Von Wladislaw Sankin
Das Ausmaß heutiger Ereignisse an den vielen Kriegsschauplätzen und Krisenherden stellt einen wichtigen Jahrestag fast in den Schatten: die Befreiung von Kiew. Am 6. November 1943, nach siebenhundertachtundsiebzig Tagen Besatzung durch Nazi-Truppen, wurde Kiew von den Verbänden der 1. Ukrainischen Front befreit. Die Erstürmung der Stadt selbst dauerte nur drei Tage. Die Operation war jedoch Teil einer größeren Kampagne, die unter dem Namen "Schlacht um den Dnjepr" in die Geschichte einging. Die Schlacht um den Dnjepr dauerte vier Monaten und war eine der größten und blutigsten im gesamten Zweiten Weltkrieg.
Die Einnahme von Kiew bedeutete einen radikalen Wendepunkt im Großen Vaterländischen Krieg. Nach diesem Ereignis wurde Historikern zufolge klar, dass der Sieg der Sowjetunion im Krieg unausweichlich war, und die Führung des Landes begann, über eine Offensive auf Berlin nachzudenken. Am Abend dieses Tages wurde im Londoner Rundfunk folgende Erklärung gesendet: "Die Besetzung von Kiew ist von großer moralischer und militärischer Bedeutung. Jetzt haben sich die Zeiten geändert – Deutschland hört die Totenglocke läuten."
In Russland ist der Jahrestag nicht vergessen. Das russische Verteidigungsministerium hat am Vorabend Archive über die Befreiung Kiews von den Nazis im Jahr 1943 veröffentlicht. "Kiew wurde vor der Finsternis des Nazismus gerettet. Immer in Erinnerung, unmöglich zu vergessen" heißt der aufwendig gestaltete Artikel auf der amtlichen Webseite – mit einem Beisatz:
"Die Veröffentlichung freigegebener Dokumente aus den Beständen des Zentralarchivs des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation über die Befreiung der Heldenstadt Kiew, die Verbrechen der Nazi-Invasoren und den Heldenmut der sowjetischen Soldaten soll der Geschichtsfälschung entgegenwirken und die historische Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg bewahren."
Um welche Geschichtsfälschung geht es denn? Das beste Beispiel dafür lieferte der ukrainische Präsident Wladimir Selenkij selbst, als er zum 78. Jahrestag am 6. November 2021 auf seinem Telegram-Kanal die Sowjetführung der "Gleichgültigkeit und Grausamkeit" im Umgang mit menschlichen Verlusten beschuldigte. Der Mythos, dass die UdSSR den Feind mit "Leichen beworfen" und nur so den Sieg über Nazi-Deutschland erzwungen habe, gehört zu den hartnäckigsten Postulaten der antisowjetischen Propaganda. Und Selenskij hat das Datum genutzt, um wieder Stimmung gegen den Vorgängerstaat der Ukraine zu machen. Dennoch besuchte er vor zwei Jahren mitsamt der ganzen politischen und militärischen Führung des Landes den Nationalen Museumskomplex "Die Schlacht um Kiew 1943" im Dorf Nowyje Petrowzy und legte dort Blumen nieder.
Heute, zum "runden" Datum, am 80. Jahrestag, passiert in Kiew nichts dergleichen. Selenskij und seine Entourage schweigen über die Befreiung von Kiew. Stattdessen würdigte der ukrainische Präsident Kämpfer der 3. unabhängigen Sturmbrigade, einer Militäreinheit, die aus "Asow"-Veteranen gebildet wurde. Ihr Abzeichen hat die nur leicht abgewandelte Form der berühmt-berüchtigten Asow-Wolfsangel, die wiederum klar an die Symbolik der SS-Panzer-Division "Das Reich" angelehnt ist.
