Von Tarik Cyril Amar
Am 16. November veröffentlichte das Wall Street Journal, eines der renommiertesten und einflussreichsten US-amerikanischen Medien, einen Essay mit dem Titel "Es ist an der Zeit, das magische Denken über Russlands Niederlage zu beenden".
Die Autoren Eugene Rumer und Andrew S. Weiss sind einflussreiche Vertreter des US-amerikanischen Establishments für nationale Sicherheit und internationale Beziehungen. Nach einer Karriere im Regierungsdienst leitet Rumer heute das Russland- und Eurasienprogramm der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden; Weiss ist Carnegies Vizepräsident für Studien. Dies ist ein wichtiger Text, und sowohl seine Botschaft als auch der Zeitpunkt seiner Veröffentlichung sind von Bedeutung.
Die Botschaft ist einfach: "Putin" (womit sie Russland meinen) hat "den größten Bemühungen des Westens widerstanden", die Militäroperation gegen die Ukraine rückgängig zu machen. Das politische System Moskaus hat sich als widerstandsfähig erwiesen und ist sogar noch stärker geworden, und "Amerika und seine Verbündeten" müssen nun zu einer Strategie der "Eindämmung" übergehen.
Das Timing ist allerdings etwas komplexer. Der derzeitige israelische Krieg gegen den Gazastreifen – der als "Unruhen im Nahen Osten" bezeichnet wird – ist zweifellos einer von drei Schlüsselfaktoren. Die beiden anderen sind die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA und natürlich das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer, das inzwischen sogar von übereifrigen Zeitungen wie dem britischen Daily Telegraph eingeräumt wird.
Hinzu kommt, dass der Einfluss der USA auf die nichtwestliche Mehrheit der Menschheit weiter schwindet. Vor allem China widersetzt sich erfolgreich dem Druck Washingtons. Innenpolitisch sieht sich die Regierung von Präsident Joe Biden starkem Gegenwind ausgesetzt, sowohl von der offiziellen republikanischen Opposition als auch von einer wachsenden Bewegung auf den Straßen des Landes, wo sich eine weit verbreitete und tiefe Unzufriedenheit mit Politik und Wirtschaft mit einer beispiellosen Protestwelle gegen die Mitschuld der USA an Israels völkermörderischem Krieg gegen die Palästinenser verbindet.
Die Umfragen in den Vereinigten Staaten sind unmissverständlich. Im September, noch vor der Krise im Nahen Osten, stellte das Pew Research Center fest, dass "die Ansichten der Amerikaner über Politik und gewählte Beamte" jetzt ungewöhnlich und "unablässig negativ sind, mit wenig Hoffnung auf Besserung". Mittlerweile widerspricht eine Mehrheit der Amerikaner auch der Regierung Biden – und dem Rest fast des gesamten überparteilichen politischen Establishments – indem sie einen Waffenstillstand in Gaza wünscht, während die Zahl derjenigen, die Israel unterstützen, schnell und deutlich abnimmt.
Vor diesem Hintergrund ist dieser Artikel des Wall Street Journal eindeutig ein klarer und deutlicher Aufruf zum Rückzug. Gegenstand dieses Signals zum Rückzug ist der Stellvertreterkrieg in der Ukraine, d. h. die aggressivste, riskanteste und am deutlichsten gescheiterte außenpolitische Strategie der USA in den letzten zwei Jahren (wenn man den Moment mitzählt, in dem Washington leichtsinnigerweise beschlossen hat, Moskaus deutliche Warnung und sein eindringliches Angebot Ende 2021, eine Kompromisslösung zu finden, abzublocken).
So weit, so aufschlussreich. Aber nicht überraschend. Aus zwei Gründen: Die Abkehr von der Ukraine ist bereits eine ziemlich alte Nicht-Nachricht. Selbst die Mainstream-Medien erkannten den Beginn einer schweren, wahrscheinlich schlussendlichen Ukraine-Müdigkeit lange vor dem Ausbruch des neuen Krieges im Nahen Osten. Zweitens sind die skeptischen Einsichten, die jetzt im Wall Street Journal als Gründe für die Beendigung der Investitionen in den Stellvertreterkrieg in der Ukraine angeführt werden, in der Tat ein alter Hut. Die interessanteste Frage, die der Essay unbeabsichtigt aufwirft, lautet: Warum haben Sie so lange gebraucht?
