Von Tom J. Wellbrock
Der aktuelle Krieg in der Ukraine dauert an. Mit jedem Tag produziert er neue Opfer, Tote, Verletzte, Verwaiste, Traumatisierte, Geflüchtete. Sämtliche Maßnahmen, ob nun militärischer oder wirtschaftlicher Natur, sind gescheitert oder bewirken sogar das Gegenteil dessen, was sie bezwecken sollten. An der politischen "Strategie" des Westens hat all das nichts geändert. Die Versuche des Argumentierens, des Verstehens, Überzeugens und Beendens des Krieges verpuffen in einem Nebel der Desinformation und der Propaganda.
Und dann ist da jetzt auch noch der aktuelle Konflikt Israel/Palästina. Er verdrängt jenen in der Ukraine nicht nur aus den Medien und der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung. Er zementiert auch die Lügen, die unbewiesenen Tatsachenbehauptungen und die zahlreichen Versuche, die Geschichte neu zu schreiben. Bei der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) heißt es in einem Videobeitrag etwa:
"Russland hat in seinem Selbstverständnis die entscheidende Rolle im Kampf gegen den Nationalsozialismus gespielt."
Das ZDF geht in einem anderen Beitrag noch weiter und lässt den russischen, in der Schweiz ansässigen Schriftsteller Michail Schischkin zu Wort kommen, der Putin in einem fast acht Minuten langen Beitrag mehrmals mit Hitler und dessen Propagandaminister Goebbels gleichsetzt:
"Der ganze Hass von Hitler galt den Juden, das war seine Obsession, ja? Der ganze Hass von Putin gilt Ukrainern."
Und weiter geht's:
"Diese Struktur dieser Putinsche kriminellen Diktatur ist eigentlich die gleiche mit Hitler-Diktatur."
Man könnte seitenlang ähnliche Beiträge zitieren. Doch unter all dem steht eine neue Geschichtsschreibung, die die Rolle der Sowjetunion und deren Nachfolgestaat Russland im Kampf gegen den "Nationalsozialismus" abwertet und sogar eine direkte Zusammenarbeit zwischen dem damaligen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion konstruiert.
Die folgenden Beispiele sind aus den vergangenen Wochen. Doch die Arbeit am "Geschichtsbuch Ukraine 2 Punkt Null" begann am 24. Februar 2022 so richtig Fahrt aufzunehmen. Während es vorher "nur" um Diffamierungskampagnen ging, eröffnete der aktuelle Ukraine-Konflikt weitere Möglichkeiten der Geschichtsfälschung, die einhergingen mit der Relativierung der eigenen deutschen Geschichte.
Da ist nichts mehr
Wenn man mit einer intellektuell auf Minimalniveau ausgestatteten Außenministerin bestraft wurde, reckt man den Kopf in alle möglichen Richtungen, immer in der Hoffnung, irgendwo ein wenig Vernunft und Sachverstand zu finden. Aber das ist in der heutigen Zeit ein Unterfangen, das in den meisten Fällen vom Misserfolg gekrönt ist. Eine der wenigen Persönlichkeiten, die den Ukraine-Krieg sachlich und lösungsorientiert betrachtet, ist Sahra Wagenknecht. Doch wenn sie in Talkshows eingeladen wird, dann in erster Linie, um sie durch einen Haufen kollektiver Gegner (gern als "Experten" bezeichnet) aufs Übelste beschimpfen zu lassen und zugleich für noch mehr Waffen, Panzer, Tod und Teufel zu werben.
Wer nun glaubt, diese durchschaubare Strategie gehe nicht auf, weil die Menschen diese billige Form der Propaganda erkennen, sieht sich getäuscht, wie sich an unzähligen Beispielen belegen lässt. Nachdem Wagenknecht kürzlich bei Anne Will einen erneuten Versuch der Deeskalation unternahm, der rhetorisch kriegerisch und höchst aggressiv torpediert wurde, äußerte sich Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes so:
Wenn man die Sendung nicht gesehen hat, ahnt man bereits, was dort vorgetragen wurde. Hat man sie verfolgt, bleibt nur die deprimierende Erkenntnis, dass Schneider sich selbst intellektuell in den Senkel gestellt hat, und man fragt sich darüber hinaus: Woher kommt so viel Unkenntnis, woher kommt die sich über nahezu alle politischen und gesellschaftlichen Ebenen legende Kriegsgeilheit?
Sie kann nicht von sachlicher Argumentation herrühren. Während vor Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 vermutlich die meisten der jetzt als Ukraine-Kenner auftretenden Protagonisten nicht einmal genau wussten, wo der Unterschied zwischen Ukraine und Uruguay liegt, sind sie inzwischen deutlich klüger geworden. Was aber – und das ist das Kernproblem – nicht heißt, dass sie auch klüger handeln.
