Von Dagmar Henn
Es muss weh tun. Das merkt man dem ausführlichen Bericht der Washington Post über die gescheiterte ukrainische Offensive deutlich an. Schließlich war das Ganze monatelang geplant worden, in Wiesbaden, bei EUCOM. Und dann ging alles derart gründlich schief.
Das jedenfalls wird eingestanden, auch wenn nach wie vor das Wort "Patt" das Wort "Niederlage" kaschiert. Diese Pläne sind gescheitert. An diesem Punkt geht es nicht weiter, und der geradezu episch zu nennende Bericht – zwei lange Teile, eigentlich schon eher eine Broschüre als ein Artikel – weckt auch keinerlei Hoffnung auf einen militärischen Ausweg.
Damit erweist sich ein weiteres Mal, dass die öffentliche Darstellung in den Vereinigten Staaten immer noch ein gutes Stück näher an der Realität ist als in Deutschland und im restlichen Westeuropa, wo die Ukraine immer noch siegen kann, und sei es, wie der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter jüngst vorschlug, indem man alle in der EU befindlichen männlichen Ukrainer noch in den Fleischwolf wirft. Ganze zehn Brigaden könnte man in Deutschland holen, meinte er.
Ein Sieg für die Ukraine, so das Fazit des Artikels, sei weit weniger wahrscheinlich als Jahre von Krieg und Zerstörung. Noch nicht die ganze Wahrheit, aber doch nahe dran. Interessant sind all die anderen Details, die hier erstmalig oder zumindest zum ersten Mal so geballt und so deutlich berichtet werden.
Die Rolle, die die US-Einrichtungen in Deutschland gespielt haben. Grafenwöhr in Franken etwa taucht als Szene eines Besuchs des US-Generals Mark Milley im Januar 2023 bei ukrainischen Truppen auf, die dort ausgebildet werden, und nebenbei findet sich dann die Aussage "Die Einrichtung war seit 2014 genutzt worden, um kleine Gruppen von Ukrainern auszubilden". Gruppen, deren Aufgabe dann darin bestand, den Donbass anzugreifen. Wie weit war die deutsche Regierung einverstanden oder daran beteiligt?
Die militärische Planung der ukrainischen Offensive fand ebenfalls in Deutschland statt:
"In den Anfangsmonaten des Jahres 2023 führten Militärs aus Großbritannien, der Ukraine und den Vereinigten Staaten in einem Stützpunkt der US-Armee in Wiesbaden eine Reihe von Kriegsspielen durch, wo ukrainische Offiziere in ein neu etabliertes Hauptquartier integriert wurden, das dafür verantwortlich war, den Kiewer Kampf zu unterstützen."
Der ganze Bericht der WaPo gibt sich große Mühe, den Ukrainern unabhängige Entscheidungen zuzuschreiben. Wie real das ist und wie direkt der Einfluss dieser Wiesbadener Kommandozentrale war, ist aber ein anderes Thema. Vor allem, weil eines der Ziele dieser Darstellung mit Sicherheit darin besteht, die Verantwortung für das Ergebnis vorzugsweise bei der ukrainischen Seite anzusiedeln.
Schließlich hätten die Wiesbadener Planer der Ukraine einen einzigen, hochgerüsteten Keil in Richtung Melitopol angetragen, und es sei Kiew gewesen, das auf drei kleineren Angriffsbewegungen bestanden hätte. "Die westliche Militärdoktrin", so die WaPo, "fordert einen konzentrierten Schlag auf ein einziges Ziel." Wer dahinter den Schatten des Blitzkriegs erahnt, vermutet wahrscheinlich richtig; nur dass, wenn man die russischen Vorbereitungen betrachtet, auch diese Variante gescheitert wäre. Die befestigten Stellungen der russischen Armee seien "nach sowjetischem Handbuch" gebaut worden, was nicht verwundert, denn der Aufbau mit mehreren Reihen befestigter Stellungen spielte schon in der Schlacht von Kursk eine entscheidende Rolle. Die bekanntlich nicht mit einem Erfolg der Angreifer endete.