Es wäre mühsam, auf alle Punkte einzugehen, die jetzt im Wall Street Journal angesprochen werden. Da sie aber alle gemeinsam haben, dass sie vorhergesagt wurden oder völlig vorhersehbar waren, sollen einige Schwerpunkte genügen.
So erfahren wir zum Beispiel, dass die Versuche des Westens, Russland zu isolieren, gescheitert sind. Doch wie schwer war es vorherzusehen, dass der globale Süden keinen Grund hat, dem Westen zu folgen, außer Angst, und dass diese Angst nachlässt? Und hätte man nicht im Voraus wissen müssen, dass China mit "Nein, vielen Dank" antworten würde, als die USA und die EU zwei Dinge gleichzeitig taten: Sie drängten es, Russland aufzugeben, was bedeutet hätte, dass Pekings wichtigste Partnerschaft aufgegeben worden wäre, und signalisierten, dass China als Nächster zurechtgestutzt werden würde? Im Grunde hat China zunächst eine kleine Geste in Richtung einer Distanzierung von Russland gemacht, aber die strategischen Grundlagen der Situation haben sein tatsächliches Verhalten bestimmt und sind inzwischen deutlich geworden. Dieses Ergebnis wurde vorausgesagt, zwar nicht von allen Experten, aber von genügend, um von Bedeutung zu sein.
Wir werden auch daran erinnert, dass es sich um einen Zermürbungskrieg handelt, d. h. einen Krieg, der Russland von Natur aus begünstigt. Sogar auf CNN haben wir das schon im April 2022 gehört, und das militant-atlantische Magazin Economist hat es im September hinter vorgehaltener Hand zugegeben (unter Verwendung des Euphemismus "Krieg der Ausdauer").
Jeder Krieg ist eine Frage der militärischen Wettkampfleistung. Aber in einem Zermürbungskrieg kommt es vor allem auf drei grundlegende Dinge an: die Größe, die produktive und technologische Kapazität und die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft, die Stabilität des politischen Systems einschließlich seiner Popularität im wirklichen Leben und der Legitimität der Eliten, und, nicht zu vergessen, die Demografie.
Das Wall Street Journal stellt fest, dass Russlands Wirtschaft "zwar gebeutelt wurde, aber nicht in Trümmern liegt" (eine ziemliche Untertreibung, aber wir wollen nicht streiten), und dass sich das politische System auf eine "stabile" Unterstützung durch die Bevölkerung und Eliten stützt, die weder rebelliert haben noch desertierten.
Zumindest im Westen war dies schwieriger vorherzusagen. Nicht, weil Russland so schwer zu entschlüsseln wäre, sondern aufgrund westlicher Voreingenommenheit und Gruppendenken, oder, um es unverblümt zu sagen, Wunschdenken. Schon vor dem Krieg in der Ukraine im Februar 2022 haben westliche Politiker, Medien, Denkfabriken und sogar die Wissenschaft unrealistisch pessimistische Einschätzungen zu Russlands Wirtschaft und politischer Stabilität geäußert. Man betrachte als pars pro toto die westlichen Reaktionen auf den Wagner-Aufstand im Juni. Nicht wenige von ihnen sagten den baldigen Zusammenbruch Russlands in Anarchie und Bürgerkrieg oder zumindest eine große und dauerhafte Schwächung Russlands im In- und Ausland voraus. Doch nichts von alledem ist eingetreten.
Die Bedeutung dieses umfassenden, fast totalen Versagens bei der Analyse und Vorhersage liegt darin, wie typisch es war, denn es spiegelt eine vorherrschende Kultur der politisierten Schlampigkeit wider, die das westliche Denken über Russland beeinträchtigt. Eine Schlampigkeit, die umso erstaunlicher ist, als gerade Moskaus Gegner sie sich nicht leisten können, ohne sich selbst erheblich zu schaden.
