Von Wladislaw Sankin
"Zum Gedenken an den antifaschistischen Widerstandskämpfer Rudolf Lunau" – diese Gedenktafel ist im Foyer des Babylon Kinos schwer zu übersehen. Lunau war der Vorführer im Babylon und organisierte in den früheren Jahren des Nationalsozialismus hier einen Stützpunkt für die Untergrundarbeit der KPD. Seit Anfang der 2000er-Jahre gehört das Babylon Kino mit der einzigen Kino-Orgel Deutschlands zu den bekanntesten Programm-Kinos im Land. Hier, im Babylon, ist auch das internationale Filmfestival Berlinale beheimatet. An diesem Tag, am Vorabend des 10. Jahrestags des Beginns des Euromaidans, wird im großen Saal ein ukrainischer Regisseur den Deutschen den Sinn und Zweck des neuen "Antifaschismus" erklären. Diese bestünden nun darin, Russland, "das neue faschistische Weltübel", zu besiegen. Die Deutschen könnten ihre historische Schuld wiedergutmachen, indem sie die Ukraine unterstützen und ihr so viel Waffen wie möglich liefern, lehrt der Ukrainer die Versammelten.
Der Filmemacher heißt Pawlo Peleschok, trägt einen Bart, ist wortkarg und im Selenskij-Stil gekleidet. Im Babylon zeigt er seinen Dokumentarfilm "Life at the Limit", über den Maidan und die Anfänge des Donbass-Krieges, das ist seine Premiere in einem deutschen Kino. Gekommen ist Peleschok aus den USA auf die Einladung des Kulturmanagers Günter Jeschonnek. Jeschonnek ist selbst Autor, Regisseur, Produzent und Mitglied vieler Jurys europaweit: Der 73-Jährige ist im Kulturbetrieb bestens vernetzt und die Ukraine ist seine Leidenschaft. Die Bühne beschmückt er eigenhändig mit der ukrainischen Fahne, sein Gesicht strahlt. In seinem Schlusswort wünscht Jeschonnek der Ukraine den Sieg über "diese Schurken". "Wunderbares Schlusswort. Amen", erwidert Peleschok zufrieden und erntet wieder frenetischen Applaus, wie so oft an diesem Abend.
Egal, was Peleschok mit seiner leisen Stimme sagt, die Zuschauer hängen an seinen Lippen. "Wir, die Ukrainer, standen am Ursprung der europäischen Dynastien, der europäischen Kultur. Wir sind in Europa nicht wegzudenken. Wir waren immer Teil Europas, bis Russland uns okkupiert und kolonisiert hat. Wir sind Teil von Euch, Ihr seid Teil von uns". Der Saal ist begeistert. "Helft uns, bessere Europäer zu werden", fleht ihn ein älterer Deutscher an. Peleschok ist ehemaliger Rennfahrer und war von 2014 bis 2020 als Offizier der ukrainischen Armee im Frontgebiet des Donbass-Krieges eingesetzt. Er nutzt den Auftritt für Kriegspropaganda und erzählt über eine halbe Million Toter im Krieg und über drei Millionen Ukrainer, die nach Russland "deportiert" wurden. Die Rede ist offenbar von Rebellen, Exil-Ukrainern, Flüchtlingen und Evakuierten – also von Menschen, die in Russland Schutz und Rettung fanden. Egal, wie dreist seine Lügen sind, in diesem legendären Kinosaal mitten in Berlin, muss er heute keinen Widerspruch befürchten.
Schließlich berichtet der Produzent, dessen Film über den Maidan-Aufstand "Winter on Fire. Ukrainian fight for freedom" 2016 für einen Oskar nominiert war, über seine Pläne, einen Spielfilm über ein jüdisches Mädchen zu drehen, das mit einem Maschinengewehr "zum ersten Mal in der Geschichte" Stalin und andere "Schurken von Tscheka" tötet. Dem Mädchen hilft ein Gangster aus den USA, der aber eigentlich ein aus der Sowjet-Ukraine geflüchteter UPA-Kämpfer ist. "Das ist die ukrainische Aufstandsarmee", präzisiert der Regisseur stolz die Armeezugehörigkeit seines künftigen Protagonisten. Also kein anderer als ein Banderit, Faschist und Nazi-Kollaborateur. Ein "bad guy" kann er nicht sein. An diesem Kulturabend im Berliner Mitte-Ost geschieht ein weiteres Wunder der Verwandlung, wie es schon bei dem "Bandera-Musical" im Gorki-Theater der Fall war.