Bleiben wir noch einen Moment bei Ulrich Schneider. Der Mann, der sich – so scheint es – wie kaum ein anderer für sozialen Ausgleich einsetzt und nicht müde wird, gegen die Armut zu trommeln. Wie kann er gleichzeitig auf die Pauke für den Krieg hauen? Müsste er nicht wissen, dass durch die astronomischen Ausgaben für den Krieg ganz besonders die Armen leiden? Sieht er nicht, wie der ohnehin schon todkranke Sozialstaat wegen des Krieges noch weiter ausgehöhlt wird? Ist ihm nicht klar, dass er mit dem Trommeln für den Krieg auch für das tägliche Sterben von Menschen trommelt?
Es müsste ihm natürlich klar sein. So wie einer Luisa Neubauer von "Fridays for Future" klar sein müsste, dass einer der größten Klimasünder der Krieg ist. Spricht sie sich für den Frieden aus, fordert sie ihn vehement? Das tut sie nicht. Auch sie äußert – wenn sie denn überhaupt einmal gefragt wird – Verständnis für den Krieg und plappert irgendwas von Solidarität für die Ukraine. Auch sie hätte Zeit gehabt, sich über die historischen und aktuellen Hintergründe dieses schmutzigen und von Faschisten geführten Krieges zu informieren. Sie tat es nicht, oder es interessiert sie nicht.
Da ist überhaupt nichts mehr
Es ist die Rüstungslobbyistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die die gesinnungsethisch dominierte Sicht auf den Ukraine-Krieg auf den Punkt bringt:
- Die Ukraine kann den Krieg militärisch gewinnen, wenn wir genug Waffen liefern.
- Putin lässt Zigtausende Kinder entführen.
- Die russischen Soldaten brechen Frauen die Hände und vergewaltigen sie dann.
- Putin will nicht verhandeln.
- Putin will die Ukraine zerstören.
- Russland wird weitere Kriege führen, wenn die Ukraine militärisch besiegt ist.
Harald Welzer, Soziologe und Sozialpsychologe, der kürzlich Strack-Zimmermann bei einer TV-Diskussion gegenübersaß, fragte sie, warum sie denn seit anderthalb Jahren immer die gleiche moralisierende Argumentation benutze, völlig losgelöst von den Realitäten, die sich in dieser Zeit verändert haben. Er bekam keine Antwort.
Das Bittere: Je unterirdischer die Argumente Strack-Zimmermanns wurden, desto mehr Applaus bekam sie vom Publikum. Nun ist das Studiopublikum ausgesucht und weiß, an welchen Stellen es klatschen muss. Doch diese Pawlowsche Verhaltensweise färbt ab auf andere Medienkonsumenten – so funktioniert Propaganda eben.
Unterm Strich bleibt überhaupt nichts mehr als die zur Schau gestellte Moral – bewiesen oder nicht, das spielt keine Rolle. Neben der giftigen Rüstungslobbyistin Strack-Zimmermann (die schon unerträglich genug ist), argumentiert aber nahezu die gesamte politische Ebene auf Basis dieser moralischen Prämissen, die erstens noch nie einen Krieg beendet, sondern nur verlängert haben, und zweitens völlig losgelöst von pragmatischen politischen Entscheidungen sind.
Da ist überhaupt nichts mehr, über das man sprechen könnte. Die gesamte Vorgeschichte des Ukraine-Krieges wurde ausgelöscht im Sinne des konsequenten Ignorierens aller Faktoren, die für eine sinnvolle und ganzheitliche Betrachtung notwendig wären. Sämtliche politischen Zustände und Maßnahmen in der Ukraine, die eindrucksvoll demonstrieren, wie korrupt das Land ist, werden totgeschwiegen. Erst kürzlich, als in Kanada ein lebendiger, echter Nazi mit stehenden Ovationen gefeiert wurde, klangen die Reaktionen ein wenig peinlich berührt, mehr aber auch nicht. Wenn der völlig freidrehende FDP-Politiker Gerhard Baum sagt, dass es in Ordnung sei, mit deutschen Panzern wieder auf Russen zu schießen, wenn es denn der Sache diene, kann er das ohne kritisches Nachfragen oder damit einen Skandal ausgelöst zu haben tun, als rede er über seinen Wochenendeinkauf. Wenn die deutsche Außenministerin die Meinung vertritt, dass Angriffe auf russisches Territorium schon in Ordnung seien, weil es … ja, eben weil es russisches Territorium ist, dann gibt es nichts mehr, worüber man sprechen könnte.
Wie weiter?
Der Ukraine-Krieg und seine Beendigung haben keinerlei sachliche Grundlagen. Er wurde über Jahre vorbereitet und geplant, alle Signale aus Moskau, die ihn hätten verhindern können, wurden weggewischt. Da es nie darum ging, diesen Krieg zu vermeiden, ist es nur folgerichtig, ihn nun nicht beenden zu wollen.
Das Ziel des Westens war dieser Ukraine-Krieg, auch das weiß man, wenn man sich die historische Entwicklung ansieht. Doch genau das findet nicht mehr statt, die Bewertung der geschichtlichen Schritte hin zum Krieg. Auch das kann gar nicht anders sein, denn wenn ein vermeidbarer Krieg, der aus vorgeschobenen Gründen geführt wird, vorzeitig beendet wird, ist die eigentlich dahinterstehende Idee nichts mehr wert.
