Von Irina Alksnis
Die Nachklänge der Nahost-Krise haben auch Russland erreicht. Am Wochenende veranstaltete eine Menge aus mehreren Dutzend Menschen beinahe einen Pogrom in einem der Gasthäuser der Stadt Chassawjurt in der russischen Teilrepublik Dagestan. Anlass dafür gab ein Gerücht, dass in dem Hotel angeblich Flüchtlinge aus Israel wohnten. Die Versammelten forderten, sie auszuweisen und überhaupt aus Dagestan zu deportieren. Das Gerücht erwies sich schließlich als mehr als ein bloßer Fake: Das Oberhaupt der Republik erklärte, dass "extremistische Quellen, die von Russlands Feinden verwaltet werden und Dagestan und erst recht dem Islam fern sind", die Schuld an der Provokation trügen. Laut einigen Quellen sind für das Hochschaukeln des Themas Kanäle verantwortlich, die vom ukrainischen Zentrum für informationspsychologische Operationen und dem Sicherheitsdienst der Ukraine kontrolliert werden. Am Sonntagabend nahmen die Ereignisse durch Massenausschreitungen im Flughafen von Machatschkala ihren weiteren Verlauf.
In der Teilrepublik Karatschai-Tscherkessien fand wiederum eine nicht genehmigte Kundgebung statt, auf der nicht nur pro-palästinensische und anti-israelische, sondern auch antisemitische Parolen erklangen. Gegen die Teilnehmer wurden Ordnungsverfahren eingeleitet.
Ein weiterer Zwischenfall ereignete sich in der Teilrepublik Kabardino-Balkarien, wo Unbekannte Autoreifen auf dem Gelände eines sich im Bau befindlichen jüdischen Kulturzentrums in Brand gesetzt hatten. Möglicherweise ist das nur ein Zufall ohne politischen Hintergrund, doch fällt es schwer, dies zu glauben. Viel wahrscheinlicher ist, dass es sich dabei um die Glieder einer Kette handelt, die sich gerade weltweit in Form eines Ausbruchs von Antisemitismus entfaltet.
Einerseits ist der Anstieg antiisraelischer Stimmungen im Hinblick auf die Eskalation des Konflikts – zumal in der Form, in der sie stattfindet – nachvollziehbar. Doch andererseits entsteht der Eindruck, dass israelische und US-amerikanische Politiker alles in ihrer Macht Stehende tun, um eine regelrechte Explosion des Judenhasses zu erreichen. Barbarische Bombardements von Gaza sind an sich schon schrecklich, doch zusätzlich werden sie von brutalen, zynischen und menschenverachtenden Behauptungen offizieller Persönlichkeiten gegenüber unschuldigen Opfern – Kindern, Frauen und alten Menschen in Gaza – begleitet. Als hätten Washington und Tel Aviv plötzlich vergessen, wie man mithilfe von schlichten PR-Tricks das Bild einer gutmütigen, humanen Kraft, die für die Welt nur Gutes will, aufrechterhalten kann.
Berücksichtigt man auch noch Israels starke Abhängigkeit von den USA, entsteht der Verdacht, dass damit eine Strategie verfolgt wird, die jenseits des Atlantiks entwickelt wurde. Im Übrigen bestätigt Europas Position diesen Verdacht: Die Tatsache, dass es seine traditionell ausgewogene Politik mit einem bedeutenden Anteil an Mitgefühl gegenüber den Palästinensern gegen eine stramm pro-israelische Haltung ausgetauscht hat, spricht Bände. Freilich haben die Regierungen der Alten Welt in den letzten Tagen begonnen, sich etwas zurückzunehmen. Wegen der zunehmenden pro-palästinensischen Kundgebungen dämmerte es ihnen wohl zusehends, dass diese Haltung für ihre Länder ganz böse enden könnte.
Oft begegnet man der Meinung, dass der israelisch-palästinensische Konflikt den Nahen Osten in Brand setzen könnte, doch die Realität ist viel schlimmer: Diese Konfrontation hat ein riesiges destruktives Potenzial, das den Großteil der Welt in Mitleidenschaft ziehen könnte, indem sie die Zündschnur der religiösen und nationalen Feindschaft in zahlreichen Ländern in Brand setzt. Der regionale Konflikt "Palästinenser gegen Israelis" kann sich sehr leicht in eine globale Konfrontation "Muslime gegen Juden" verwandeln und sich sogar zu einem Konflikt "Muslime gegen Juden gegen Christen" ausweiten. Im Übrigen implizierte der türkische Präsident Erdoğan bereits die Möglichkeit einer solchen Entwicklung, als er dem Westen mit einem Krieg zwischen "Kreuz und Halbmond" drohte.
Natürlich birgt eine solche Tendenz die schlimmste Gefahr für multinationale und multikonfessionelle Länder mit großen muslimischen und jüdischen Gemeinden. Denn ein Übergreifen des Konflikts aus dem Nahem Osten bedeutet für sie eine innere Destabilisierung und mögliche Spannungen mit ihren Nachbarn. All das ist für die Vereinigten Staaten mit ihrer traditionellen Politik des "Teile und herrsche" von Vorteil. Das überraschend adäquate Vorgehen Westeuropas bei der Abstimmung in der UNO am Freitag, als nur Österreich gegen Jordaniens Resolution zu Gaza stimmte, zeugt möglicherweise von einer Einsicht, welche Büchse der Pandora da im Nahen Osten geöffnet worden ist, und welche Gefahren sie speziell für westeuropäische Staaten birgt.
Russland sitzt mit im selben Boot. Für unser Land bildet der internationale und interkonfessionelle Frieden die Grundlage der gesamten gesellschaftlichen und staatlichen Verfassung, ebenso wie Toleranz, Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz und das staatliche Gewaltmonopol. Jegliche Fremdenfeindlichkeit ist für das Land äußerst gefährlich. Gewaltsame Zwischenfälle sind erst recht unzulässig und müssen unterbunden und bestraft werden.
Doch hier ergibt sich die Frage: Fürchten sich denn die USA als ein rassisch, ethnisch und religiös äußerst heterogenes Land nicht, von demselben Krieg überflutet zu werden? Journalisten berichten von sehr hässlichen antisemitischen Vorfällen in New York in den jüngsten Tagen. Nach Medienangaben ist die Anzahl von antisemitischen Zwischenfällen in den Vereinigten Staaten um ein Vierfaches angestiegen.
Die Antwort ist denkbar einfach: Nein, Washington sieht in diesen Prozessen keine Gefahr für sich – aus dem simplen Grund, dass rassische, religiöse, ethnische und sonstige soziale Konflikte, darunter auch gewaltsame, ein integraler Bestandteil des US-amerikanischen Systems sind. Rassistische Pogrome gehören für die USA zum Alltag und haben während der kurzen Geschichte des Landes regelmäßig stattgefunden. Also ist die Logik der USA einfach: Sie schüren Hass auf Juden und entfachen religiöse Konflikte weltweit, in dem Glauben, dass sie von diesem Krieg alle gegen alle am wenigsten betroffen sein und den größten Nutzen daraus ziehen werden.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei RIA Nowosti.
Irina Alksnis ist eine Kolumnistin von RIA Nowosti.
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