"Life at the Limit" war nicht zufällig zum Jahrestag des Euromaidans ausgewählt. Peleschok war der Chronist des Umsturzes, man sieht im Film zum Teil die gleichen Bilder wie im "Winter on Fire". Zusammen mit seinem Freund, Produzent Juri Iwanischin, hat er in einem Gebäude gegenüber dem Unabhängigkeitsplatz, dem Kiewer "Maidan", ein Studio für Streamingdienste "Ukr-Stream" eingerichtet. Später bereiste er die Krim und Gebiete im Südosten – Charkow, Lugansk, Donezk. Ukr-Stream filmte das Geschehen. Aus seiner Perspektive zeigt Peleschok, wie gewaltbereit und ungehobelt die Anhänger der "russischen Welt" angeblich waren, ganz anders als "Wir", die Ukrainer, die nach höheren Werten streben.
Das ist dokumentarische Wahrheit eines Filmemachers, der auf allen Etappen der Filmproduktion entscheidet, welche Bilder der Zuschauer sehen muss oder sehen darf. Sein subjektiver Blick auf die Wirklichkeit fällt unter den Schutz der Kunst- und Meinungsfreiheit. Als proeuropäischer Ukrainer genießt der Filmemacher das Privileg, mit offenen Armen der deutschen Filmindustrie empfangen zu werden. Die erste internationale Uraufführung des "Life at the Limit" fand am 15. Dezember 2022 ebenso in Berlin, bei der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) statt. Laut dem zweiten Produzenten des Films, Juri Iwanischin, hat dieser Film die deutschen Diplomaten und Bundestagsabgeordneten dazu bewegt, der Ukraine offensive Waffen zu liefern – "damit Putins Lügen die Dinge auf der ganzen Welt nicht noch schlimmer machen".
Wenn ein Film oder ein Kunstwerk in der Politik so viel bewirken kann, dann ist es verständlich, dass die Blockade aller Inhalte aus dem Donbass und Russland, die nicht ins Propaganda-Narrativ des Westens passen, so vehement ist. Ein dokumentarischer Film von der anderen Seite der Front, aus dem russischen Donbass, ist hier im Babylon genauso unmöglich, wie eine Kosmonauten-Landung auf der glühenden Venus. Davon gibt es aber jede Menge, authentisch, eindringlich und propagandafrei (zu nennen ist vor allem Maxim Fadejew und seine berühmte Donbass-Reihe). Aber "die Orks" haben keine Kunst. "Russland hat keine Werte", sagt Peleschok in seinem Film. Bis zu einem "wertlosen Leben" ist es nur ein Schritt. Der Beschuss des Donbass beginnt, während er und sein Freund sich zu einem nationalistischen Freiwilligenbataillon melden, doch darüber ist im Film nichts zu sehen. Laut der ukrainischen Medien bekämpft die Ukraine "Terroristen", die zahlreiche Mitschnitte aus dem ukrainischen Fernsehen können ja nicht lügen! Peleschok lässt diese natürlich unkommentiert im Film. Ihre einzige "terroristische" Tat besteht darin, sich dem nationalistischen Diktat der Kiewer Putschisten nicht beugen zu wollen.
Im Film und später im Saal ist immer wieder zu hören, wie die Ukrainer die Freiheit lieben. "Freiheit ist unsere Religion", lautet die Parole der Maidan-Ukraine. Die Abstraktion "Freiheit" ist längst zu einem wohlklingenden Fetisch des militanten Transatlantismus geworden. Die ukrainische Art des "Freiseins" bedeutet konkret – frei von Russen. Die Russen sind lästig, man möchte frei von Russen sein, man will die Geschichte der Ukraine von ihnen bereinigen, was auch seit 2014 (und nicht erst seit Februar 2022) in einem atemberaubenden Tempo geschieht. Denkmäler werden zuerst geschändet, dann gefällt – hundertfach, im besten Fall werden sie in sog. "Besatzungsmuseen" eingebunkert, im schlimmsten Fall auf den Schrottplatz geworfen. Entrussifiziert sind inzwischen auch die Orts- und Straßennamen, Schulen, Universitäten, Bibliotheken, Buchhandlungen, Theater und die Musikbranche. Schnell, entschieden und rücksichtslos. Diese Handlungsart erinnert an Diktaturen der 20er- und 30er-Jahre in Europa und nicht an das Europa des 21. Jahrhunderts, zu dem die Ukraine laut dem Maidan-Narrativ gehören will.