Der oben erwähnte Besuch Milleys galt der 47. Brigade der ukrainischen Armee, die in Grafenwöhr geschult wurde und die für den Durchbruch Richtung Melitopol vorgesehen war. An dieser Stelle lässt sich gut erkennen, auf welche Weise die WaPo mit den unangenehmeren Informationen umgeht. Es wird offen eingestanden, dass diese Brigade zu 70 Prozent mit frisch Eingezogenen bemannt war, weil "über ein Jahr des Krieges die ukrainischen Streitkräfte viel gekostet" habe. Aber sogleich wird daraus ein Vorteil gezaubert: "Junge Offiziere würden die NATO-Taktiken unbeeinflusst von der sowjetischen Weise der Kriegsführung aufnehmen, die immer noch Teile des ukrainischen Militärs beeinflusste."
Das weitaus größere Problem war allerdings, dass die in Wiesbaden ausgetüftelte Strategie schlicht die gesamte militärische Entwicklung ‒ die sich bereits im Donbasskrieg abgezeichnet hatte, aber im Verlauf des ersten Jahres der Speziellen Militäroperation einen gewaltigen Sprung machte ‒ nicht wirklich berücksichtigt hatte. In Grafenwöhr, gesteht die WaPo, hätten die Ukrainer darauf bestanden, Drohnen in die Ausbildung mit einzubeziehen. Die US-Ausbilder weigerten sich anfänglich, weil "die Übungsprogramme bereits festgelegt waren". An anderer Stelle wird eingestanden:
"Die ukrainischen Soldaten kämpften einen Krieg, wie ihn keine NATO-Truppe erlebt hatte: einen großen konventionellen Konflikt, mit Gräben im Stil des Ersten Weltkriegs, unter allgegenwärtigen Drohnen und anderen futuristischen Werkzeugen – und ohne die Luftüberlegenheit, die das US-Militär in jedem modernen Konflikt hatte, in dem es kämpfte."
Das Fazit eines anonymen Ukrainers, das die WaPo hierzu anführt, lautet profan: "Diese ganzen Methoden – man kann sie geradewegs nehmen und wegschmeißen, weißt du?" Ein weiterer der Fälle, in denen dieser Text die Wahrheit ausspricht, aber trotzdem hinterher versucht, sie wieder ungesagt zu machen.
Auch bezogen auf die Fantasie des siegreichen Panzerkeils gibt es an anderer Stelle eine Antwort. Denn das Fazit eines anderen ukrainischen Offiziers bezogen auf die amerikanischen Vorhaltungen, man sei einfach zu sparsam mit dem gelieferten Material umgegangen, lautet nüchtern: "Die Ausrüstung, die auf dem Schlachtfeld erscheint, hat eine Lebenserwartung von maximal einer Minute."
Man könnte auf dieser Grundlage sagen, nicht nur die Ukraine, sondern die gesamte NATO hat im Grunde keine Ahnung, wie sie unter derartigen Bedingungen Erfolge erzielen könnte. Die heutige Führungsgeneration geht von völlig falschen Voraussetzungen aus, weil auch niemand mehr übrig ist, der noch mit den Berechnungen vertraut ist, die während des Kalten Krieges angestellt wurden, die beispielsweise einem Panzergrenadier eine Überlebenszeit von 90 Sekunden gaben. Immer noch mehr als eine Minute, aber doch nahe dran.
Auch diese Frage der falschen Annahmen wird in dem Artikel durchaus angesprochen, wenn auch recht verborgen, im Kontext der Berechnung möglicher Verluste bei der Planung, wo es heißt: "Die amerikanischen Offiziere hatten in den größeren Schlachten im Irak und in Afghanistan erlebt, dass die Verluste weit niedriger waren, als geschätzt worden war. Sie sahen die Schätzungen als Ausgangspunkt für die Planung der medizinischen Versorgung und der Evakuierungen vom Schlachtfeld, wodurch die Verluste nie das angenommene Niveau erreichten." Sprich, die Berechnungen mögen eventuell sogar zutreffend gewesen sein, aber die vorhandene Erfahrung hinderte daran, sie tatsächlich ernst zu nehmen.
