Von Dagmar Henn
Es ist das alte Leid. Jede politische Debatte trieft inzwischen vor Ideologie, und die Fakten, das tatsächliche Leben spielen keine Rolle. Das kann man gerade im Zusammenhang mit dem Thema Migration immer wieder sehen, wo moralisiert wird, bis der Arzt kommt, und mit Eifer so getan wird, als gäbe es keine harten, materiellen Tatsachen, die man zur Kenntnis nehmen muss.
Im SPD-Pressekonzernverteiler RND wurde so ein Text unter der Überschrift "Unzufriedenheit steigert die Sorge vor Migration" abgeliefert. Eine geradezu typische Mischung. Was schon einmal damit anfängt, dass die "Sorge, dass Deutsche und deutsche Behörden durch Geflüchtete überfordert sein könnten und die Angst, dass das Zusammenleben in Deutschland durch einen weiteren Zuzug von Migrantinnen und Migranten beeinträchtigt werden könnte", gleich ins Reich der Fantasie verbannt wurden. Denn es ist zwar das Ergebnis einer Langzeitstudie der R+V-Versicherungen, die immerhin seit 30 Jahren untersucht, welche Sorgen die Deutschen besonders plagen, aber die RND-Autorin Lucie Wittenberg müht sich sogleich, das auf eine subjektive Ebene zu lenken.
"Die Sorge vor Migration hängt aber nicht unmittelbar von der Zahl Geflüchteter oder "'gescheiterter' oder 'erfolgreicher' Integration ab, sondern viel mehr vom Leben der Deutschen selbst. Bedeutet: Je zufriedener sie sind, desto weniger sorgen sie sich vor Geflüchteten. Oder andersherum: Je prekärer die Lebenssituation, desto höher ist die Ablehnung."
Wenn man das ganz nüchtern, also auf die Fakten des alltäglichen Lebens bezogen, betrachtet, kann man durchaus ganz handfeste Gründe dafür sehen. Die Wohnviertel deutscher Städte haben sich in den letzten 20 Jahren beispielsweise deutlich entmischt. Es gibt längst ausgeprägte Armen- und Reichenviertel. Die Regelungen der Sozialgesetze, die nur den billigsten Wohnraum zulassen, haben mit dazu beigetragen. Das Ergebnis: Nicht die Lehrer und besseren Angestellten in den Mittelschichtsvierteln haben tägliche Erfahrung mit Migration und deren Problemen, sondern eben die Armen. Auch in den Kindertagesstätten und Schulen verteilt es sich entsprechend, wobei eine Lucie Wittenberg aller Wahrscheinlichkeit nach eben keine Schule in einem Viertel besucht hat, in dem die meisten Kinder eingeschult werden, ohne Deutsch zu sprechen. Und es ist kaum anzunehmen, dass sie mit Flüchtlingen um ihren Sessel am Redaktionsschreibtisch konkurrieren muss.
Eine prekäre Lebenssituation, ein Leben im Niedriglohnsektor, ein Angewiesensein auf günstige Wohnungen, das erzeugt eine ganz wirkliche, keine eingebildete Konkurrenz, die auch genau so gewollt ist – schließlich wurde schon auf die Zuwanderungswelle 2015 mitnichten mit einem großen Wohnungsbauprogramm reagiert. Lieber werden die Notunterkünfte ausgeweitet.
Natürlich müsste man jeder Überlegung, die sich damit beschäftigt, ob nun subjektive Zufriedenheit einen Einfluss auf das Verhältnis zur Migration hat, vornewegstellen, dass es sich dabei zwangsläufig um Vermutungen handelt, da objektive Experimente in diesem Zusammenhang nicht durchgeführt werden können. Wie würden die Deutschen auf die aktuellen Migrationswellen reagieren, wenn die Lebensverhältnisse so gesichert wären, wie sie es einmal waren, sprich, wenn es jedem möglich wäre, eine Familie zu gründen und Kinder aufzuziehen, ohne Armut fürchten zu müssen?
