Von Gert Ewen Ungar
Am Sonntag moderierte Anne Will zum letzten Mal die nach ihr benannte Talkshow im Anschluss an den Sonntagskrimi in der ARD. "Die Welt in UNOrdnung – Ist Deutschland den Herausforderungen gewachsen?", war die Sendung überschrieben und eine Stunde später ist klar, die Antwort auf die Frage lautet klar: nein.
Bei "Anne Will" diskutierten Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), der Schriftsteller Navid Kermani, der Historiker Raphael Gross und die NATO-Lobbyistin Florence Gaub. Sie machten klar, dass man in Deutschland aktuell noch gar nicht konkret verstanden hat, worin die Herausforderungen tatsächlich bestehen. Es hapert bereits an der Fähigkeit zur Analyse. Dabei sind die einzelnen Problemfelder schnell umrissen: Die Ukraine verliert den Krieg, in Deutschland klafft ein riesiges Haushaltsloch und mit dem Bekenntnis zur bedingungslosen weiteren Unterstützung von sowohl der Ukraine als auch Israel steht Deutschland inzwischen allein da. Dennoch schaffte es niemand in der Runde, daraus den richtigen Schluss zu formulieren: Deutschland gehört zu den Verlierern. Deutschland hat im Ukraine-Konflikt auf den Sieg über Russland gesetzt und verloren.
Die Talkshow-Gäste sind sich mit der Moderatorin einig: Beim Krieg in der Ukraine geht es um mehr als um die Ukraine, es geht um die Weltordnung. Unterstützt man die Ukraine nicht weiter, wird sie den Krieg verlieren. Was das für Deutschland bedeutet, will man lieber nicht thematisieren. Es wird lediglich die Angst vor den "Autokratien" ein bisschen angeheizt. Für die Auseinandersetzung mit Fakten fehlt nach wie vor der Mut, also gibt man sich weiterhin Wunschdenken und plumpen Parolen hin.
In Wunschdenken wurzelt beispielsweise die Forderung nach weiterer und umfassenderer Unterstützung der Ukraine. Habeck behauptet, die Ukraine würde selbst entscheiden, wann sie sich mit Russland an den Verhandlungstisch setzt. Jeder weiß, dass dies ganz einfach nicht stimmt. Die Ukraine ist sowohl finanziell als auch im Hinblick auf Waffen vollkommen vom westlichen Ausland abhängig. Alles, was in der Ukraine entschieden wird, kann daher von außen gesteuert werden und wird auch von außen gesteuert.
Deutschland ist derzeit das einzige Land, das sich weiterhin zur bedingungslosen Unterstützung der Ukraine bekennt. Dabei hat Deutschland in seinem gegenwärtigen Zustand nicht das Potenzial, seine Hilfen auszuweiten, geschweige denn das Wegbrechen der US-Hilfen zu kompensieren.
Die Ukraine hat den Stellvertreterkrieg unabwendbar verloren. Und dass die Ukraine den Krieg verliert, wird für Deutschland, für die EU und die NATO weitreichende Konsequenzen haben, denn er war eben genau das: ein Stellvertreterkrieg. Der Westen führte in der Ukraine einen Krieg gegen Russland, wollte das Land zudem mit Sanktionen ruinieren und diplomatisch isolieren. Nichts davon ist gelungen. Den daraus erwachsenden Konsequenzen wird man sich stellen müssen. Bei "Anne Will" diskutiert man um diese Tatsachen herum.
Habeck merkt zwar ganz richtig an:
"Dieser Krieg entscheidet auch darüber, welche Friedensordnung wir in Europa haben."
Er bleibt dann aber erneut bei der Forderung nach weiterer Unterstützung der Ukraine stecken. Ja, der Satz ist richtig. Der Krieg ist allerdings bereits entschieden und damit auch, wer über die Friedensordnung bestimmt. Deutschland ist es nicht. Deutschland und wohl auch die EU werden künftig nicht mit am Tisch sitzen, wenn es um die neue Sicherheitsarchitektur in Europa geht.
Deutschland weigert sich noch immer, die Sicherheitsinteressen Russlands als gleichwertig zu respektieren. Der Krieg hat seine Ursache darin, dass deutsche Politik gemeinsam mit EU und NATO nach Dominanz über Russland strebten. Man glaubte in Deutschland, dieses Mal könne man Russland gemeinsam mit den westlichen Bündnispartnern niederringen. Das ist gescheitert. Das zu bekennen, war bei Will niemand bereit. Sich dem zu stellen, ist aber eine der Herausforderungen, vor denen Deutschland steht. Deutschland hat seine historischen Fehler wiederholt.
Der Krieg hat seine Ursache in der Einladung der Ukraine zum NATO-Beitritt. Die Ukraine hat sich dies nach dem Putsch 2014 als Staatsziel in die zuvor der Neutralität verpflichtete Verfassung geschrieben. Der Westen, die NATO, die EU und Deutschland glaubten, sie könnten Russland den Ordnungsrahmen diktieren, und sind damit eingebrochen. Es wäre an der Zeit, sich das einzugestehen und einzusehen, dass die Eskalation des Konflikts ein historischer Fehler war. Der Krieg ist verloren. Deutschland steht auf der Verliererseite. Bei "Anne Will" spricht man darüber nicht.
