Von Dmitri Trenin
Die aktuellen Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen sind zwar sehr unterschiedlich in ihrer Natur und in ihren Ursachen, aber dennoch sind sie definitiv miteinander verbunden als zwei deutliche Indikatoren dafür, wie sich gegenwärtig ein Wandel in der neuen Weltordnung entwickelt und beschleunigt. Bedauerlicherweise, aber nicht überraschend, ist es unwahrscheinlich, dass sich jene zunächst relativ friedliche Wende wiederholen wird, die nach dem Ende des Kalten Krieges stattfand. Das nun absehbare Ende des US-amerikanischen Jahrhunderts ist jetzt bereits von Feindseligkeiten und Spannungen zwischen Großmächten geprägt, die wahrscheinlich noch zunehmen werden.
Die Konflikte in Osteuropa und im Nahen Osten haben dieselbe Ursache. Im Wesentlichen ist es allen selbsternannten Siegern des Kalten Krieges – vor allem den Vereinigten Staaten von Amerika – auf einzigartige Weise nicht gelungen, ein dauerhaftes und friedliches globales Gleichgewicht zu schaffen, das die bipolare Situation des Kalten Krieges hätte ersetzen können. Darüber hinaus haben die offenbar angeborene Arroganz der US-Eliten und somit deren völlige Missachtung der Interessen anderer Staaten sowie deren grenzenlose Selbstgerechtigkeit nach und nach ihre eigene, einst unangefochtene Machtposition untergraben und viel von jenem Respekt und Wohlwollen zerstört, die viele Länder ihnen ursprünglich entgegenbrachten.
In der Ukraine wurde die geopolitisch und geoökonomisch sinnvolle Idee eines militärisch neutralen Landes, das jegliche Vorteile beim Handel, bei Investitionen und in der Logistik dank seiner geografischen Lage zwischen Russland und der Europäischen Union genoss, in Washington als ein angebliches "Vetorecht des Kremls über den Sicherheitsstatus seines Nachbarn" abgetan. Stattdessen wurde bewusst die uneingeschränkte Expansion der NATO als nahezu heiliger Grundsatz vorangetrieben. Dies führte zu einem Ergebnis, das viele vorhergesehen hatten: Moskaus Gegenreaktion mit einem militärischen Eingreifen.
Anstatt die Umsetzung der Kompromisse in den Minsker Vereinbarungen anzustreben, nutzten der Westen und seine ukrainischen Schützlinge die Diplomatie als Hintertür, um Zeit für eine umfangreiche Bewaffnung und Ausbildung der ukrainischen Armee zu gewinnen. Russlands Sicherheitsanforderungen wurden immer wieder weitgehend ignoriert, und die humanitären Mahnungen über die jahrelange Situation im Donbass wurden lächerlich gemacht. Selbst die Warnung aus Moskau in Form einer militärischen Machtdemonstration entlang der Grenze zur Ukraine beeindruckte in Washington, D.C. offenbar niemanden. Die USA hatten wahrscheinlich damit gerechnet, dass Russland mit einem militärischen Einmarsch in die Ukraine letztlich in eine Falle tappen würde und sich dadurch eine Chance für den erhofften und herbeigesehnten Regimewechsel im Kreml eröffnen würde.
Es kam jedoch anders. Russland ist eben nicht unter der Last höllischer westlicher Sanktionen zusammengebrochen, und auch sein Militär hat sich nach anfänglichen Rückschlägen wieder neu positioniert. Die militärische und finanzielle Unterstützung des Westens für Kiew, die seit Menschengedenken weder in ihrem Ausmaß noch in ihrem Umfang kein Beispiel kennt, konnte die Ukraine als die viel gepriesene Speerspitze des Westens gegen Russland nicht zum Sieg über den mächtigen Nachbarn führen. Ganz im Gegenteil: über der Ukraine und ihren Herren in Washington, D.C. schwebt nun das Gespenst der Katastrophe. Mit Blick auf die Zukunft sind die Ressourcen Russlands denen der Ukraine bei Weitem überlegen, und der politische Wille der russischen Führung ebenso wie die Unterstützung der Bevölkerung Russlands scheinen viel stärker zu sein als das, was die derzeitige US-Regierung dagegen aufbringen kann.
In Bezug auf Palästina nahmen die USA die angebliche Konfliktlösung selbst in die Hand und drängten die anderen drei Mitglieder des nicht mehr existierenden Nahost-Quartetts ins Abseits, nämlich Russland, die Europäische Union und die Vereinten Nationen. Damit wurde die Zwei-Staaten-Lösung des jahrzehntealten israelisch-arabischen Konflikts de facto auf Eis gelegt. Stattdessen konzentrierte man sich in Washington auf wirtschaftliche Almosen an die palästinensischen Araber, von denen erwartet wurde, dass sie im Gegenzug schweigen würden und ihren Anspruch auf Eigenstaatlichkeit endlich vergessen. In jüngerer Zeit bemühten sich die USA auch darum, möglichst viele arabische Staaten zu einem diplomatischen und kommerziellen Dialog mit Israel zu bewegen. Der offensichtliche Zweck dieses Unterfangens bestand darin, die palästinensische Frage, die lange Zeit im Mittelpunkt des regionalen Konflikts stand, praktisch irrelevant zu machen und schließlich in Vergessenheit geraten zu lassen.