Nun wollen aber besorgte ukrainische "Patrioten" unter den Emigranten, dass Europa ihnen beim "Canceln" Russlands folgt. Die Aktivisten des Vereins der jungen Ukrainer in Berlin "Vitsche" verteufeln die Russen bei jeder seiner Straßenaktionen und wollen das Kulturinstitut "Das russische Haus in Berlin" schließen, weil es angeblich "Propaganda-Viren" verbreite. Aus der Sicht seiner deutschen Freunde sei aber Vitsche keineswegs ein Hetzer und Spalter, sondern ein humanitärer Verein, eine legitime Vertretung "der Ukrainer*innen". Nach nur knapp zwei Jahren seines Bestehens steckt er bereits mittendrin im deutschen Establishment. Vitsche-Sprecherin Krista-Marija Läbe schafft es mitunter in Phoenix-Sendungen, und auch heute sitzt sie in der ersten Reihe und hält ein Weinglas in der Hand. Der Name ihres Vereins schmückt die Liste der Förderer mit solchen "Größen" wie der KAS, der Denkfabrik Think-Tank Zentrum Liberale Moderne (LibMod), der Deutschen Filmakademie, dem Produzent*innenverband e. V., der Produzentenallianz Film und Fernsehen, und einer Reihe weiterer Institutionen der Filmbranche.
Als "Nationalistisches Glamour-Spektakel, ziemlich durchsetzt mit westlicher Kulturindustrie und mit Feuerwerk der Emotionen", bezeichnete die Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Susann Witt-Stahl den Maidan-Aufstand vor zehn Jahren in einem Podcast. Sie hat in dieser Zeit Kiew und den Donbass bereist. Sie merkt weiter an: "Faschismus muss nicht antisemitisch sein". Totalitäre Propaganda setze auf Emotion und Ästhetisierung und sie verwandele die Kulturschaffenden in seine Geisteswaffen, schreibt sie in Anlehnung an die Texte von Benjamin und Krakauer.
In seinem Film stellt sich Peleschok in einen Raum mit riesigen Videowänden, von denen das übergroße Gesicht des Oskar-Preisträgers Sean Penn die Unterstützung des kollektiven Hollywoods und damit symbolisch aller angeblichen moralischen Größen der "zivilisierten Welt" verkörpert. Die Aufnahmen stammen aus dem Maidan-Jahr 2014. Im Jahr 2022 wird Penn seine Oskar-Statue an Selenskij übergeben. Die deutsche Filmbranche will natürlich bezüglich der Ukraine-Unterstützung der US-amerikanischen in nichts nachstehen.
Während in der Ukraine die Männer für große und kleine Fleischwölfe des Krieges ausgehen, ruft die "Stahlhelmfraktion" (Witt-Stahl) der deutschen Kulturindustrie weiter ungehemmt nach Waffen für den Endsieg der Ukraine. "Ihr kämpft für uns und unsere Werte!", sagen Brüssel, Berlin, Prag und – fast jeder Redner an diesem denkwürdigen Filmabend. Während der Journalist und Autor des Buches "Auf beiden Seiten der Front", Patrik Baab, über die Bellizisten unter den Journalisten als Schreibtisch-Täter spricht, die, je lauter sie für Waffen und Krieg werben, umso entfernter von der Front sind, bewegen sich spießbürgerliche Ästheten auf sicheren Bühnen und rufen von dort zum Kampf auf. Vom Tod der russischen Ballettregisseurin und Sängerin Polina Menschich während eines Konzerts in einem "Haus für Kultur" 60 Km von der Frontlinie entfernt, werden sie nie erfahren: Sie und weitere Freiwillige wurden am 19. November von einer HIMARS-Rakete getötet. Ein Video hielt jenen Augenblick fest, als die Rakete in den Zuschauersaal einschlug:
Augenzeugen zufolge "zerschlug eine Rakete die Autos der Freiwilligen, die zweite die Garderobe mit den Künstlern und die Bühne". Ein RIA-Nowosti-Video zeigt die Folgen des Beschusses:
Es kann darauf gewettet werden, dass wenn eine ukrainische Kunstschaffende während ihres Auftritts direkt auf der Bühne von einer russischen Rakete getötet würde, dann würden deutsche Kulturfunktionäre Russland des "barbarischen Angriffs auf Kunst und Kultur" beschuldigen. Der Tod einer russischen Künstlerin ist für die deutschen Medien hingegen keine Notiz wert.