Dabei könnte die geschichtliche Reminiszenz an den Befreiungskampf gegen die Nazis durchaus propagandistisch ausgeschlachtet werden. "Damals haben unsere Vorfahren Faschisten vertrieben, heute vertreiben wir Raschisten (in der Ukraine gängige Bezeichnung für angeblich faschistische Russen – Anm. der Red.)", schreibt an diesem Tag etwa eine ukrainische Internetzeitung. Doch auch um dieses mühsam herbeigelogene Propaganda-Konstrukt bemüht sich in Kiew offenbar keiner mehr. Die Masken sind längst gefallen, spätestens seit dem Abriss des Denkmals für den Befehlshaber der 1. Ukrainischen Front, den "Befreier von Kiew" General Nikolai Watutin, in Februar dieses Jahres. Heute gibt es in Kiew kaum mehr Denkmäler, die an die sowjetischen Helden des Krieges erinnern. Ihre Namen wurden in den vorigen Jahren aus der Toponymik im ganzen Land vollständig getilgt. Nun tragen die Orts- und Straßenbezeichnungen teilweise die Namen ihrer Feinde im Krieg, der damaligen ukrainischen Nazi-Handlanger.
Der Autokonvoi mit General Watutin geriet am 16. April 1944 in einen Hinterhalt der Banderisten der UPA (Ukrainische Aufstandsarmee). Sie griffen aus ihrer Lauerstellung an, eine Schusswunde erwies sich später als tödlich. Die heutigen Asow-Kämpfer stellten vor wenigen Monaten im Rahmen einer PR-Kampagne historische Fotos mit ihren Vorgängern von der UPA nach.
Die Frage, wer wessen Erbe heute in Kiew vertritt, wurde damit ein für alle Mal beantwortet. Nach alldem konnte Selenskij die Befreiung von Kiew durch Sowjet-Truppen natürlich nicht feiern. Da haben die Falschen die Stadt von den Falschen befreit. Dazu postete der Duma-Sprecher Wladimir Wolodin passenderweise am Montag:
"Acht Jahrzehnte später ist Kiew wieder besetzt, und die Nazi-Ideologie ist in der gesamten Ukraine zur Staatsideologie geworden."
Die Argumente, die auch in den deutschen Medien immer wieder anzutreffen sind, wonach die UPA viel eher eine Befreiungsarmee war und auch gegen Nazi-Deutschand gekämpft habe, halten keiner Kritik stand. Die UPA kann keine einzige nennenswerte siegreiche Schlacht gegen die Deutschen vorweisen. Aufgabe der UPA war es vielmehr, den Vormarsch der Roten Armee durch Propaganda und Spionage im Dienste der Nazis zu behindern und Sowjetpartisanen direkt zu bekämpfen. Diejenigen UPA-Kommandeure, die auf eigene Faust doch Sabotage-Aktionen gegen die Deutschen durchführten – wie etwa Zugentgleisungen – wurden von Killerkommandos des internen Sicherheitsdienstes SB (Sluschba Bespeky) liquidiert.
"Es ist klar, dass die Nationalisten faschistische Agenten sind, und die Streitigkeiten zwischen Bulba, Bandera, Melnyk und ihren Chefs sind ein listiges diplomatisches Spiel, um die armen Wolhynier zu täuschen. Was zum Teufel ist der Untergrund, wenn der 'OUN-Bulletin' in der Druckerei der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin veröffentlicht wird?
Die Aufstockung der (deutschen) Garnisonen wird verständlich. Auch wenn es hier keine Deutschen gibt, informieren die OUN-Agenten die Abwehr sicherlich über jeden unserer Schritte."
Das schrieb Wassili Woizechowitsch, der Stabschef der 1. Partisanendivision von Sidor Kowpak, in seinen Tagebüchern, die er während des berühmten Karpaty-Feldzüges der Kowpak-Verbände von Juni bis September 1943 führte. Durch ständige Kämpfe gegen die UPA und eigene Gegenaufklärung waren er und seine Mitstreiter so ziemlich im Bilde über die Lage im gegnerischen Lager. Zum Thema der Kollaboration mit den Deutschen gibt es bei Woizechowitsch viele weitere Anmerkungen, wie etwa diese:
"Im Jahr 1944 fiel uns bei der Niederschlagung eines feindlichen Hauptquartiers in Wolyn ein Dokument in die Hände. Die Aufschrift auf einer kleinen Mappe lautet: 'Bericht über die Partisanenaktionen in Stanislawschtschina', mit dem Vermerk 'Abwehr' am oberen Rand. Vom 14. Juli bis zum 11. August 1943 berichteten die Spione von der Abwehr aus den OUN-Reihen (OUN – Organisation der Ukrainischen Nationalisten; Anm. der Red.) ihrem Chef über den Verlauf der Kämpfe, die Stimmung in der Bevölkerung, über die Gerüchte in der Bevölkerung und anderes.
