Von Dagmar Henn
Es ist eigenartig, über ein Ereignis zu schreiben, das nur wenig jünger ist als man selbst. Weil alles notwendigerweise aus zweiter Hand ist, es aber dennoch nahe genug liegt, um seine Wirkungen noch wahrgenommen zu haben, es also nur zum Teil den Charakter der historischen Erzählung annimmt.
Man wurde immer irgendwie zu diesem Anschlag hingeführt. Und sei es über die Schlagzeilen der Klatschpresse, für die Kennedys Witwe jahrzehntelang Material lieferte. Das war also die erste Gestalt, die dieses Ereignis annahm, eine Reihe von Bildern zwischen, damals noch, unzähligen Fotos von allen möglichen Königshäusern; Zeitschriften, mit denen ich mir in genau einer Situation die Zeit vertrieb: in einer Dorfwirtschaft, wohin meine Eltern am Wochenende mit uns fuhren, beim Warten auf das Mittagessen; weil es keine andere Lektüre dort gab.
Auf die Nachfragen, wer denn nun dieser Kennedy gewesen sei, erfolgten dann Erklärungen, denen die Bewunderung anzumerken war. Die Identifikation, die in der Generation meiner Eltern wohl nicht selten zu finden war, auch in Deutschland, das zu jener Zeit vom greisen Adenauer regiert wurde. Kennedy war einer von ihnen – einer, mit dem selbst Westdeutsche Hoffnungen verbanden, und der Mord an ihm zeigte überdeutlich, wie vergänglich diese Hoffnungen waren.
In späteren Geschichtsdarstellungen wird der Tag in Dallas vermutlich als der Anfang vom Ende des goldenen Zeitalters der USA beschrieben werden. Denn danach ging es abwärts. In meiner Jugend waren die USA der verbrecherische Staat, der Vietnam bombardierte und in Lateinamerika Demokratie verhinderte. Auch wenn es technisch gelungen ist, nach dem Ende der Sowjetunion auch in Europa eine Klientel zu erzeugen, die das Gerede von der Ausnahmerolle der Vereinigten Staaten teilt – der Glanz ist nur noch künstlich, zu Kennedys Zeit entstand er von selbst, in einer Gesellschaft, in der die Abstände zwischen Arm und Reich weitaus niedriger waren als heute; als die Illusion einer dauerhaften Sicherung der Lebensumstände für alle noch wirklich schien. Mit Zeltstädten von Obdachlosen in den Großstädten funktioniert das nicht mehr.
Marilyn Monroe, die zu Kennedys Geburtstag sang, in einem Kleid, das so eng war, dass sie darin eingenäht werden musste. Vielleicht das Bild, das diesen Glanz am deutlichsten einfängt, auch wenn dahinter die rauchenden Schlote von Detroit und Chicago stehen, zwei Städten, die zum architektonischen Mahnmal des Niedergangs geworden sind.
Vielleicht ist es normal, dass solche Momente, die große Erwartungen erschüttern, die Schallplatte des Lebens hängen lassen, dass sich die Gegenwart von ihnen langsamer entfernt als von Ereignissen minderer Qualität. Im Grunde ist jener 22. November 1963 noch immer nicht abgeschlossen, weil immer noch nicht klar ist, was wirklich geschehen ist. Die erste abweichende Version, die mir begegnete, war die mit der Mafia. Aber das war in den 1970ern, als durch Mario Puzos "Der Pate" das erste Mal weithin bekannt wurde, was die Mafia ist und wie sie funktioniert. Kein Wunder, dass die entsprechende Theorie in dieser Zeit besonders populär war.
Romane, Filme, gleich eine ganze Reihe von parlamentarischen Ausschüssen, die immer wieder auf das Thema zurückkommen, und immer noch keine Klarheit. Nur die weitere Entwicklung ist klar. Der Einstieg der USA in den Vietnamkrieg beispielsweise. Wäre das mit Kennedy anders gekommen? Hätte er wirklich die CIA zerschlagen, wie manche behaupten?