Zurück zur Vorführung im Babylon-Kino. In seinem Film versucht Peleschok alle Hinweise auf einen nationalistischen Charakter und die unglaubliche Gewaltbereitschaft des Euromaidans zu vermeiden. Stattdessen rückt Polizeigewalt in den Fokus. Einmal fängt seine Kamera den Ruf aus einer kalten Maidan-Nacht ein: "Ukraine über alles!". Wir oder die – die Formel des ewigen Krieges, bis eine der Gegenseiten von der Erdoberfläche verschwindet – diese Idee durchdringt die Ideologie des Ukrainismus, das sich als absolutes Anti-Russland versteht. Opfersein, Rachegelüste, Herrensein. Die ukrainische Hymne manifestiert diese Matrix des ukrainischen Nationalismus auf eine eindrückliche Weise:
"Unsere Feinde werden wie Tau in der Sonne zugrunde gehen, wir, Brüder, werden im eigenen Lande herrschen … Brüder, stehen wir auf für eine blutige Schlacht vom San bis zum Don, wir werden niemandem erlauben, in unserem Heimatland zu herrschen."
Seit je her ist das mit der Hand an der Brust Singen dieser Hymne gewissermaßen zu einer religiösen Zeremonie geworden. Auch dieser deutsch-ukrainische Film-Abend wird mit dem gemeinsamen Singen der Hymne eröffnet. Der Großteil der Gäste steht auf und … schweigt – es sind Nichtukrainer. Die Faschisten-Parole "Slawa Ukraine, Gerojam Slawa" (Ruhm der Ukraine, den Helden Ruhm) hallt es nach der Hymne dennoch. In diesem Moment verstehe ich – es war ein Gebet und das halb witzige "Amen" des Regisseurs nach dem Redeschwall seines deutschen Freundes Jeschonnek beendete nicht zufällig die Sitzung.
Der Name der Förderer dieser Vorführung mit einem Banderisten als Film-Regisseur liest sich u. a. wie das Who’s who der deutschen Film- und Fernsehbranche. Produzentenvereinigungen und die Deutsche Filmakademie werden da mit den militantesten und interverntionistischsten deutschen Parteistiftungen und den Think-Tanks KAS und LibMod aufgelistet. Sie predigen Regime-Changes in anderen Ländern und unterstützen den ukrainischen Faschismus, der sich hinter der künstlich-demokratischen Glamour-Fassade zu verstecken versucht. Am 17. Februar hing schon die Berliner Film-Prominenz bei der Eröffnung der Berlinale an Selenskijs Lippen, als er in seiner Videobotschaft Russland als "Stimme des Bösen", Hort der Sklaverei und Ursache des Welthungers anprangerte – pures Stuck Greuelpropaganda, inhaltlich fast nahtlos an antibolschewistische Propaganda im Dritten Reich angelehnt.
"Die NS-Propaganda schürte während des gesamten Zweiten Weltkrieges permanent Ängste vor dem "Bolschewismus" als Inbegriff für Mord, Vergewaltigung, Verbrechen, Elend und Hunger", beschreibt das Bundesarchiv-Online lapidar das hierzu exemplarische Plakat "Sieg oder Bolschewismus". Selenskij erzeugt mit seiner "emotionalen Rede" (Handelsblatt, ZDF, NZZ usw.) geradezu hypnotische Wirkung, ergriffene deutsche Film-Stars würdigen ihn mit stehendem Applaus. Er spricht über die Kraft des Kinos und über Emotionen, die Filme auslösen können. Der Goldene Bär ist gelb-blau gefärbt. Und die Filme wie "Superpower" von Sean Penn oder wie "Life at the Limit" liefern die nötigen Bilder, die "nötige" Gefühle erzeugen. Die Bekämpfung der Vernunft durch Emotionen galt für den Faschismus "damals", und gilt auch für den "totalitären Kapitalismus" heute (Witt-Stahl).
Die aggressive Parteinahme für Faschisten in der berüchtigten Tradition der deutschen Bandera-Unterstützung und das Hofieren eines ukrainischen Militärs durch einen exaltierten Berliner Kultur-Manager bei gleichzeitiger Nichtzulassung von Gegendarstellungen sind die Zeichen des aufkommenden Totalitarismus. Die Aufführung im Babylon ist Teil der Mobilisierungsstrategie und der Kriegspropaganda – vom NATO-Staat auf die Kulturindustrie ausgelagert. Im Keller des "Babylon" druckten der Filmvorführer Lunau 1933–1934 und seine Genossen heimlich antifaschistische Flugblätter, auch gegen jene Wirklichkeit des Hitler-Faschismus, die er mit seinem Vorführgerät an die Leinwand projizieren musste. Ein Kino ist nur Raum und Wände, und es sind Menschen, die sie mit Inhalten ausfüllen. Die Gedenktafel an der Wand des Foyers, die an Lunau erinnert, stellt das Kino Babylon in eine schöne Tradition, die Menschen, die heute dessen Bühne betreten, beleben hingegen das Dunkel der Geschichte.
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