Von Tom J. Wellbrock
Kürzlich traf ich einen Nachbarn, mit dem ich hin und wieder plaudere. Er ist sympathisch, intelligent (soweit ich das beurteilen kann) und sagt nur selten Unüberlegtes. Zumindest war das bislang mein Eindruck. Wir führen nie tiefgreifende Gespräche, das ist wohl auch nicht notwendig, wenn man in einer Nachbarschaft lebt.
Wie der Teufel es will, landeten wir über ein paar Umwege beim Thema Russland und Ukraine. Mein Nachbar zeigte ein Maß an Uninformiertheit, die ich so nicht erwartet hätte. Er begann sein kurzes Statement mit dem Satz:
"Na ja, also, einfach so ohne Grund ein anderes Land zu überfallen, da werden wir uns nicht einigen können, Tom."
Ich hätte nun das Folgende tun können: Mit einem Minimum von 30 Minuten hätte ich ihm einen Vortrag über den aktuellen Ukraine-Krieg halten können, über die historischen Zusammenhänge, die Rolle des Westens, der diesen Krieg nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern aktiv über Jahrzehnte vorbereitet hat. Über die Korruption in der Ukraine hätte ich referieren können, über die faschistischen Seiten des Landes, über die Beschneidungen der Meinungs- und Pressefreiheit. Nach meiner langen Beschäftigung mit dem Thema hätte ich meinen Nachbarn in Grund und Boden reden können, sodass er (theoretisch) am Ende nur noch staunend vor mir gestanden hätte.
Ich tat nichts dergleichen.
Fehlende Informationen sind nicht zwingend ein Zeichen von Dummheit
In einem längeren Gespräch mit Oskar Lafontaine sprach ich das Problem der Medienkompetenz an. Ich argumentierte, dass ich von Mediennutzern gewisse Anstrengungen erwarte, um sich zumindest mit grundlegenden Informationen zu wichtigen Themen auszustatten. Lafontaine entgegnete, dass man nicht von jedem erwarten kann, sich in der Art und Weise mit Politik zu beschäftigen, wie er als Politiker und ich als Journalist das täten. Die Menschen, so Lafontaine sinngemäß, müssen sich um ihr Leben, ihr Überleben kümmern, sie seien oft beruflich, finanziell und psychisch belastet.
In gewisser Hinsicht überzeugten mich seine Worte, aber nicht bis in die Fußspitzen. Tatsächlich aber bin ich nicht der Meinung, dass es ein Zeichen von Dummheit ist, wenn man sich nicht umfassend informiert. Das wäre auch gar nicht möglich, denn zum einen leben wir in einer Zeit der Informationsflut – täglich, stündlich, jede Minute können uns neue Themen begegnen, die vermeintlich oder tatsächlich so wichtig sind, dass wir uns damit auseinandersetzen sollten.
Zum anderen sind viele Themenbereiche hochkomplex und nicht einfach zu durchschauen. Wer am 20. des Monats beim Öffnen des Kühlschranks Schweißperlen auf der Stirn bekommt, hat andere Sorgen, als sich mit den geopolitischen Grausamkeiten etwa der USA zu befassen. Ihn interessieren in diesem Moment sicher auch nicht der Urknall und die Frage, ob es irgendwo fremdes Leben in einer fernen Galaxie gibt.
Ein unprovozierter Angriff
In einem früheren Beitrag hatte ich geschildert, wie mich mein langjähriger Hausarzt aus seiner Praxis geworfen hat. Hintergrund war ein Hitler-Putin-Vergleich, den er gebracht hatte und den ich so nicht stehen lassen konnte und wollte. Er explodierte daraufhin regelrecht, faselte etwas von einem unprovozierten Angriff Russlands auf die Ukraine, erklärte mir die Meinungsfreiheit in Deutschland und ließ zwischendurch ein leises, aber vernehmbares "Verpiss dich!" fallen.