Strenggenommen reichen schon diese Punkte, um eine Niederlage wahrscheinlich werden zu lassen. Dazu kam dann noch das Problem mit der Artilleriemunition, was weder die (hier erstmals eingestanden) 350.000 aus Südkorea bezogenen Granaten dauerhaft lösen konnten, noch die Lieferung von Clustermunition; die Produktion in den USA, so die WaPo, liegt bei weniger als 9.000 Granaten im Monat.
Oder das winzige Detail, dass zumindest nach ukrainischen Aussagen, die die WaPo anführt, das gelieferte westliche Material oft schadhaft war: "Deutsche Marder-Schützenpanzer hatten keinen Funk; sie waren nicht mehr als Eisenschachteln auf Ketten", wird ein weiterer Ukrainer zitiert. Von amerikanischer Seite erfolgt im Gegenzug der Vorwurf, die Ukrainer wären nicht fähig, das gute Gerät angemessen zu behandeln. Und, zu guter Letzt, selbst die Lieferung der von Kiew so begehrten F-16 würde nichts ändern. Dazu sagte ein höherer US-Offizier: "Wenn man in drei Monaten eine Staffel F-16-Piloten ausbilden könnte, dann wären sie am ersten Tag abgeschossen worden, denn die russische Luftabwehr in der Ukraine ist sehr stark und sehr fähig."
Es lässt sich also in diesem Artikel alles finden, was nötig ist, um alle Hoffnungen auf einen Sieg nicht nur der Ukraine, sondern auch der NATO selbst zu beenden. Da führt schlicht kein Weg hin. Aber diese ganzen Punkte sind in den Artikel eingestreut, während die Aufmerksamkeit gezielt auf eine ganz andere Geschichte gelenkt wird – auf die Kommunikation zwischen dem Pentagon und der ukrainischen Armee.
So soll der Chef von EUCOM, General Christopher Cavoli, den ukrainischen Generalstabschef Saluschny im Sommer wochenlang nicht erreicht haben. Die Ukrainer hätten den Beginn der Offensive immer weiter hinausgezögert. Und da wäre ja noch der große Fehler der drei Angriffskeile, die der ursprünglichen Planung widersprachen.
Es ist diese Geschichte, die beim unaufmerksamen Lesen die anderen Informationen überlagert, weil hier handelnde Personen aufeinanderprallen, US-Generalstabschef Mark Milley, Saluschny, Selenskij, Pentagon-Chef Lloyd Austin... Dass das Drama, in dem diese Personen aufgestellt werden, auch bei einem völlig anderen Verlauf nichts an den erwähnten objektiven Gegebenheiten ändern würde, ist eine Erkenntnis, die man sich bei der Lektüre selbst erarbeiten muss.
Zur Garnierung werden dann noch allerlei Vorurteile und Propagandabröckchen geliefert, die von der technischen Ebene ablenken. So wird zwar die Zahl ukrainischer Verluste bis Anfang 2023 mit 130.000 für westliche Medien relativ hoch angesetzt, aber es wird ebenfalls behauptet, die russischen hätten zur gleichen Zeit 200.000 betragen. Man habe die russische Bereitschaft unterschätzt, "Leben in einer Größenordnung zu opfern, die wenige andere Länder billigen könnten", während die Ukrainer "sich vor katastrophalen Verlusten fürchteten".
Von den Sperrtruppen, die die schlecht motivierten Soldaten an der Flucht hindern sollen (die, nebenbei, mit Videos belegt sind, allerdings bei der ukrainischen Armee), bis hin zur menschlichen Flut, die bei Angriffen die fehlenden Fähigkeiten ersetzen soll, wird fast jedes Klischee wiederholt, das schon über die sowjetische Armee im Umlauf war. Ein Musterbeispiel dafür liefert ein Zitat von CIA-Chef William J. Burns:
"Bei all ihrer Inkompetenz im ersten Kriegsjahr gelang es ihnen [den Russen], eine chaotische Teilmobilisierung zu starten, um eine Menge Löcher in der Front zu stopfen. In Saporoschje konnten wir sehen, wie sie wirklich ziemlich beeindruckende feste Verteidigungen aufbauten, schwer zu durchbrechen, wirklich teuer, wirklich blutig für die Ukrainer."
