Von Irina Alksnis
Am Montag kam US-Verteidigungsminister Lloyd Austin unerwartet nach Kiew. Dieser Besuch erhält zusätzliche Facetten, wenn man bedenkt, dass in der vergangenen Woche der CIA-Chef William Burns ebenso plötzlich dorthin gereist war. Und all das zu einem Zeitpunkt, als Washingtons wichtigste Priorität offensichtlich der palästinensisch-israelische Konflikt ist.
Man möchte meinen, dass die USA gegenwärtig schlicht keine Zeit für die Ukraine übrig haben, dennoch mussten sowohl das Oberhaupt von Pentagon als auch der Leiter des US-Nachrichtendienstes von der Notlage in Nahost auf Kiew umschalten, und das bedeutet nur eines: Wenn die USA solch hochgestellte Persönlichkeiten dorthin schicken müssen, entwickeln sich die Ereignisse in der Ukraine miserabel.
Was genau schlecht läuft, ist leicht zu erraten: Der Westen ist reif für die Erkenntnis, dass die ukrainische Karte gegen Russland geschlagen ist – zumindest unter den gegenwärtigen Umständen – und eine Änderung der Strategie erforderlich ist. Doch wie genau diese Strategie geändert werden muss, wird nun auf beiden Seiten des Atlantiks lebhaft diskutiert.
Es ist ein Fehler zu meinen, dass Europa und die USA begonnen haben, die Lage nüchtern zu betrachten, und bereit sind, ihre Niederlage im Krieg gegen Russland einzugestehen. Stimmen, die eine solche Ansicht vertreten, befinden sich dort in der absoluten Minderheit und sind im Grunde marginal. Das Vertrauen des Westens in die eigene Überlegenheit ist unerschütterlich, zumindest in seinen Worten.
In den vergangenen Wochen wurden die Leitmedien weltweit von Publikationen überflutet, die Auswege aus der entstandenen Sackgasse vorschlugen. Trotz ihrer großen Anzahl und scheinbarer Vielfalt sind alle geäußerten Vorschläge im Grunde sehr ähnlich. Sie sehen ein Einfrieren des Konflikts auf die eine oder andere Weise und einen aktiven Wiederaufbau der Ukraine vor – üblicherweise gemeinsam mit einer Aufnahme des Landes in die EU und die NATO. Hinsichtlich der nachfolgenden Zeit implizieren einige Autoren, während andere es direkt sagen, dass in einigen Jahren das erstarkte Kiew einen neuen Versuch unternehmen werde, Russland militärisch zu besiegen.
Die Utopie dieser Projekte liegt nicht einmal in der Frage, ob Moskau ihnen zustimmen würde, wichtiger ist etwas anderes: Sie alle sehen vor, dass der Westen sich die Versorgung Kiews auf Jahre hinaus aufbürden müssen wird. Die Rede ist hierbei von Summen, die kaum weniger sind, als diejenigen Hunderte Milliarden US-Dollar, die der Ukraine seit dem 24. Februar 2022 bereitgestellt wurden. Und auch wenn formell der Großteil der westlichen Länder ihre Position "Wir stehen mit der Ukraine gemeinsam bis zum Schluss" beibehält, bröckelt ihr Zusammenhalt in der Realität gewaltig, besonders im Hinblick auf die Perspektive, jahrelang für Kiew zahlen zu müssen.
Innerpolitische Streitereien in den USA, wegen derer die finanzielle Unterstützung der Ukraine nicht in den provisorischen Landeshaushalt aufgenommen wurde, verstärken diese Irrungen und Wirrungen nur. Kurz gesagt, wird Austin diese Woche bei dem nächsten Treffen der Geberländer Kiews eine schwierige Aufgabe haben. Und das von ihm am Montag angekündigte Hilfspaket im Wert von 100 Millionen US-Dollar hilft der Sache nicht – bedenkt man, dass eigentlich Dutzende Milliarden benötigt werden. So macht die tatsächlich genannte Summe deutlich, dass die USA offensichtlich das Letzte zusammenkratzen.
In dieser nicht besonders optimistischen Lage sollte ein weiterer Problemfaktor nicht unterschätzt werden, nämlich Kiew selbst. Die ukrainischen Eliten sind sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass sich ihr kurzes "goldenes Zeitalter" dem Ende nähert und Chancen auf dessen Rückkehr gegen null tendieren. Sie wissen, dass der Krieg gegen Russland verloren ist, dass die Welt der Ukraine überdrüssig ist und bald das Interesse an ihr verlieren wird, dass der Geldstrom versiegt, der in den letzten anderthalb Jahren geflossen ist, was bedeutet, dass die Zeit für neue Abenteuer und Machenschaften gekommen ist.
Es steht außer Zweifel, dass sich hinter den zahlreichen Gerüchten über die plötzlich zugenommenen Intrigen in Kiew ein Körnchen Wahrheit verbirgt. Die ukrainischen Eliten waren nie willenlose Marionetten in den Händen ihrer geopolitischen Herren, egal, wer diese Herren sein mochten. Kiew spielt stets ein eigenes Spiel (mochte es noch so kurzsichtig sein), handelt oft gegen die "höhere Instanz" und schadet ihr.
Der Westen hatte schon oft die Gelegenheit, sich am eigenen Leib davon zu überzeugen. Selenskijs jüngste Ankündigung der Aussetzung von Wahlen kann als typisches Beispiel dafür angesehen werden. In der jetzigen Lage hat das Kiewer Establishment in seiner ganzen Vielfalt zweifellos bereits zahlreiche Intrigen und Ränkespiele eingeleitet. Man kann nur raten, zu welchen erstaunlichen Ergebnissen diese führen können. Damit entsteht für Washington ein Problem.
Es war noch in den alten unipolaren Zeiten, als kleine Intrigen bei ihren Vasallen für die USA keine Rolle spielten. Entstehende Probleme wurden schnell und effektiv gelöst, und für das US-Publikum spielte es überhaupt keine Rolle, was am anderen Ende der Welt passiert. Nun ist alles anders. Gerade jetzt befinden sich die Zustimmungswerte des amtierenden Präsidenten im freien Fall wegen des israelischen Militäreinsatzes, den das Weiße Haus unterstützen muss. Benjamin Netanjahu zu zwingen, die Brutalität des israelischen Militärs zu zügeln, gelingt indessen nicht, denn Israels Ministerpräsident kämpft um das eigene politische Überleben und ignoriert Washingtons Wünsche.
In einer Lage, in der sich die USA auf den Nahen Osten konzentrieren, nehmen die Chancen zu, dass die Ereignisse in Kiew sich gar nicht so entwickeln, wie es sich Washington wünscht. Dies würde zu einem weiteren Nagel im Sarg der Wahlkampagne der Demokraten werden. Gerade deswegen sind die USA gezwungen, zum Höhepunkt der Krise in einer anderen Region, statt zweitklassiger Gesandter Oberhäupter des Pentagons und der CIA nach Kiew zu schicken – in der Hoffnung, die ukrainische Eliten im Zaum und die Lage in der Ukraine unter Kontrolle zu halten.
Und so stirbt die Hegemonie einer einzigen Supermacht: Sie zerfällt nicht mit lautem Knall, sondern löst sich auf und sickert durch die Finger wie Sand.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei RIA Nowosti.
Irina Alksnis ist eine Kolumnistin von RIA Nowosti.
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