Von Wladimir Kornilow
Dank US-Präsident Joe Biden ist die Ukraine nach kurzer Pause wieder auf den Seiten der westlichen Presse zu finden. Nach dem 7. Oktober, als die Lage im Nahen Osten explodierte, war dieser geografische Begriff nämlich für eine Weile völlig aus den Weltmedien verschwunden. Selbst die New York Times musste eine Woche später feststellen, dass "die Unterstützung für die Ukraine ihren Höhepunkt überschritten hat" und es ab jetzt nur noch abwärts gehen wird.
Doch am vergangenen Freitag hielt Biden seine Rede an die Nation, in der er rüpelhafte Parallelen zwischen Russland und der Hamas zog. Und viele westliche Kolumnisten und Analysten beeilten sich sofort und unterwürfig, dem betagten "Führer der freien Welt" ein Ständchen zu singen und der Öffentlichkeit einzutrichtern, wie wichtig es sei, die Ukraine zu unterstützen.
Die skandalträchtigsten europäischen Lobbyisten des Kiewer Regimes – der ehemalige britische Premierminister Boris Johnson und der französische Sänger "bunter" Revolutionen Bernard-Henri Lévy - sind besonders fleißig. Sie schrieben sogar eine gemeinsame zweisprachige Kolumne, in der sie die Öffentlichkeit davon zu überzeugten suchten, dass der Westen Israel und die Ukraine gleichzeitig unterstützen sollte. Wie gut die beiden Skandalisten sich in der Ukraine auskennen, zeigt sich daran, dass sie versuchten, die Stadt Awdejewka in ihren Sprachen wiederzugeben, woraus in der englischen Version im Daily Telegraph "Adviika" und in der französischen Version auf den Seiten von Le Figaro "Andiivka" wurde.
Boris Johnson ging noch weiter und setzte dieses Thema in seiner persönlichen Kolumne auf den Seiten der Daily Mail fort, wo er die Welt aufforderte, Bidens "weiser Führung" zu folgen, denn "alle menschlichen Organisationen brauchen einen Führer." Es ist bezeichnend, dass Johnson diese Kolumne schrieb, nachdem das Magazin The New European ihn die auf der Titelseite für eine ganz bestimmte Kategorie nominiert hatte. Entschuldigen Sie bitte, dass wir den hohen Stil der englischen Gentlemen nachahmen müssen, aber die Kategorie, in der Johnson nominiert wurde, heißt nun mal "Shit list" – übersetzt "Scheiße des Jahres 2023".
Derartige Kolumnen gibt es inzwischen viele in der westlichen Presse. Aber es lohnt sich, auf einen merkwürdigen Trend in den neuen westlichen Artikeln über die Ukraine zu achten: Plötzlich sprechen viele von denen, die gestern noch forderten, "Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen" und "die Ukraine in ihren Grenzen von 1991 wiederherzustellen", von einer diplomatischen Lösung des Konflikts und sogar von Zugeständnissen an Moskau. Noch vor kurzem wäre so etwas nur schwer vorstellbar gewesen!
Auch Wladimir Putin hat neulich in Peking auf diesen neuen Trend hingewiesen:
"Die Verantwortlichen, die die Außenpolitik leiten und die vor nicht allzu langer Zeit noch sagten, dass es notwendig sei, Russland auf dem Schlachtfeld eine strategische Niederlage zuzufügen, sprechen jetzt schon mit anderer Stimme –und sagen, dass es notwendig ist, diese Probleme durch friedliche Verhandlungen zu lösen. Das ist der richtige Wandel, ein Wandel in die richtige Richtung, [...] dafür lobe ich sie."
Hier ein Beispiel: In der Times schrieb Max Hastings, ein bekannter britischer Journalist (ehemaliger Chefredakteur des Daily Telegraph) und Militärhistoriker, eine Kolumne mit der gleichen Botschaft wie Johnson:
"Die Welt kann es sich nicht leisten, der Ukraine überdrüssig zu werden."