Alles in allem tat er das, was auch mein Nachbar getan hatte: Er betete herunter, was er in der Tagesschau, im Spiegel oder der Süddeutschen Zeitung gelesen und gehört hatte. Die Vokabeln waren mir alle bekannt, ich hätte also sowohl mit meinem Hausarzt als auch mit meinem Nachbarn gemeinsam einen Spiegel-Artikel lesen oder einen Tagesschau-Beitrag ansehen können.
Im Nachgang schrieb ich meinem Hausarzt einen Brief, der versöhnlich gemeint war. Ich legte noch das Buch eines US-amerikanischen Autors dazu, in dem nicht bis in die Tiefe, aber doch nachvollziehbar die Entwicklungen geschildert wurden, die zum Ukraine-Krieg geführt hatten. Mein Vorschlag war, dass wir uns doch vielleicht darauf einigen können, ebendies nicht zu können, uns aber trotzdem wieder in die Augen sehen zu können.
Bis zum heutigen Tage habe ich keinerlei Reaktion erhalten. Vor einigen Tagen war ich wegen eines Rezeptes noch einmal in der Praxis. Im Stillen hoffte ich, dass mein Hausarzt mich ansprechen, vielleicht ein kleines Zeichen der Versöhnung aussenden würde. Doch er tat es nicht. Während ich im Wartezimmer saß, kam er an den Empfangstresen, unterschrieb die Rezepte, blickte kurz zu mir rüber und verschwand ohne ein Wort oder auch nur eine Geste.
Die Dummheit beginnt bei dem Glauben, informiert zu sein
Auf den ersten Blick und nach dem bisher Geschriebenen kann man weder meinem Nachbarn noch meinem Hausarzt Dummheit unterstellen. Doch so einfach entlasse ich die beiden nicht aus ihrer Verantwortung.
Es ist vernünftig, sich keine klare Meinung zu bilden, wenn man in einem Thema nicht zu Hause ist. Ich würde es sogar als klug bezeichnen wollen, sich nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen, wenn man zu wenig weiß. Doch wir haben es mit einem anderen Problem zu tun.
Der aktuelle Ukraine-Krieg begann am 24. Februar 2022. Mittlerweile gehen wir auf den Jahreswechsel 2023/24 zu. Das ist eine lange Zeit. Ich will das Problem anhand der Corona-Episode erläutern:
Als das, was später als weltweite Pandemie verkündet wurde, damals begann, war ich verunsichert. Wir alle waren das vermutlich. Im Zuge dessen hatte ich durchaus Verständnis für die politischen Verantwortungsträger, die lieber ein bisschen zu vorsichtig agierten als zu sorglos. Was wäre wohl los gewesen, wenn zu Beginn von Corona die Politik beschwichtigt hätte, und dann wären haufenweise Leute gestorben?
(Zwischenbemerkung: Tatsächlich agierte die Politik die ersten Tage genauso sorglos wie eben angedeutet. Kurze Zeit später wurde die Erzählung aber verändert, und das Drama begann seinen Lauf zu nehmen.)
Die Verunsicherung blieb nicht, konnte nicht bleiben, durfte nicht bleiben. Mit jedem Tag wuchsen die Erkenntnisse im Umgang mit dem Virus. Von politischer Dummheit kann hier keine Rede sein, denn jene Erkenntnisse wurden politisch bewusst ignoriert, um eine im Kern totalitäre Politik durchzusetzen. Ich bezeichne das heute als bösartig, demokratiefeindlich und menschenverachtend. Doch das ist nicht das Thema dieses Artikels.