Die Frage stellt sich Wittenberg ebenso wenig wie der Soziologe Fabian Kratz von der Ludwig-Maximilians-Universität München, auf den sie sich beruft; wobei Kratz zumindest vorsichtig ist und entsprechend formuliert:
"Wer mit seinem Leben eher zufrieden ist, hat weniger Sorge vor Migration. Das lässt sich aber nicht unbedingt auf objektive Faktoren zurückführen."
Eine Formulierung, die man rückübersetzen muss – "nicht unbedingt" bedeutet nämlich schlicht, nicht vollständig, aber durchaus überwiegend. Es gibt also Ausnahmen von der Regel, dass die eigene wirtschaftliche Lage darüber entscheidet, ob man "Zuwanderung" als Problem sieht oder nicht; aber es sind eben Ausnahmen.
"Mithilfe eines innovativen statistischen Ansatzes können wir erstmals zeigen, wie sich Änderungen in der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben auf die Einstellung gegenüber Zuwanderung auswirken."
Sehr überzeugend. Niemand würde ernsthaft bezweifeln wollen, dass beispielsweise ein Zustand frischer Verliebtheit jedes Problem schrumpfen oder der Tod eines engeren Angehörigen es wachsen lässt. Die Frage, ob man morgens beim Verlassen des Wohnhauses über den Schlafsack Wohnungsloser steigen muss oder nicht, hat dennoch einen unbestreitbar starken Einfluss.
Kratz nennt das dann einen "Sündenbock-Mechanismus". Und formuliert, in einem subtilen Zynismus, hohe Bildung würde vor einer Änderung der Einstellung schützen, wenn die Lebenszufriedenheit abnähme.
"Eine hohe Bildung kann offenbar davon abhalten, anderen die Schuld an der eigenen Unzufriedenheit zu geben."
In früheren Jahrzehnten wäre stattdessen betont worden, dass die Migranten ebenfalls nur Opfer wären und die Verantwortlichen unter jenen zu suchen sind, die etwa von den stetig steigenden Mieten oder hoher Konkurrenz im Niedriglohnsektor profitieren (Prostitution und Menschenhandel lassen wir einmal aus). Das tut Kratz nicht einmal mehr; er lobt jene, die derart konform gebildet sind, dass sie die Schuld immer bei sich selbst suchen.
Sein Fazit daraus: "Um Sorgen vor Zuwanderung zu begegnen, könnte es ein Ansatz sein, die subjektive Unzufriedenheit von Bürgerinnen und Bürgern abzufedern."
Das ist niedlich formuliert und reicht nicht einmal mehr bis dahin, wo sich einst sozialdemokratische Politik befand. Denn es geht ihm nicht um eine Beseitigung objektiver Mängel, beispielsweise eine Wiederherstellung des Bildungswesens, durch genug entsprechend ausgebildete und auch attraktiv bezahlte Lehrkräfte, sondern nur um die "subjektive Unzufriedenheit"; die noch dazu nicht beseitigt, sondern nur "abgefedert" werden soll.
Während Kratz nach dem Trostpflaster sucht, dreht Wittenberg das Ganze eine Umdrehung weiter und liest daraus ein politisches Rezept:
"Ob Menschen in diesem Land glücklich sind, hat also einen unmittelbaren Einfluss auf unsere Willkommenskultur und am Ende auch auf Wahlerfolge von rechtspopulistischen Parteien."
Die Willkommenskultur. Dieser widerliche Begriff aus der neoliberalen Sprachwerkstatt, diese Werbefloskel, die denen unten einreden soll, sie hätten die Pflicht, zu frisch geladener Konkurrenz besonders nett zu sein. Nicht, weil sie ihre eigene Lage nur verbessern könnten, indem sie sich mit diesen Konkurrenten verbünden, sondern weil ihnen gegenüber der moralische Anspruch erhoben wird, die Brosamen, die vom Tisch fallen, auch noch bereitwillig zu teilen.
Ein Ansatz, der nicht aufgehen kann. Wer daran zweifelt, kann sich einmal damit beschäftigen, wie lange die Spaltung zwischen irischen und englischen Arbeitern in der englischen Industrie in Manchester und Liverpool anhielt, deren Anfänge Mitte des 19. Jahrhunderts liegen. Trotz einer durchaus kessen politischen Bewegung dauerte es beinahe hundert Jahre, bis der Unterschied nicht mehr wahrnehmbar und nicht länger bedeutend war. Da reichte schon, dass die einen Protestanten, die anderen Katholiken waren.