Und er schreibt im Grunde das Gleiche:
"Wenn Putin in der Ukraine gewinnen kann, [...] werden die Kosten für alle unsere Demokratien historisch und tragisch sein."
Doch plötzlich liefert der Autor folgende Passage, die man sich von ihm vor einigen Monaten kaum hätte vorstellen können:
"Um die öffentliche Sympathie aufrechtzuerhalten, scheint es zunehmend notwendig zu sein, einen plausiblen Ausgang des Krieges zu artikulieren, statt des leeren Mantras, dass er weitergehen soll, bis jeder Meter besetzten Landes in die Hände Kiews zurückgegeben wird. [...] Ganz gleich, was die kleinmütigen Stimmen der Falken sagen, die Befreiung der Krim und des östlichen Donbass ist unwahrscheinlich. Selbst wenn der politische Wille vorhanden ist, gibt es keine militärischen Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, und wird es auch nicht geben."
Nun, wenn die Autoren westlicher Mainstream-Zeitungen bereits damit begonnen haben, die Unwahrscheinlichkeit einer Rückgabe der zu Russland gehörenden Gebiete an die Ukraine zu erkennen, dann ist dies ebenfalls ein "Wandel in die richtige Richtung". Außerdem werden solche Veröffentlichungen immer zahlreicher. Sogar ein Leitartikel in der Los Angeles Times – wiederum zum Thema "Überdruss in Bezug auf die Ukraine" – räumt bereits "einige Zugeständnisse an Russland" ein.
Die renommierte US-Journalistin und Herausgeberin des Magazins The Nation, Katrina vanden Heuvel, ist der Ansicht, dass Bidens Team sich allmählich einer Veränderung der "öffentlichen Temperatur" in der Ukraine-Frage beugen sollte. Die Autorin kommt zu dem Schluss:
"Die Regierung sollte diplomatisch darauf hinarbeiten, die Agonie der Ukraine zu beenden, statt sie zu verlängern."
Sie zitiert in diesem Zusammenhang eine kürzlich durchgeführte Umfrage der Eurasia Group (die sicherlich nicht der Russophilie verdächtig ist). Diese Umfrage ergab, bereits 58 Prozent der Amerikaner seien der Meinung, dass das Weiße Haus die Parteien des Ukraine-Konflikts zu Friedensverhandlungen ermutigen sollte.
Besonders kurios ist, dass einige derjenigen, die sich dagegen aussprachen, dies folgendermaßen begründen:
"Russlands Forderungen nach ukrainischem Territorium sind legitim, und es sollte nicht von seinen Zielen abrücken."
Man beachte, dass fünf Prozent der Amerikaner dies bereits glauben!
Allmählich verwandelt sich die "Ukraine-Müdigkeit" in die Einsicht in die Nichtrealisierbarkeit des westlichen Traums vom "Sieg über Russland". Das soll nicht heißen, dass sich diese Einsicht unter den Eliten bereits durchgesetzt hat – Bidens Rede ist ein klarer Beweis dafür. Aber selbst hinter dem Gerede über die weitere Finanzierung von Kiews militärischen Abenteuern schleicht sich zunehmend der Gedanke ein, dass dringend Frieden mit Russland ausgehandelt werden muss, solange noch etwas von der Ukraine übrig ist. Die "Transformation in die richtige Richtung" hat gerade erst begonnen.
Übersetzung aus dem Russischen. Der Artikel ist am 23.10.2023 auf ria.ru erschienen.
Der Historiker, Politologe und Journalist Wladimir Kornilow lebte seit den frühen Jugendjahren bis 2013 in Donezk und Kiew, wo er als Publizist, Buchautor und Forscher arbeitete. Nach seiner scharfen Kritik am Euromaidan musste er aus der Ukraine flüchten und arbeitet seit 2017 als Kolumnist bei Rossija Sewodnja.
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