Mir geht es – und damit kommen wir auf die Komplexe Corona und Ukraine sowie deren Gemeinsamkeiten zurück – um die, die sich bis heute weigern, sich Informationen zu beschaffen, aber laut und wütend argumentieren. Jeder hat die Möglichkeit, man muss sich nur alternativen Medien zuwenden, um sich zumindest den Blick aus weiteren Perspektiven zu ermöglichen. Nun verspricht die Lektüre alternativer Medien keine hundertprozentige Informationssicherheit, auch hier ist Medienkompetenz gefragt: Man muss sich ins jeweilige Thema hineinarbeiten und immer wieder entscheiden, ob man sich der gelieferten Meinung oder Einschätzung anschließen will. Das ist Arbeit, die weitere Arbeit nach sich zieht, es ist also kein medialer Kindergeburtstag.
Niemand kann und sollte gezwungen werden, diesen Arbeitsaufwand zu betreiben. Denn es ist ja richtig, was Lafontaine sagte, nicht jeder ist – aus welchen Gründen auch immer – in der Lage oder der Verfassung, sich umfassend zu informieren. Doch wie auch immer man sich verhält, es hat Folgen.
Die Dummheit beginnt an dem Punkt, an dem man sich schlicht weigert, die eigene Uninformiertheit anzuerkennen. Es ist dumm, sich zu einem komplexen Thema zu äußern und dabei anzunehmen, man verfüge über das nötige Wissen und habe sich die notwendigen Informationen beschafft, wenn das offenkundig nicht der Fall ist. Hier bleibt nur die Annahme von Dummheit.
Wenn mein Hausarzt oder mein Nachbar nach mittlerweile Jahren der Desinformation noch immer die Lügen glauben, die zu großen Teilen sogar längst ans Licht gekommen sind (wenn man genau hinschaut, sogar im Mainstream) oder zumindest nach einer Überprüfung schreien, kann man ihnen die Verantwortung für dieses Verhalten nicht mehr abnehmen. Es handelt sich um eine träge und bequeme Verweigerung des Denkens, des Nachdenkens, des Überprüfens von Fakten oder vermeintlicher Fakten, während zugleich die Erkenntnis der eigenen Verweigerung verweigert wird.
Man kann intellektuell noch so gut aufgestellt sein, wenn man sich freiwillig und gewollt in eine Lage der Uninformiertheit begibt und die Überzeugung vertritt, umfangreich informiert zu sein, ist das ein Zeichen von emotionaler und letztlich auch gedanklicher Dummheit.
Medienkompetenz!
Ich bleibe dabei: Jemand, der uninformiert ist, ist ganz sicher nicht per se dumm, im Gegenteil, es kann sich um einen sehr klugen Menschen handeln, der – aus welchen Gründen auch immer – die für ein Thema notwendigen Informationen nicht hat. Es zeugt von zusätzlicher Klugheit, wenn dieser Mensch sein konkretes Informationsdefizit erkennt und seine Handlungen daraus ableitet, sprich, wenn er sich allenfalls sehr zurückhaltend und defensiv zum betreffenden Thema äußert.
Die dummen Menschen sind mein Hausarzt und der Nachbar. Es gibt von ihnen Millionen und sie alle verbindet die Dummheit, sich klug und informiert zu fühlen. Man kann von einem Paradoxon sprechen: Während die Dummen für sich intellektuelle und politische Weitsicht und Kompetenz in Anspruch nehmen, macht sie genau das zu noch dümmeren Menschen, je lauter sie nachbeten, was ihnen vorgekaut wurde.
Die uninformierten Menschen sind nicht das Problem, die in ihrer eigenen Wahrnehmung Informierten werden zur Gefahr, wenn sie willfährig eine Politik unterstützen, die kriegerisch, totalitär und konfrontativ ist. Denn die Grausamkeiten der Corona-Episode und der Bellizismus von heute sind ohne diese Dummköpfe nicht möglich.
Wer nicht bereit ist, sich eine gewisse Medienkompetenz zu erarbeiten, aber dennoch die Überzeugung vertritt, komplexe Themengebiete korrekt einordnen zu können, ermöglicht nicht nur eine destruktive, extremistische und kriegerische Politik. Er muss sich zum Kreis der Täter zählen lassen.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.
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