Die Ukraine ist am Ende. Da hilft es auch nichts, wenn die NATO-Länder immer mehr Ukrainer ausbilden, damit diese dann im Anschluss bessere Ergebnisse auf dem Schlachtfeld erzielen, wie NATO-Lobbyistin Gaub behauptet. Es dauert zu lang und es fehlt der Ukraine schlicht an Männern. Es ist niemand mehr da zum Ausbilden. Auch dieser Realität wird man in Deutschland in die Augen sehen müssen. Für den deutschen Wunsch, der Ukraine zu einem Sieg über Russland zu verhelfen, ist eine ganze Generation ukrainischer Männer gestorben. Dieser tristen Wahrheit stellt sich bei "Anne Will" niemand.
Habecks Position ist zynisch. Weil der Krieg schon so viele Menschenleben gekostet hat, ist die Ukraine jetzt erst recht und noch stärker zu unterstützen, ist seine These. Dass dies schlicht zu immer noch mehr Opfern führen wird – egal. Die Ukraine kann diesen Krieg nicht gewinnen. Jede weitere Lieferung von Waffen verlängert nur das Leid. Habecks Träumerei von einem Endsieg schadet der Ukraine.
Die NATO hat schlicht nicht die Ressourcen, um die Ukraine zum Sieg zu führen. Die Munitions-Lager sind leer. Der Nordatlantikpakt ist zudem im konventionellen Bereich Russland unterlegen, muss eine Schlussfolgerung aus dem Ukraine-Krieg sein, die in der Talkrunde niemand ziehen will. Auch diese Erkenntnis hat natürlich ebenfalls weitreichende Konsequenzen. Die NATO steht nackt da und wurde als Militärbündnis vor der Welt desavouiert. Der verlorene Ukraine-Krieg hat das Potenzial, ihr Schicksal zu besiegeln.
NATO-Lobbyistin Florence Gaub sagt, es gehe um eine neue Weltordnung, und liegt damit zunächst richtig, fügt dann aber hinzu, dass es daher um die Aufnahme von Moldawien und Georgien in die NATO und EU gehen müsse. Sie dekoriert das mit etwas Demokratiegeschwurbel und behauptet, die EU sei nach wie vor attraktiv. Das ist falsch. Die EU ist unter den Unionsbürgern unbeliebt wie nie. Sie unterschlägt zudem, dass sowohl Moldawien als auch Georgien hinsichtlich ihrer EU-Ausrichtung mehr als gespalten sind. Die Regierung in Moldawien sieht sich umfangreichen Protesten ausgesetzt, der Westkurs der Regierung Sandu wird keineswegs begrüßt. Sandu hält sich nur durch repressive Maßnahmen wie Parteiverbote an der Macht. Und auch Georgien ist über die Ausrichtung gespalten.
Die EU sollte im eigenen Interesse und im Interesse des Friedens in Europa ihre Politik der Spaltung aufgeben und zum Konzept der kollektiven Sicherheit zurückkehren, wie sie in der Schlussakte von Helsinki verankert ist. Der Krieg in der Ukraine hat seine Ursache auch darin, dass die EU das Land mit dem EU-Assoziierungsabkommen vor eine Entweder-Oder-Entscheidung gestellt hat. Dieses Denken in Konfrontation muss überwunden werden, ist eine der ganz großen Herausforderungen, vor der Deutschland und die EU stehen. Nur dadurch kann die EU die ihr zugefügte Niederlage überwinden. Ansonsten zerfällt sie. Bei "Anne Will" wird all das nicht benannt.
Und dann sind wir beim eigentlichen Thema. Ja, der Westen verliert den Krieg und die Welt ordnet sich neu. Ist das schlimm? Nein. Denn diese Ordnung, für die Deutschland steht und an der es festhalten will, ist für die Welt unerträglich geworden. Folgt man den Verlautbarungen aus Moskau und Peking, soll die "regelbasierte Ordnung", bei der ausschließlich der Westen die Regeln macht, ersetzt werden durch die Demokratisierung der internationalen Beziehungen. Einfacher wird es dadurch wohl nicht, aber gerechter. Im Osten gibt es einen positiven Zukunftsentwurf, in Deutschland nur das immer verbitterte Festhalten an einer Ordnung, die augenscheinlich niemand mehr will.
Statt darauf zu sinnen, wie das Entstehen einer neuen Ordnung mit Russland als einem für Europa relevanten Machtzentrum verhindert werden kann, sollte man in Deutschland nach Wegen der Beteiligung suchen. Ob das nach allem, was war, möglich ist, wird die Zukunft zeigen. Es erfordert mit Sicherheit viel Diplomatie. Das ist die Herausforderung, vor der Deutschland steht.
Fakt ist: Dass Russland die Ordnung in Europa bestimmt, ist bereits bewiesen. Welche Rolle Deutschland in dieser Ordnung einnehmen wird, ist dagegen noch unklar, denn man hat noch nicht realisiert, was überhaupt passiert ist: Deutschland hat den Krieg gegen Russland erneut verloren. Das ist die Realität, der sich deutsche Politik zu stellen hat. Noch verweigert man sich der Erkenntnis, machte die letzte Sendung von "Anne Will" deutlich.
Mehr zum Thema – Fast die Hälfte der Ukrainer befürwortet Verhandlungen mit Russland