Brasilianer würden damit nicht nur die für ihre Industrie so wichtigen Güter aus Deutschland und Europa zu besseren Konditionen bekommen, sondern könnten im Gegenzug ihre Agrarprodukte verstärkt in die EU exportieren.
Allerdings ist der Mercosur-Deal in Teilen Europas umstritten. Der Widerstand kommt vor allem aus Frankreich, das seine Märkte schützen will. Paris will laut Experten die französischen Rinderzüchter vor der südamerikanischen Konkurrenz schützen. Das gilt auch für andere europäische Gegner des Abkommens. In diesem Zusammenhang wird nämlich befürchtet, dass der europäische Lebensmittelmarkt durch den Freihandel nicht mit den preiswerteren landwirtschaftlichen Produkten aus Südamerika konkurrieren könnte. Aus diesem Grund sollen die relativ hohen Einschränkungen beim Export im Agrarbereich bestehen bleiben.
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