Insofern sind die Versuche der klugen und besonnenen Menschen, die auf Friedensverhandlungen drängen, nichts weiter als vergebliche Liebesmüh'. Das bedeutet nicht, es lassen zu sollen, aber es heißt, dass es bei den Verantwortlichen keinerlei Reaktionen erzeugen wird. Der kollektive Westen braucht diesen Krieg. Um Russland zu beschäftigen und zu schwächen und die eigenen Kriegsabsichten unter einem Vorwand zu rechtfertigen, um Rüstungsindustrie und private Investoren zu unterstützen, um am Ende aus einem verbrannten und zerbombten Land eine "blühende" (oder strahlende) Landschaft des Neoliberalismus aufzubauen und näher an die Russen heranzurücken.
Wer jetzt noch auf die historischen und politischen Zusammenhänge des Ukraine-Krieges hinweist, sagt Dinge, die keinen Einfluss haben, weil sie keinen Einfluss haben dürfen, im Gegenteil, sie werden bewusst und gezielt verfälscht, ignoriert und mit neuem, falschem Vorzeichen erzählt. Nur ein Beispiel:
"Die Ukraine wurde grundlos von Russland angegriffen."
Man muss kein Genie sein, sondern nur lesen können und wollen, um zu verstehen, dass diese Behauptung eine glatte Lüge ist. Doch selbst die kritischen Köpfe widersprechen dem nicht – oder nicht mehr. Das ist vielfach eine taktische Entscheidung, um überhaupt noch versuchsweise mit der Forderung nach Verhandlungen gehört zu werden. Doch aufgrund der beschriebenen Sachverhalte sind taktische Gesprächsführung und Argumentation nicht mehr notwendig.
Die neue Geschichte über die Ukraine ist erzählt. Sie wurde in unzähligen Wiederholungen und endlosen Lügengeschichten in die Hirne der Menschen in Deutschland eingepflanzt. Die wiederum haben sich kaum gewehrt, vielleicht aus Bequemlichkeit, vielleicht aus Unwissen oder Dummheit, womöglich sogar aus mehr oder weniger tief vergrabenen Rachegelüsten gegenüber den Russen, die "uns" im Krieg geschlagen haben. Es läuft auf eine Kombination dieser Gründe hinaus.
Vermutlich kann man nur noch hoffen, dass der Ukraine die Mittel ausgehen, um den Krieg über Monate oder Jahre weiterzuführen. Das könnte zynischer nicht sein, denn in der Konsequenz bedeutet das, ein Ende des Krieges wird erst eintreten, wenn zu viele ukrainische Soldaten gefallen sind, um weiterzukämpfen. Und mit ihnen eine große Zahl an russischen Soldaten, die ebenfalls jeden Tag ihr Leben opfern.
Doch man darf die Entschlossenheit des Westens bei dieser Überlegung nicht unterschätzen. Auch in diesem Kontext ist die oben genannte FDP-Politikerin Strack-Zimmermann ein Sinnbild der perfiden westlichen Moral. Denn für Strack-Zimmermann und viele andere Entscheidungsträger gibt es keine Alternative zur Weiterführung des Krieges. Für sie ist es schlicht ausgeschlossen, ein Kriegsende in Betracht zu ziehen. Man darf also eine weitere Eskalation – dann mit westlichen Soldaten, die zu Kanonenfutter verarbeitet werden – nicht ausschließen. Getrieben durch Hass, Gier und imperialistischen Zerstörungswunsch werden die maßgeblich politischen Verantwortlichen womöglich nicht erkennen wollen oder nicht erkennen können, wann die endgültige rote Linie erreicht ist, wann ein "Weiter so" zu unwiderruflichen Konsequenzen führt.
Wie viel Dummheit und Hass bei der jetzt herrschenden westlichen Politik prägend sind, zeigt einmal mehr Strack-Zimmermann, wenn sie sagt:
Was soll man dazu noch sagen? Gibt es bei dieser Frau und den vielen anderen Hardlinern denn überhaupt keine Grenze mehr? Reicht die Bereitschaft der Provokation so weit, dass ihre Folgen ignoriert oder in Kauf genommen werden? Wie soll man gegenüber solch einer menschenverachtenden Grundhaltung noch argumentieren – und womit?
Und was bedeutet all das für den Konflikt zwischen Israel und Palästina? Das "Ukraine-Feuer" lodert noch, und wir haben erlebt, dass immer wieder neues Öl hineingeschüttet wurde und wird. Noch heißer sind die "Flammen" im Nahen Osten, und es ist zu befürchten, dass der Westen einmal mehr kein Interesse daran hat, einen Krieg zu beenden, sondern fest entschlossen ist, ihn zu verlängern – mit unvorhersehbaren Folgen.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.
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