Von Wladislaw Sankin
Was tun, wenn man nicht imstande ist, ein Problem zu lösen? Man erklärt das Problem einfach für nicht existent! So macht man es auch mit einem Volk, einer Ethnie oder einer Sprachgemeinschaft, wenn deren Existenz ein "Problem" ist. Man sagt, dass es diese nicht gebe, und schon ist die Frage vom Tisch.
Wie eine Fee mit einem Zauberstab (wobei die Bezeichnung als Hexe hier eher passen würde) hat die ukrainische stellvertretende Ministerpräsidentin Olga Stefanischina in einem Sessel entspannt sitzend die Russen in der Ukraine per Sprechakt für nicht existent erklärt. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der EU-Botschafterin in der Ukraine, Katarína Mathernová, sagte Stefanischina am Donnerstag buchstäblich Folgendes:
"Es gibt keine russische Minderheit in der Ukraine. Sie existiert nicht! Es gibt keine rechtlich formalisierte Gemeinschaft, die sich als russische Minderheit bezeichnen würde. Es gibt Ukrainer, von denen einige Russisch sprechen. Ich bin Odessianerin, und wenn ich es will, spreche ich Russisch, und wenn nicht, spreche ich kein Russisch, und dafür brauche ich weder Moskali noch die Venedig-Kommission."
Sie fügte hinzu, dass die Europäische Kommission diese Sichtweise teile, was am Tag zuvor ein EU-Beamter bestätigt hatte. Ihm zufolge seien die Rechte der Russen und der Gebrauch der russischen Sprache nicht das, worauf die Europäische Kommission in ihren Verhandlungen zum EU-Beitritt der Ukraine achten werde ‒ RT DE berichtete.
Wichtiges Detail: In ihrem Redebeitrag hat die ukrainische Vize-Ministerpräsidentin für europäische und euro-atlantische Integration vermieden, auch die Russen in Russland als Russen zu bezeichnen. Stattdessen sagte sie "Moskali" (москали), also "Moskowiter" oder besser "die Iwans", jene abschätzige Bezeichnung für Russen in der Ukraine. Das von Russen für Ukrainer verwendete despektierliche Pendant lautet "Chochol" (хохол) und wird von Google, Meta und Co. sofort als Hass-Rede markiert.
Stefanischina trat als offizielle Amtsträgerin im Namen des Staates auf. Als sie über "Moskali" redete, blitzte es in ihren Augen, die Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. Ihr Fuß ruhte auf dem Bein, die Hand dirigierte sanft mit ‒ die 38-jährige Juristin war sichtlich vergnügt und redete von oben herab. Durch ihre Körpersprache trat die Trotzigkeit dieses Menschen hervor, der den Verrat an seinen russischen Wurzeln mit Hohn und Arroganz vertuschen musste.
Also Russen gibt es ihr zufolge im Grunde nicht, es gibt ein minderwertiges Gesindel unter dem Namen "Moskali", das war die Botschaft. Klar, dass die Sprache der Moskali, auch wenn sie rein zufällig eine allseits anerkannte Weltsprache und ein Instrument zur Völkerverständigung ist, nicht beachtet werden darf, zumal es deren Träger, die "Russen", in der Ukraine gar nicht gibt...
Es ist vergebliche Mühe, die Logik in dieser Begründung zu suchen, denn sie entstammt der Wut des ukrainischen Sprachrassismus. Gab es eine Logik in der Begründung zu den Rassengesetzen im Dritten Reich? In den Rassentheorien, die Ungleichheit begründen, gibt es keine Logik, es gibt nur Täuschung, Lüge und grenzenlosen Zynismus. Trotzdem gab es Juristen, jede Menge Juristen, die beispielsweise rechtliche Grundlagen für die Arisierung Deutschlands zur Nazi-Zeit lieferten.
Ebenso hier. Ja, die Russen in der Ukraine sind wohl in der Tat keine Minderheit, denn muttersprachlich gesehen sind sie eine Mehrheit, wie das US-Umfrageinstitut Gallup im Jahr 2008 feststellen konnte. Von den russischen Ukrainern kam deshalb niemand auf die Idee, sich im rechtlichen Sinne als nationale Minderheit zu organisieren, so wie es zum Beispiel in Lettland der Fall ist. Warum? Weil es zwischen Russen und Ukrainern ethnisch, historisch und kulturell, wenn überhaupt, nur eine ganz schmale Grenze gab und gibt. Beide Landesteile des ehemals geeinten Landes wurden zudem stets von Migrationsströmen durchquert, die sich aus Millionen von Übersiedlern speisten. Alles in Russland und der Ukraine ist miteinander verflochten.
Sollte es dennoch Unterschiede gegeben haben, variierten sie von Region zu Region sehr stark. Überdies war diese Grenze oft nur Ausdruck der politischen Konjunktur. Die erbitterten Kämpfe zwischen Russophilen und Proukrainern im sogenannten Königreich "Galizien und Lodomerien" in Österreich-Ungarn oder die Geschichte der Ukraine in den Jahren des Russischen Bürgerkrieges sind Beispiele dafür. Eine deutsche Forscherin schrieb dazu:
"Die galizischen Russophilen schufen durch ihre Wahlkampf- und Volksbildungsarbeit wesentliche Voraussetzungen für die Mobilisierung der ukrainischen Gesellschaft in Ostgalizien und somit auch für die ukrainische Nationsbildung –ungeachtet der Tatsache, dass ihnen eigentlich ein Volk von 'Kleinrussen' vorschwebte."