Letztlich bleibt das historische Spekulation, und angesichts der Unzahl von Menschen, die sich bereits mit den bekannten Informationen befasst haben, ist nur eines bisher absolut sicher: dass keine Aufklärung möglich ist.
In den USA ist der Kennedy-Mord das große Rätsel. Aber natürlich war auch er ein kalter Krieger, man muss nur an seine berühmte Berliner Rede denken. Er war schlicht etwas überlegter als andere, und besaß den praktischen Verstand, bei der fälschlicherweise "Kuba-Krise" genannten Konfrontation letztlich nachzugeben und die US-amerikanischen Raketen in der Türkei, die der eigentliche Auslöser waren, auch wieder zurückzuziehen. Vor dem heutigen Washingtoner Personal kann er jedenfalls leicht strahlen.
Ganz unabhängig von den unzähligen Aktenordnern über die Ermittlungen, die inzwischen freigegeben sind, gibt es ein Indiz, das doch eine staatliche Beteiligung nahelegt – und das ist der Umgang mit den Akten. Denn selbst heute, sechzig Jahre danach, sind immer noch einige der Dokumente nicht veröffentlicht. Es geht nicht um viel; 2022 waren 88 Prozent der Unterlagen öffentlich. Aber selbst Donald Trump hat, obwohl die Öffnung dieser Akten eines seiner wichtigsten Wahlversprechen war, die Geheimhaltung für einen Teil weiter verlängert. Was, da alle Beteiligten inzwischen mit Sicherheit verstorben sind, nur einen Schluss zulässt: dass in diesen immer noch unveröffentlichten Teilen Informationen stehen, die eine größere Krise des Staates zur Folge hätten.
Und nachdem Trump kein besonderer Freund der CIA oder der restlichen Buchstabensuppe ist, kann man die Dimension dieser Erschütterung nicht groß genug ansetzen. Sie müsste weit mehr als nur die CIA betreffen, wenn selbst Trump sie verhindern wollte.
Es ist einer der eigenartigsten Aspekte im Umgang mit dem Attentat, dass ausgerechnet der Mann, der bis 1961 Chef der CIA war, Allan Foster Dulles, Mitglied der Warren-Kommission war, die den Mord als erste untersuchte. Dulles war der Mann, der einst in Bern Verabredungen mit der SS traf, und vermutlich auch über Reinhard Gehlen und seine (gefälschten) Akten. Der Architekt des Kalten Krieges. Ein Mann, dem schlicht alles zuzutrauen war; so viel, dass der Mord am eigenen Präsidenten am Gesamturteil schon kaum mehr etwas ändert.
Das Wort "Verschwörungstheorie", das heute so beliebt ist, geht bekanntlich auf die CIA zurück, die es in jenen Tagen in Umlauf brachte, um jede Variante zu verleumden, die nicht Lee Harvey Oswald als Einzeltäter sah. Eine CIA, die zutiefst von Allan Dulles geprägt war, der für all jene scheußlichen Geschichten aus den Anfangsjahren des Kalten Kriegs verantwortlich zeichnete, vom Massenimport von Nazis im Zuge der "Operation Paperclip" bis hin zur Unterstützung von Terroristen auf dem Gebiet der Sowjetunion.
Die Versuchung ist groß, den Mord an Kennedy in eine mythologische Reihe zu stellen, als den Vertreter des Guten, der vom Bösen verraten wird; dabei wäre dann Kennedy der strahlende Held, und Allan Dulles der Teufel. Aber wenn man betrachtet, wer alles in der Gegenwart als strahlender Held verkauft wird, wie real war das wirklich? Nicht bezogen auf Dulles, der war definitiv einer der schlimmsten historischen Schurken, aber war Kennedy wirklich der Gute?