Aus diesem 'Bericht' geht aus irgendeinem Grund nicht hervor, dass die UNS (Ukrainische Volks-Selbstverteidigung, eine der UPA unterstellte Einheit – Anm. der Red.) sich den Deutschen entgegenstellten. Aber kleine Gruppen von Partisanenaufklärern, die nach der Schlacht von Deljatyn auf Werchowyna manövrierten, wurden heimtückisch von 'Wölfen' angegriffen".
Viele Angehörige der OUN-UPA konnten bereits am Ende des Krieges Kontakte mit den britischen und US-Geheimdiensten knüpfen. Im Westen begann die Kampagne zur Weißwaschung der ukrainischen Nationalisten, Tausende von ihnen wurden in den ersten Nachkriegsjahren für antisowejtische Sabotage- und Propagandaaktivitäten eingespannt.
Der erste Leiter der CIA, Admiral Roscoe Hillenkoetter, beschrieb den Wert der ukrainischen und anderer Agenten aus nationalistischen Vereinigungen auf einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates der USA am 19. April 1948 folgendermaßen:
"Durch Erfahrung und sorgfältige Analyse hat die CIA bei jeder Gruppe innerhalb der Masse der sowjetischen Emigranten die folgenden Merkmale festgestellt:
Diese Gruppen sind äußerst instabil und unzuverlässig, durch persönliche Rivalitäten und ideologische Differenzen gespalten und in erster Linie darauf bedacht, sich in der westlichen Welt eine sichere Position zu verschaffen (...)
Sie sind fast ausschließlich daran interessiert, ein Höchstmaß an Unterstützung (in der Regel aus den USA) für ihre eigenen Propagandaaktivitäten zu erhalten, und bestehen auf umfangreicher finanzieller, kommunikationstechnischer, propagandistischer, verkehrstechnischer und persönlicher Unterstützung im Gegenzug für vage und unrealistische Versprechungen künftiger Gefälligkeiten.
Sie nutzen jede erhaltene Unterstützung sofort, um die Tatsache der offiziellen (US-) Unterstützung bei ihren Amtskollegen und anderen Regierungen bekannt zu machen, um ihre persönlichen oder organisatorischen Interessen zu fördern.
Eine große Masse dieser Menschen kann in Friedenszeiten nicht effektiv genutzt werden", fügte er jedoch hinzu. Und: "Im Falle eines Krieges hingegen wäre der mögliche Wert einer großen Zahl sowjetischer Emigranten für die US-Regierung groß. Im Falle eines Krieges mit der UdSSR würde die US-Regierung Tausende solcher Menschen dringend benötigen."
Beschreibt der CIA-Spezialist da nicht etwa das Verhalten der ukrainischen "Führungseliten" nach 75 Jahren? Insbesondere im Hinblick auf das Versprechen, die westlichen Werte für US-Investoren zu verteidigen – Hauptsache, die Waffen werden geliefert, Kredite vergeben und insgesamt, über die Ukraine viel in der Welt geredet. Auch die Benennung der eigenen zynischen US-Ziele ist in diesem Dokument bemerkenswert.
Selenskij hat sich der Erinnerung an die wahren Helden des Krieges entledigt. Er hat das Gedenken an Abermillionen Ukrainer, die für den Kampf gegen die braune Pest ihre Leben opferten, verraten. Er hat seine Großväter, die Veteranen, verraten. Seine Großmäuligkeit und sein Betteln um Waffen haben ihn und seine Gefolgschaft endgültig zu einer Parodie auf ihre Vorgänger aus den Reihen der Nazi-Kollaborateure und späteren Propaganda-Krieger des Kalten Krieges gemacht. Ohne das Interesse mächtiger Akteure im Westen und ihr Wirken wären die faschistoiden OUN-Angehörigen indes eine bedeutungslose Sekte geblieben. Trotz ihrer kurzlebigen Blüte dank Politkonjunktur und US-Geldern werden auch ihre Nachfolger im Kiew des Jahres 2023 am Ende kläglich scheitern, wie schon damals, vor 80 Jahren.
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