Von Tom J. Wellbrock
Es gibt sie, die Schmierereien an Türen und Hauswänden, auf die ein Davidstern gesprüht wurde. Und es gibt Judenfeindlichkeit in Deutschland, aus ganz unterschiedlichen Richtungen, von Rechtsradikalen, aber auch aus der Richtung derer, die sich für Palästina stark machen. Es gibt Gegenden, da wagen sich Juden kaum auf die Straße, und es gibt Beschimpfungen und das Bedienen von Stereotypen. Doch es gibt in Deutschland keinesfalls mehr Judenfeindlichkeit als vor dem 7. Oktober. Das Problem der teils ehrlichen, teils theatralischen Empörung liegt woanders. Und dort war es schon vorher anzutreffen.
Das Problem Corona
Corona ist gewissermaßen die Mutter des gedanklichen Totalitarismus. Mit dem Beginn der Corona-Episode begann ein für Politiker, Medien und Wissenschaft interessantes Spiel. Man könnte es "Wie weit können wir gehen?" nennen – und das Ziel des Spiels war das Auskundschaften von Grenzen des totalitären Denkens und Handelns.
Es dauerte nicht lange, bis klar wurde: Die gestreute und stetig geschürte Angst in der Bevölkerung führte zu unendlichen Möglichkeiten der Gewalt. Polizeigewalt spielte dabei eine Rolle, aber sogar eher eine untergeordnete. Breitflächig fand die Gewalt in den Medien statt, sie bestand aus Rhetorik, Drohungen, Beschimpfungen und Ausgrenzung. Mehr noch, man konnte plötzlich ohne großen Widerstand eine Erzählung platzieren, die als unanfechtbar galt und die – wir erinnern uns an Lothar Wieler – nicht hinterfragt werden durfte.
Die Erzählung hält sich bis heute, und das ist wirklich bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass es faktisch keine Datengrundlage für all die Maßnahmen gab und gibt, die zum Leid von Millionen Menschen beigetragen haben. Trotzdem sind Begriffe wie "Querdenker" nach wie vor negativ besetzt, "Corona-Leugner" kommt nach wie vor hin und wieder vor, niemand denkt sich etwas dabei, diese "Corona-Leugner" sind eben prinzipiell Störenfriede, die man bis auf Weiteres beleidigen und diffamieren darf.
Das Problem Ukraine
Die nächste große Krise hieß und heißt "Ukraine-Krieg". Auch hier war die Erzählung schnell konstruiert. Russland habe ein Land grundlos angegriffen, in der Ukraine werde auch unsere Demokratie verteidigt, Verhandlungen kämen nicht in Frage, weil Putin sie nicht will.
Nichts davon ist wahr, es ist vielmehr eine große, düstere Lügengeschichte. Weder kam Russlands Überfall überraschend, noch sehen wir in der Ukraine eine Demokratie, und der vermeintliche "Verhandlungsunwille" Putins zeigte sich gerade kürzlich erst wieder, als er Deutschland anbot, wieder Gas zu liefern. Die herrschenden deutschen Politiker lehnten nicht einmal ab, sie ließen das Angebot gänzlich unbeantwortet.
Es gibt zwar verhältnismäßig wenige Stimmen, aber es gibt sie: Die, die die Hintergründe des Ukraine-Konfliktes unaufgeregt und historisch belegbar betrachten. Es sind Historiker, Filmemacher, Autoren, (einige wenige) Journalisten, Militärexperten und zahlreiche andere mit viel Erfahrung und Kompetenz auf den politischen Bühnen dieser Welt. Sie klären auf über die jahrelangen Provokationen der NATO gegenüber Russland, sie sprechen über die Korruption und den Faschismus in der Ukraine. Beides ist unzweifelhaft klar und vielfach belegt.
Als der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer in einer Talkrunde Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP-Mitglied und Rüstungslobbyistin) fragte, warum sie auch anderthalb Jahre nach dem Beginn des Krieges immer noch die gleichen Geschichten erzähle, obwohl die Realität sich weiterentwickelt hat, bekam er keine Antwort. Also sei sie hier gegeben: Strack-Zimmermann redet die ganze Zeit über das gleiche Zeug, weil es funktioniert. Man glaubt ihr, zumindest aber ist sie glaubwürdig genug, um das Feindbild und die Erzählung aufrechtzuerhalten.