Anstatt also die Palästinensische Autonomiebehörde zu stärken und ihr dabei zu helfen, eine echte Regierung in einem souveränen Staat Palästina zu werden, versuchten die USA gemeinsam mit Israel, von einer Spaltung der Palästinensern untereinander zu profitieren. Für sie war die Herrschaft der Hamas in Gaza, im Gegensatz zur Autonomiebehörde in Ramallah, somit faktisch eine Art Garantie dafür, dass die Zwei-Staaten-Lösung unrealisierbar blieb. Eine gewisse Zeit lang sah es so aus, als würde das Unterfangen funktionieren. Selbst Ende September noch erklärte Jake Sullivan als Nationaler Sicherheitsberater der USA, dass es im Nahen Osten ruhiger sei als seit zwei Jahrzehnten. Innerhalb der nächsten Woche führte jedoch die Hamas einen groß angelegten Angriff gegen Israel durch, was zu einer noch massiveren und rücksichtslosen Reaktion vonseiten Israels führte.
Bisher konzentrierte sich der Konflikt hauptsächlich auf Israel und den Gazastreifen, während das Westjordanland und die Gebiete entlang der libanesischen Grenze noch weniger Gewalt erlebten. Es besteht jedoch erkennbar das gefährliche Potenzial, dass sich der Konflikt über die unmittelbare Nachbarschaft hinaus ausdehnt und auch Iran in den Konflikt einbezieht – also ein weiteres Land, mit dem sich die USA in den vergangenen mehr als vier Jahrzehnten nicht arrangieren konnten oder wollten. Die US-Regierung unter Biden brennt derzeit wohl nicht darauf, Iran anzugreifen. Allerdings war es eine reflexartige Reaktion auf den Konflikt zwischen Israel und der Hamas, zwei Flugzeugträgerkampfgruppen sowie ein atomar bewaffnetes U-Boot der Ohio-Klasse in die Region zu entsenden. Dies war zweifellos auch als klare Drohung in Richtung Teheran gedacht. Verschiedene proiranische Elemente im Irak und im Jemen haben ihrerseits bereits sowohl Stützpunkte der USA in der Region als auch Israel direkt angegriffen.
Die beiden akuten Kriege haben nicht nur die heutigen Grenzen der Macht und des Einflusses der USA in den Schlüsselregionen der Welt deutlich gemacht, sondern auch das eklatante Defizit an staatsmännischen Fähigkeiten. Sie haben auch die Heuchelei der US-amerikanischen und westeuropäischen Außenpolitik und die Propaganda in deren Mainstream-Medien offengelegt. Die äußerst unterschiedliche Behandlung Russlands und der Hamas einerseits sowie Israels und der Ukraine andererseits in deren jeweiligem Vorgehen in den zeitgleich laufenden Konflikten ist niemandem entgangen, der die Nachrichten verfolgt hat. Daher bröckelt auch die moralische Autorität des von den USA angeführten Westens zunehmend, wodurch seine Vorherrschaft weiter schwindet.
Neben den Kriegen in Europa und im Nahen Osten wird in Ostasien ein dritter Spannungsherd angeheizt. Seit Jahrzehnten jonglieren die USA mit der zwar formellen Akzeptanz des Ein-China-Prinzips und ihrer zeitgleich faktischen Unterstützung einer Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit von Taiwan. Letzteres umfasste nicht nur die politische Unterstützung, sondern zunehmend auch die Lieferungen von Waffen und die Durchführung militärischer Manöver rund um die Insel. Angesichts der Entschlossenheit der Volksrepublik China, Taiwan irgendwann wieder mit dem Festland zu vereinen, und der Tendenzen innerhalb von Taiwan zu einer formellen Unabhängigkeit, scheint dieser Akt des geopolitischen Jonglierens aufseiten der USA langfristig oder sogar mittelfristig unhaltbar zu sein. Sollte dort ein dritter Krieg ausbrechen – und die Wahrscheinlichkeit dafür ist momentan nicht gering –, so könnte dies zu einem direkten militärischen Zusammenstoß zwischen den USA und China führen.
Noch vor dreißig Jahren, am Ende des Kalten Krieges, hatten die USA als Weltmacht die Gelegenheit, mit dem Aufbau einer multipolaren Welt zu beginnen, in der sie sich die ausgleichende Rolle eines Moderators hätten sichern können. Es gab sogar einen historischen Präzedenzfall für einen solchen Kurs. Der Entwurf des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt für die Vereinten Nationen einer internationalen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg ging genau in diese Richtung. Und im Jahre 1991 war die Situation dafür besonders günstig – wesentlich günstiger noch als im Jahr 1945. In Russland, wo gerade erst der Kommunismus abgeschüttelt worden war, träumten viele von der Integration in westliche Institutionen und Organisationen. Die Volksrepublik China war damit beschäftigt, dem Kapitalismus in Form globaler Marktwirtschaft die Tore zu öffnen und sich dabei vor allem auf sich selbst zu konzentrieren. Die Abkommen von Oslo boten einen Hoffnungsschimmer, dass der Nahe Osten auf einer Plattform des Friedens reformiert werden könnte.
Leider entschieden sich die politisch Herrschenden in den USA stattdessen dafür, ihren vermeintlichen "Sieg" im Kalten Krieg zu feiern und sich dann ihrem Traum von ihrer Unentbehrlichkeit und Exklusivität der Unipolarität hinzugeben. Unsere heutigen Kriege sind der Preis, den die Menschen in verschiedenen Teilen der Welt dafür zahlen müssen, dass man in Washington, D.C. einer Chance und Pflicht als Architekt einer neuen Weltordnung nicht nachgekommen ist. Noch nie zuvor in der Weltgeschichte hing so viel von einer einzigen Großmacht ab. Aber diese Macht ließ sich selbst und uns alle im Stich.
Übersetzt aus dem Englischen
Dmitri Trenin ist Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Senior im Kollegium für Forschung am Institut für globale Ökonomie und internationale Beziehungen. Er ist zudem Mitglied des russischen Rates für internationale Beziehungen.
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