Der Mythos ist in der Regel stärker als die Wirklichkeit. Man nennt Karl den Merowinger immer noch Karl den Großen und nicht Karl, den Sachsenschlächter. Kennedy mit seiner Mischung aus James Dean und Sonnenkönig wurde durch das Attentat zum Symbol einer Epoche, die mit eben diesem Schock endete. Und der Glamour, die Klatschgeschichten tragen dazu bei, dass der Kern der Attraktivität, die die Vereinigten Staaten zu dieser Zeit zweifellos besaßen, übersehen wird, weil der relative soziale Friede zwar für Lebensgefühl und Glück ausschlaggebend ist, aber bei weitem nicht mit dem Gewicht wahrgenommen wird, das ihm tatsächlich zusteht.
Der jetzige US-Präsident Joe Biden wirkt wie die absolute Antithese zu Kennedy. Nicht jung, dynamisch und anziehend, sondern alt, im Verfall begriffen und abstoßend. Dabei ist er eine genauso passende Verkörperung der heutigen USA wie John F. Kennedy es für die USA der ausgehenden 1950er, beginnenden 1960er war. Kennedy ermöglichte es, sich Illusionen über den Charakter der amerikanischen Macht hinzugeben; Biden ist als Person bereits die wandelnde Demaskierung.Und schon sein ehemaliger Chef Bill Clinton, der sich mit allen Kräften mühte, sich als zweiter Kennedy zu verkaufen, belegte, dass eine solche Gestalt in den jetzigen USA nicht mehr möglich ist.
Übrigens, die Ermordung Kennedys ist nicht wirklich der Punkt, an dem sich die USA wandelten. Es gibt noch einen weiteren US-Präsidenten, über dessen Tod es Theorien gibt, auch wenn sie weitaus weniger bekannt sind. Es geht um Roosevelt, der am 12. April 1945 starb. Sein Tod machte den Weg frei für seinen Vizepräsidenten Harry Truman, der die Wende zum Kalten Krieg vollzog. Während man bei Kennedy spekulieren muss, ob er tatsächlich die CIA zerschlagen hätte, hätte er länger gelebt, kann man bezogen auf Roosevelt recht deutlich sagen, dass der Kalte Krieg unter ihm nicht begonnen hätte.
Was wäre das für eine Welt geworden? Es gibt einen alten sowjetischen Roman, Die Brandstifter, in dem erstaunlich viel reales Material verarbeitet worden ist – unter anderem zu den Brüdern Dulles – in dem Roosevelt ermordet wird. Wenn man auch nur einen Teil der Quellen kennt, die da verarbeitet wurden, kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass das damals die sowjetische Einschätzung war. Eine Tat, die, so sie stattgefunden hat, die darauf folgenden Jahrzehnte weitaus stärker prägte als der Mord an Kennedy. Im Grunde ist die globale Machtverschiebung, die jetzt gerade stattfindet, nur die Korrektur einer Abweichung von der möglichen Entwicklungslinie, die dort ihren Ursprung hat.
Der Glanz, der Kennedy umgab, war zu guten Teilen noch eine Hinterlassenschaft Roosevelts. Der hohe Stand, den beispielsweise die Dramatik in den Vereinigten Staaten hatte, war das Resultat der Kulturmaßnahmen des New Deal, die unzählige Künstler förderten. Der Grundstein für den Aufschwung der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unter anderem damit gelegt, mit Straßennetzen, Staudämmen, Stromnetzen und einer kulturellen Belebung bis ins tiefste Hinterland. Das war auch wichtige Voraussetzung für die industrielle Potenz, die im zweiten Weltkrieg eine große Rolle spielte.
Aber Roosevelt war ein alter Mann, und Kennedy surfte auf der Spitze der Woge, die Roosevelt losgetreten hatte, eine Woge, die am 22. November 1963 mit den Schüssen von Dallas brach und heute nur noch müde gegen das Ufer platscht. Kennedy war das strahlende Gesicht eines Hegemons auf dem Höhepunkt seiner Macht, Biden ist sein Fleisch gewordener Abgesang. Wahrheit und Mythos über den Tag in Dallas werden sich erst klar voneinander trennen lassen, wenn dieser Hegemon endgültig abgetreten ist.
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