Das Problem Klimawandel
Wenn eine junge Frau wie Luisa Neubauer für ihr "Lebenswerk" geehrt wird, kann man im Grunde schon aufhören, weiter über das Thema Klimawandel zu schreiben. Sie ist eine von denen, die uns ständig ermahnen, doch "der Wissenschaft" zu folgen. Und die würde ja sagen, dass wir alle sterben werden, wenn wir es nicht schaffen, diese verdammten 1,5 Grad Erderwärmung zu verhindern.
Nun hat sich die Wissenschaft aber ungeheuer viele Pfade und Wege gesucht, die sie begehen kann. Und das Prinzip der Wissenschaft ist der Streit, das Korrigieren, das Beweisen und Widerlegen. Jede These ist nur so gut wie die, die sie widerlegt oder in Frage stellt. Für den Klimawandel soll das aber nicht mehr gelten, denn alles, was Neubauer und ihr ziemlich großer Dunstkreis sagen, wird für bare Münze genommen, die Politiker richten sich am Klimawandel aus und nehmen enorme wirtschaftliche Verwerfungen in Kauf, ganz abgesehen davon, dass die meisten angeblich hilfreichen Maßnahmen gegen einen Klimawandel ungefähr das erreichen, was die Sanktionen gegen Russland gebracht haben: Nichts, oder sogar weniger als nichts.
Aber auch diese Erzählung ist in Stein gemeißelt, und wenn jemand auf die Idee kommt, den Kern oder einzelne Aspekte dieser Erzählung anzuzweifeln oder um neue Thesen zu ergänzen, findet er sich in der Ecke der "Klimaleugner" wieder, schneller als ein Lämmlein mit dem Schwanz wackeln kann.
Das Problem Israel
Der Leser ahnt bereits, was jetzt kommt. Die aktuelle Erzählung ist die, dass Deutschland an Israels Seite steht, und zwar bedingungslos. Doch das muss jetzt mal etwas "entrümpelt" werden.
Es ist traurig und bezeichnend für die Stimmung im Land, dass man es hervorheben muss, aber es sei an dieser Stelle getan: Der Überfall der Hamas auf Israel war eine unverzeihliche und grauenhafte Tat. Es war ein terroristischer Angriff, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Es ist darüber hinaus ekelerregend, wenn Menschen kurz nach den Morden tanzend und lachend durch die Straßen ziehen, denn es belegt ein komplettes Desinteresse am menschlichen Leben. Man sollte sich nie über einen getöteten Menschen freuen, aber wenn es sich auch noch um unschuldige Zivilisten handelt, wird eine Grenze überschritten, deren Übertreten zu Konsequenzen führen muss.
Nun muss man aber der Vollständigkeit halber sagen, dass die Zivilisten in Israel, die am 7. Oktober und danach ums Leben kamen, nicht die ersten waren, die ihr Leben verloren. Hier soll nicht das Fass des Aufrechnens aufgemacht werden, ganz sicher nicht. Und würde man es doch öffnen, würde sich die Debatte eher noch verschärfen. Daher seien hier auch bewusst keine Opferzahlen genannt. Doch die Zivilisten, die in den letzten 50, 20 oder auch "nur" 14 Jahren im Gazastreifen umgekommen sind, haben weltweit praktisch keinerlei Aufmerksamkeit erhalten.
Das kann man kritisieren, man kann aber auch nach vorn blicken und denken: Okay, die vielen Opfer auf beiden Seiten, die in den letzten Jahren zu beklagen waren, wurden von der Weltöffentlichkeit weitgehend ignoriert. Auch die politischen Führer dieser Erde haben nicht viel bis gar nichts dazu beigetragen, dass die Eskalation des Konfliktes verhindert werden konnte. Die Fehler liegen also bei zahlreichen Parteien, sie gehen weit über Israel oder Palästina hinaus. Eine aufrichtige und interessierte Staatengemeinschaft hätte versucht, den schon so lange andauernden Konflikt zu lösen, etwa durch eine Zwei-Staaten-Lösung, wie schon lange empfohlen, oder durch andere Versuche, "Dampf aus dem Kessel" zu nehmen. All das ist nicht passiert, und wir müssten heute nicht darüber sprechen, wenn es anders gelaufen wäre.