Denn Selbstschädigung ist das Hauptergebnis. Es ist richtig, dass Russland einen Teil der Kosten für die westliche Kurzsichtigkeit zu tragen hat. Natürlich wäre auch Moskau besser dran, wenn es mit vernünftigen, wenn auch konkurrenzfähigen Partnern zusammenarbeiten könnte, anstatt mit irrational feindseligen Gegnern, die Russland ständig unterschätzen und sich selbst überschätzen. Doch der Westen leidet umso mehr unter dem Muster seiner sich wiederholenden Fehler.
Die Kosten des Stellvertreterkriegs in der Ukraine zeigen dies, und zwar nicht nur in Form von Waffen und Geld, sondern auch in Form von politischem Ansehen. Was die bezifferbaren Kosten angeht, so hat der US-Kongress beispielsweise seit Februar 2022 Hilfen für die Ukraine im Wert von 113 Milliarden Dollar bewilligt. Die Forderung nach einer noch höheren Summe bereitet der Regierung Biden derzeit großes innenpolitisches Kopfzerbrechen und bedeutet höchstwahrscheinlich eine Niederlage. Die EU hat bereits fast 85 Milliarden Euro aufgebracht.
Natürlich sind nicht alle diese Gelder wirklich angekommen, und ein Großteil davon hat in Wirklichkeit die Korruption in der Ukraine angeheizt oder den Gebern und vor allem ihrer Rüstungsindustrie gedient, wie US-Politiker wiederholt mit stolzem Zynismus festgestellt haben. Dennoch bleibt das Gesamtbild einer schwerwiegenden fiskalischen Überbeanspruchung in einem verlustreichen Spiel. Nimmt man noch die selbst verschuldeten Verluste hinzu, die vor allem die EU-Volkswirtschaften durch ihre falsch verstandene Sanktionspolitik erlitten haben, ergibt sich ein düsteres Bild. Wenn man dann noch bedenkt, wie viel der Westen ausgeben muss, wenn er den Wiederaufbau der Ukraine wirklich finanzieren will, werden die Aussichten katastrophal. Viel Glück der EU mit ihren Beitrittsplänen.
Darüber hinaus spielen auch immaterielle Faktoren eine Rolle. Der "Verlust" der Ukraine (die der Westen gar nicht erst versuchen hätte sollen, zu "besitzen") wird die Schwäche des Blocks deutlicher offenbaren als die Misserfolge beispielsweise im Irak, in Libyen, Syrien oder Afghanistan. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens ist Russland im Gegensatz zu diesen Ländern eine Großmacht, d. h. es ist in der Lage, den Rückschlag des Westens auszunutzen. Moskau ist, anders ausgedrückt, groß genug, um geopolitisch zu kontern.
Ob oder wann genau es dies tun wird und welche Form ein solches erneutes "Zurückschnappen" des metaphorischen "Gummibandes" des russischen Präsidenten Wladimir Putin dieses Mal annehmen wird, bleibt abzuwarten. Klar ist jedoch, dass eine solche Vergeltung eine realistische Möglichkeit darstellt. Zweitens ist der Westen so engagiert wie nie zuvor, sowohl inhaltlich als auch rhetorisch, wenn er versucht, die Ukraine zu nutzen, um Russland zurückzudrängen. Daher zeigt ein Scheitern die Grenzen des Westens wie nie zuvor auf. Rumer und Weiss sind nicht naiv. Sie können es nicht aussprechen – und vielleicht können sie es nicht einmal denken –, aber in ihrem tiefsten Innern wissen sie, dass die Verpackung dieser Niederlage als bloßer Strategiewechsel zur "Eindämmung" niemanden täuschen wird, der sich nicht täuschen lassen will.
Es ist gut, dass endlich einige harte Fakten auffallend in den westlichen Mainstream-Debatten auftauchen. Aber das ist nicht genug. Zum einen muss sich der Westen schmerzhafte Fragen stellen, warum er so lange so zwanghaft einseitig geblieben ist. Andernfalls wird sich das gleiche Muster wiederholen, wenn es darum geht, den nächsten Krieg zu beginnen und zu führen, zum Beispiel gegen China oder den Iran. Zweitens wird eine Umstellung auf "Eindämmung" den Schaden nicht beheben, sondern ihn nur ausdehnen. Was der Westen wirklich braucht, ist ein völliges Überdenken nicht nur seiner Methoden, sondern auch seiner Ziele.
Übersetzt aus dem Englischen.
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar
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