Tatsächlich wurden besagte Verteidigungen nie durchbrochen, auch wenn die WaPo behauptet, etwa das endlos umkämpfte Dorf Rabotino liege hinter der ersten dieser Linien. Das Zitat von Burns belegt aber genau diese eigenartige Mischung aus Verachtung und Unglauben, die den Artikel prägt.
Bei den Planspielen in Wiesbaden war sogar eine Kapitulation Russlands als Möglichkeit erwogen worden. "Die Aufklärung während des Winters hatte gezeigt, dass die russische Verteidigung vergleichsweise schwach und überwiegend unbesetzt war, und dass die Moral der russischen Truppen nach ihren Niederlagen in Charkow und Cherson schlecht war. Die US-Aufklärung schätzte, dass die führenden russischen Offiziere von trüben Aussichten ausgingen."
Man kann sich natürlich fragen, wie viel dieser Aufklärung von US-amerikanischer, und wie viel davon von ukrainischer Seite stammte. Aber an diesen Vorurteilen wird eisern festgehalten. Man hat sie schließlich nicht umsonst seit 1946 gehegt und gepflegt.
Es ist dieses erbitterte Festhalten am Feindbild, das in der Washington Post Sätze wie jenen von Mark Milley auftauchen lässt, den er in Grafenwöhr zu ukrainischen Diversanten gesagt haben soll:
"Es sollte keinen Russen geben, der sich schlafen legt, ohne sich zu fragen, ob ihn mitten in der Nacht nicht die Kehle durchgeschnitten wird."
Dahinter ist die unausgesprochene Erwartung, dass besagte ukrainische Diversanten auf die bereitwillige Unterstützung der Bevölkerung hoffen können. Eine Erwartung, die vielleicht in Galizien eine Grundlage hat, aber nicht in jenen Gebieten, in denen die Kämpfe bisher stattfanden. Dass aber eine ordentliche, gesetzte Zeitung wie die WaPo (auch wenn sie enge Beziehungen zur CIA hegt) einen solchen Satz zitiert, als sagte man so etwas bei einem gepflegten Abendessen, zeigt schon, wie tief dieses verzerrte Bild der Russen sitzt.
Wäre dem nicht so, wäre der Artikel zu einem wesentlich klareren Fazit gekommen. So sind es Unglaube und Unverständnis, die eine nüchterne Betrachtung des Scheiterns in der Ukraine verhindern. Was betrüblich ist, weil das wiederum wenig dazu beiträgt, die westlichen Regierungen zu einem auf Tatsachen und nicht Fantasien und Wünschen beruhenden Handeln zu bewegen.
Dabei gibt es in diesem Artikel einen Satz, der sämtliche NATO-Kriegsplaner bis in ihre Träume verfolgen sollte. Denn eigentlich war die Niederlage wesentlich schneller absehbar, der Zeitpunkt, an dem sich die Planungen als untauglich erwiesen, trat sehr früh ein. "Am vierten Tag hatte General Saluschny, der oberste Kommandeur der Ukraine, genug gesehen. Verbrannte westliche Rüstungsgüter – amerikanische Bradleys, deutsche Leopard-Panzer, Minenräumfahrzeuge – übersäten das Schlachtfeld. Die Zahl der Toten und Verwundeten untergrub die Moral. […] Monate der Planung mit den Vereinigten Staaten wurden an diesem vierten Tag in den Müll geworfen."
Vier Tage, und ein Angriff, an dessen Vorbereitung die gesamte NATO mit Informationen, Planung und Material beteiligt war, ist gescheitert. Wie viele wären noch am Leben, wäre dieser Moment als das wahrgenommen worden, was er war. Wie viele könnten noch am Leben bleiben, wäre der Westen imstande, seine Vorurteile beiseite zu legen und auf die Tatsachen zu reagieren. Aber die Annäherung an diese Wahrheit ist zu schmerzhaft.
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