Jetzt ist also die Eskalation der Eskalation da, und wir müssen befürchten, dass sie Ausmaße annimmt, die so schlimm sind, wie man es sich kaum vorstellen kann. Wir können das nicht ausschließen, wir dürfen es nicht ausschließen, denn die Fronten sind verhärtet wie lange nicht mehr.
Nun könnte man also zum Schluss kommen, dass die Staatengemeinschaft die vielen Opfer der letzten Jahrzehnte ignoriert hat, wenigstens jetzt aber Besserung gelobt. Man könnte zum Schluss kommen, dass die akute Situation hätte verhindert werden können, was aber nicht geschah. Also wird es auch hier Zeit für eine Beichte und das Versprechen, die gleichen Fehler nicht erneut zu machen. Tatsächlich gibt es auf der Welt Stimmen, die genau dieses Vorgehen vorschlagen. Aber es sind – zumindest im Westen – viel zu wenige.
In Deutschland ist die kompromisslose Haltung besonders verbreitet. Das mag an der deutschen Geschichte liegen, auch diese Vermutung trifft es aber vermutlich nicht wirklich. In Anbetracht der Tatsache, wie mit den faschistischen Strömungen in der Ukraine umgegangen wird, darf man zumindest Zweifel haben oder sogar eine geheuchelte Doppelmoral unterstellen. Tatsächlich sind wir nach Corona, der Ukraine und dem Klimawandel mittendrin in der nächsten großen Erzählung.
Diesmal heißt sie nicht "Wissenschaft", "Demokratie" oder "Gesundheit", jetzt ist es die "Staatsräson", die im Oxford-Wörterbuch so definiert wird:
"Grundsatz, nach dem der Staat einen Anspruch darauf hat, seine Interessen unter Umständen auch unter Verletzung der Rechte des Einzelnen durchzusetzen, wenn dies im Sinne des Staatswohls für unbedingt notwendig erachtet wird."
Die Staatsräson, gepaart mit dem Kampf gegen Antisemitismus, lässt eine differenzierte Betrachtung schlicht nicht zu. Somit kann eine rechtsradikale israelische Regierung machen, was immer sie möchte, aus Deutschland kommt keine Gegenwehr, was in Anbetracht der überzogenen Moralität schizophren wirkt.
Doch die Staatsräson hat noch einen anderen Zweck. Sie impliziert, dass Deutschland lediglich die Pflicht hat, an der Seite Israels zu stehen, für negative Entwicklungen aber keine Verantwortung übernimmt. Mit all dem, was jetzt zwischen Israel und Palästina passiert, hat die Bundesregierung oder "Deutschland" nichts zu tun – so wird es erzählt. Aber wie oben beschrieben, müssen sich zahlreiche Länder die Verantwortung zuschreiben lassen für jene Entwicklung, die gerade ihren tragischen und vorläufigen Höhepunkt erlebt.
Zu den drei oder jetzt sogar vier großen deutschen Erzählungen gehört – das hat sich nach Versuchen der Umsetzung etabliert – die Herabsetzung und Bestrafung Andersdenkender. Und hier kommt nun der Antisemitismus ins Spiel. Wer Kritik am Klimawandel äußert, ist ein "Klimaleugner", wer Kritik an der Unterstützung der Ukraine äußert, ist ein "Demokratiefeind", wer die Corona-Maßnahmen kritisiert, ist ein "Corona-Leugner" und wer Israels tödliche Reaktionen auf die Angriffe der Hamas kritisiert, ist ein "Antisemit".