Außerdem, und das darf nicht vergessen werden, war es ausgerechnet die zentrale Sowjetregierung in Moskau, die eine Turbo-Ukrainisierung in der Ukrainischen SSR in den 1920er Jahren beschloss, um aus Russen im Eiltempo Ukrainer zu machen – aus Angst vor dem vermeintlichen "großrussischen Chauvinismus". Und wenn wir ganz tief in der Geschichte graben, bedeutet das Wort "Ukraine" nichts anderes als "Gebiet am Rand", ein Grenzland, und die Ukrainer selbst haben sich über Jahrhunderte als Zweig des russischen Volkes betrachtet, teilweise sogar als wahres, "urrussisches" Volk.
Als vom Westen unterstützte Ultranationalisten und Verfechter der aggressiven Ukrainisierung infolge zweier Staatsstreiche bei der sogenannten Orangen Revolution (Dezember 2004) und dem Euromaidan (Februar 2014) an die Macht kamen, was es für die Russen aber schon zu spät, sich als nationale Minderheit im üblichen Sinne zu organisieren. Die Mühlen der Assimilierung drehten sich seitdem in der Ukraine viel schneller. Die Parolen des Maidans sprachen eine klare Sprache: "Wer nicht hüpft, der ist ein Moskal", war dabei wohl die Harmloseste. Sich in der Ukraine als Russe zu artikulieren, wurde lebensgefährlich – es folgte der grausame Pogrom von Odessa, prominente Verfechter der russisch-ukrainischen Einheit wurden reihenweise ermordet, Tausende flüchteten.
Und es gab den Donbass-Krieg, der in acht Jahren von 2014 bis 2022 mehr als 3.300 zivile Opfer forderte, fast alle auf der Seite der "Separatisten". Diese wollten einfach, dass die russische Sprache respektiert wird, und sie waren bereit, für dieses Ziel zu kämpfen und zu sterben. Es war ein Krieg wegen der Sprache, womöglich der einzige dieser Art in der Menschheitsgeschichte.
In Deutschland wird gemäß Selbstbestimmungsgesetz bald ein einfacher Sprechakt beim Standesamt genügen, um das Geschlecht zu ändern. Das Gesetz wird wegen einer winzigen Anzahl von Menschen verabschiedet, wird aber spürbare Folgen für die ganze Gesellschaft haben. Eine extrem schwer erfassbare Minderheit, deren nichtbinäre Geschlechtsidentität sich laut Wikipedia nicht wissenschaftlich erklären lässt und lediglich als soziales Konstrukt zu verstehen ist.
Hat diese Minderheit aber eine offizielle Vertretung, um ihre Rechte beim Bundestag "juristisch korrekt" geltend zu machen? So, dass sie die strengen Anforderungen für den Minderheitenschutz erfüllen würde, wie dies bei der angeblich nicht existierenden russischen Community in der Ukraine der Fall ist? Nein, aber sie hat eine extrem einflussreiche Lobby in Medien und Parteibürokratien. "Da ist die Menschenwürde, die zu schützen ist", begründet die Familienministerin Lisa Paus das Vorhaben bei einem Streit mit der AfD.
Aber gibt es die Menschenwürde für die Russen in der Ukraine dann nicht? Dürfen sie selbst nicht bestimmen, wer sie sein wollen und welche Sprache sie ihren Kindern beibringen möchten? Minderheitenschutz hin oder her, wenn Europa es will, spielt sprachliche oder nationale Identität keine Rolle. So wurden Millionen Menschen um ihr Recht auf das wichtigste humanitäre Bedürfnis gebracht – das Recht auf Muttersprache und entsprechende Kulturpflege – per Sprechakt einer Ministerin. Olga Stefanischina und die ihr zustimmende Katarína Mathernová von der EU wissen es besser, welche Sprache die Ukrainer sprechen dürfen und welche nicht.
Als die Ukraine ein Gesetz über "indigene Völker" im Jahr 2021 verabschiedete, wonach die Russen als nicht "einheimisch" eingestuft wurden, beschuldigte der russische Präsident Wladimir Putin das Nachbarland des Nazismus. Jetzt erklärt die Ukraine – und die EU nickt es ab – die russische Minderheit für "nicht existent" und weigert sich, die Russen als Russen zu bezeichnen. Mit diesem Akt der unfassbaren Heuchelei erklärt der Westen von sich aus gegenüber Russland und der ganzen Welt, dass russische Menschen im sogenannten Ukraine-Krieg um nicht weniger als ihre primären Existenzrechte kämpfen – einfach sie selbst zu sein und als solche wahrgenommen zu werden. Nun bekommt ihr Kampf einen zusätzlichen Sinn: Mit DIESER Ukraine ist kein Kompromiss möglich. Entweder wir oder die.
Im April habe ich mit einem bekannten Journalisten aus Kiew gesprochen, der im vorigen Jahr mit seiner Familie nach Russland geflohen war. Jetzt lebt er, wie viele andere Exil-Ukrainer, in Moskau. Bevor dieser Sender von Selenskij im Februar 2021 verboten wurde, hatte er beim Fernsehkanal 112 eine Talkshow moderiert. Seine Position im Ukraine-Konflikt war stets ausgewogen. Ich fragte ihn, wer seiner Meinung nach in diesem Krieg gewinnen wird. Er antwortete: "Diejenige Kriegspartei, die im Recht ist."
Eine solche Entrechtung von Millionen von Menschen, die in der Ukraine mithilfe der EU durchgesetzt wird, hat in der modernen Welt keinen Platz. Die EU ist in ihrem geopolitischen Griff auf die Ukraine und ihrem Hass gegen Russland vollkommen blind geworden. Das ist bedauerlich, und es kann am Ende auch der EU selbst extrem schaden. Denn wer weiß, was und wen die Niederlage in der Ukraine unter ihren Trümmern noch begraben wird.
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