"Wer im eigenen Land nicht von dem Wohlstand profitieren kann, den andere anhäufen, der schaue damit feindselig auf diejenigen, die angeblich Geld zu Verwandten ins Ausland schicken oder es sich 'auf der sozialen Hängematte' gemütlich machen."
Soweit Wittenberg. Die Sache mit der "sozialen Hängematte" war nun aber nichts, was von vorneherein verbreitet war. Es lässt sich ganz gut belegen, dass im Zusammenhang mit der Einführung von Hartz IV und dem deutschen Niedriglohnsektor eine offizielle und recht langwierige Kampagne in allen Medien lief, um diese Vorstellung in der deutschen Bevölkerung zu verbreiten. Das funktioniert übrigens vor allem dann gut, wenn der Kontakt zu den anderen, die nach Wittenberg "Wohlstand", nicht Reichtum, anhäufen, sich in engen Grenzen hält, weil die Wohngegenden sauber voneinander getrennt sind.
Das "angeblich" ist übrigens besonders nett und zeigt, dass Wittenberg sich nicht einmal in der Argumentation der Migrationsbefürworter auskennt. Die kommen (oder kamen zumindest früher) nämlich immer gern mit Statistiken, wie hoch der Anteil der Überweisungen von Arbeitsmigranten an Bruttoinlandsprodukt und Devisenreserven der Heimatländer ist und dass auf diese Weise schließlich eine Art Entwicklungshilfe stattfände.
Die Vorsicht, die Katz noch dabei zeigt, die materiellen Verhältnisse völlig auszublenden, lässt Wittenberg gänzlich fallen.
"Denn die Ergebnisse zeigen, dass es nicht darum geht, wie es den Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich geht, sondern wie sie ihre eigene Lage subjektiv wahrnehmen. Diese Unzufriedenheit lässt sich abfedern, wenn den anderen Sorgen der Deutschen etwas entgegengebracht wird."
Aha. Was denn? Eine Mindestrente? Die Durchsetzung von Löhnen, von denen man eine Familie ernähren kann? Ein großes Wohnungsbauprogramm? Abschaffung der CO2-Steuern? Stabile und günstige Energieversorgung? Eine Wiederherstellung von Gesundheitswesen und Bildungssystem?
Eher nicht. Die Kombination von "abfedern" mit "etwas" deutet eher auf eine Runde leerer Versprechungen, nach denen man dann eine Zeit lang so tun kann, als würde sich etwas verbessern, und zumindest gegenüber den Unzufriedenen den Vorwurf erheben, ihre Unzufriedenheit sei ganz und gar nicht angebracht, weil doch...
Letztendlich wirkt das Ganze wie eine gigantische Inszenierung jenes alten Satzes, mit dem man einst Kinder nötigte, Speisen zu verzehren, die sie nicht mochten: "Denk doch an die armen hungernden Kinder in Indien!"
Nun, die wirkliche Entwicklung kann man in diesem Zusammenhang mit einem weinenden und einem lachenden Auge betrachten. Denn je mehr sich die Verhältnisse umkehren, also der ökonomische Verfall in Deutschland, den diese Regierung so munter betreibt, mit der möglichen raschen Entwicklung etwa in Afrika gewissermaßen den Pfad kreuzt, desto eher wird sich die Bewegung in den Westen hinein in eine aus dem Westen heraus verwandeln. Damit würden sich deutsche Probleme mit Migration gewissermaßen von selbst erledigen.
In einer Lage, in der sich viele Deutsche mit den Migranten im gleichen Elend wiederfinden (von ein paar Gesetzen abgesehen, die letzteren tatsächliche Vorteile verschaffen, wie einen Rechtsanspruch auf eine Wohnung), existiert ein Trostpflästerchen, das ohne jede materielle Änderung Glück und Zufriedenheit verbreitet, wohl nur in den Wunschträumen jener Propagandisten, denen die reale Misere fremd ist. Und echte Zufriedenheit? Da müsste man zuerst mal die Regierung austauschen.
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