Auf diese Weise kann einmal mehr eine breite gesellschaftliche Debatte vorzeitig für beendet erklärt werden. Seit Tagen befällt das Land anscheinend flächendeckend ein Antisemitismus, den es zuvor in dieser ausgeprägten Form nicht gab. Wie eingangs erwähnt, ist Judenfeindlichkeit in Deutschland anzutreffen, nicht erst heute und nicht in einem Ausmaß, das man vernachlässigen könnte. Doch was jetzt veranstaltet wird, verlässt den Bereich jeder Verhältnismäßigkeit und dient auch nicht der Bekämpfung von Antisemitismus, sondern dem Ersticken einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen Israel und Palästina.
Es ist bequem, wenn sich Deutschland als Staat bedingungslos hinter Israel stellt, es ist bequem, die eigenen historischen Versäumnisse zum Beenden dieses Konfliktes unerwähnt zu lassen. Es ist bequem, die Staatsräson über jede Auseinandersetzung mit der israelischen Politik zu stellen, und es ist bequem, Andersdenkende pauschal des Antisemitismus zu bezichtigen. So muss die Bundesregierung sich weder kritisch mit Israel noch mit sich selbst auseinandersetzen und schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn sie kritische Köpfe einmal mehr als Feinde der Gesellschaft darstellt, mit denen man sich nicht konstruktiv auseinandersetzen muss.
Die vierte Erzählung konstruiert als Antisemitismus, wenn jede kritische Äußerung an der israelischen Politik als Judenfeindlichkeit deklariert wird. Das wird nicht nur der komplexen politischen Lage nicht gerecht. Es ist – einmal mehr – die Weigerung, sich einem umfassenden Problem mit entsprechend umfassenden Diskussionen zu widmen. Eine fiktive Beispielrechnung:
Wenn vor dem 7. Oktober von 50 Personen eine als offen judenfeindlich eingeordnet werden konnte, sind es nun plötzlich 20, 30 oder mehr. Einfach, weil die Beschäftigung mit dem Israel/Palästina-Konflikt aus ihnen Antisemiten macht, wenn sie auch nur einen Deut von der beschlossenen Erzählung abweichen. Tatsächlich kann man aber davon ausgehen, dass die meisten Deutschen weder antisemitisch sind noch die Lust oder Zeit haben, Judenfeinde zu werden. Sie haben mit ihrem Leben schlicht genug zu tun und können sich den "Luxus" des Antisemitismus gar nicht leisten, im doppelten Sinne nicht leisten.
Das seit Corona regelrecht pathologische Schwarz-Weiß-Denken hat sich längst in der die Bevölkerung verbreitet und wirkt immer "besser". Selbst manche mutige Querdenker, die sich durch Corona, Ukraine und Klimakrise gekämpft haben, kippen nun letztlich doch um und stellen sich unhinterfragt und unkritisch gegenüber den Politikern und sich selbst hinter eine Staatsräson, die wichtiger zu sein vorgibt als alle Lösungsansätze eines Konfliktes, der militärisch nicht gelöst werden kann. Das Kriegsgeheul und Säbelrasseln der letzten fast zwei Jahre fruchtet nun auch dort, wo man bisher noch Vernunft und Weitsicht, Ideen und Pragmatismus vermutet hatte.
Die vierte Erzählung ist, so scheint es, die bislang wirksamste. Sie holt auch die ins Boot, die bei vergleichbaren Diskussionen in anderen Bereichen noch Vorsicht und Nachdenken walten ließen und kritikfähig blieben. Sie ist für das gesellschaftliche Zusammenleben, den Zusammenhalt, die Vielfalt und die Harmonie der Bevölkerung hochgradig toxisch und wird in eine Sackgasse aus Intoleranz, Totalitarismus und Kompromisslosigkeit führen, die niemandem guttun wird.
Bleibt nur die Hoffnung auf eine mögliche fünfte Erzählung: Die Erzählung einer konstruktiven Diskussion über alle die Themen, die uns alle bewegen.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.
Mehr zum Thema - "Offener Diskurs Grundpfeiler einer freien Gesellschaft" – Journalisten und Publizisten gegen Zensur